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16. Februar 2008
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Suizid-Prävention in Österreich: Ja zum Leben sagen!

WIEN – In Österreich sterben jährlich doppelt so viele Menschen durch Suizid als bei Verkehrsunfällen. Gesprochen wird über das Thema Suizid (allerdings auch in Medizinerkreisen) nur ungern. Eine Expertenrunde fordert nun ein gesellschaftliches Umdenken zur Senkung der hohen Suizidrate.

Jeden Tag sehen vier Menschen in Österreich keinen anderen Ausweg aus ihrer Situation, als sich das Leben zu nehmen. Zehnmal so viele unternehmen einen Suizidversuch. Auf 100.000 Einwohner kommen in Österreich jährlich 18 Selbstmorde. Damit ist diese Zahl in Österreich zwar geringer als in vielen nordischen Staaten, aber doch deutlich höher als in Deutschland, Spanien, Italien, Portugal oder Griechenland. Das von der WHO angestrebte Nahziel von maximal 15 Suiziden auf 100.000 Einwohner wird damit klar verfehlt. Weltweit gesehen klingen die Zahlen noch dramatischer: Alle 40 Sekunden nimmt sich irgendwo auf der Welt ein Mann, eine Frau oder ein Kind das Leben. Sozialmediziner Univ.-Prof. Dr. Michael Kunze, Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien, dazu: „Einem Suizidversuch geht unermessliches Leid voran und hintennach.“ Trotzdem wird das Thema nach wie vor im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen. Während in Kampagnen für Verkehrssicherheit und Unfallverhütung große Mengen Geld fließen, gibt es keine großflächigen Initiativen zur Suizidprävention. Die Experteninitiative „Sag Ja zum Leben – Stopp Suizid“ fordert nun gemeinsame Strategien, um die viel zu hohe Suizidrate zu senken. Prof. Kunze appelliert an jeden Einzelnen: „Zivilcourage bedeutet in diesem Zusammenhang, nicht wegzuhören, wenn ein Mitmensch durch Suizidankündigungen offensichtlich um Hilfe ansucht, sondern den Betroffenen zur Seite zu stehen und ihn zu motivieren, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.“
 Pressegespräch
Die Initiatoren der Initiative
„Sag Ja zum Leben – Stopp Suizid“:
Univ.-Prof. Dr. Michael Kunze,
Univ.-Prof. Dr. Dr. hc Siegfried Kasper,
Dr. Barbara Degn,
Univ.-Prof. Dr. Christian Simhandl,
Chefarzt Dr. Stefan Rudas
Unerkannte Depressionen

Suizid ist in den meisten Fällen der finale Akt einer Depression, neun von zehn Suizidopfer leiden an einer Form der Depression. Geschätzte 400.000 Menschen in Österreich sind generell von Depressionen betroffen, dabei sind diese – einmal diagnostiziert – heute gut behandelbar. Selbsttötung ist in Österreich v. a. ein männliches Phänomen, besonders gefährdet sind ältere Männer. Frauen hingegen unternehmen zwar häufiger Selbsttötungsversuche, diese enden aber seltener fatal. Die Identifikation von Risikopatienten, so die Expertenrunde, wäre auch Aufgabe der Ärzte und hier speziell der Allgemeinmediziner. Daten zeigen, dass mehr als die Hälfte der Suizidopfer vor ihrer Tat Kontakt zu einem Arzt suchte. Doch nur wiederum die Hälfte der Hilfesuchenden hatte von ihrem Arzt ein Antidepressivum erhalten. „In der Hand der Allgemeinmediziner liegt das Erkennen der Warnsignale einer Depression – auch wenn diese von körperlichen Symptomen maskiert werden“, so Dr. Barbara Degn, Präsidentin der Wiener Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Dazu sei es nötig, gezielt nach dem seelischen Wohlbefinden zu fragen, etwa nach Traurigkeit, Schlafstörungen, innere Unruhe, Verzweiflung oder Lebensüberdruss. Unbehandelt führt eine Depression bei jedem Zehnten zum Suizid. „Jede mittlere und schwere Depression stellt eine Indikation für eine medikamentöse antidepressive Therapie dar. Diese Medikation bildet häufig die Voraussetzung für eine Psychotherapie“, so Univ.-Prof. Dr. Siegfried Kasper, Medizinische Universität Wien. Moderne Antidepressiva wie SSRIs sind sehr gut wirksam und wenig toxisch und bilden damit eine wichtige Säule der Suizidprophylaxe. So ist die Suizidrate in Österreich seit Jahren gegenläufig zu der Anzahl der verstärkt verordneten Antidepressiva. „Wichtig ist dabei, dass SSRIs auch in hohen Dosen nicht zum Suizid geeignet sind – im Gegensatz zu den Trizyklischen Antidepressiva“, so Prof. Kasper. Von Vorteil sind, so der Experte, SSRIs mit einem möglichst schnellen Wirkungseintritt, wie etwa Escitalopram, das bereits nach zehn Tagen Wirkung zeigt. Von besonderer Bedeutung ist auch die Aufklärung der Bevölkerung: „Depression muss als Krankheit wie ein Hypertonus oder ein Diabetes gesehen und behandelt werden. Bei Depressionen handelt es sich zwar um ein psychisches Problem, das aber nicht nur psychologische Ursachen hat, sondern das auf Veränderungen im Gehirnstoffwechsel basiert,“ so Prof. Kasper. Die erfolgreiche Behandlung einer Depression setzt ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten voraus. „Es ist wichtig, dem Patienten immer wieder Lebensziele und Wertinhalte vor Augen zu führen“, betont Univ.-Prof. Dr. Christian Simhandl, KH Neunkirchen. Viktor Frankls Prinzip „Trotzdem Ja zu Leben sagen“ kann gerade für suizidgefährdete Menschen auf der psychologischen Ebene Motivator sein.

Suizidgedanken sind keine Schande

Chefarzt Dr. Stefan Rudas, Leiter des Psychosozialen Dienstes Wien (Notruf: 01/31330): „Beinahe jeder Mensch hat sich im Laufe seines Lebens mit Suizidgedanken beschäftigt. Es ist also keine Schande, solche Gedanken zu haben, aber es ist wichtig, darüber zu reden!“. Der Psychiater tritt auch zwei weit verbreiteten Vorurteilen entgegen. So glauben nach wie vor viele Ärzte, dass das Ansprechen von Suizidgedanken durch den Arzt die Patienten erst auf die Idee bringen könnten. Dr. Rudas dazu: „Richtig ist vielmehr, dass, das Ansprechen von Suizidgedanken, dem Patienten hilft, über seine Probleme zu sprechen.“ Ebenso falsch ist, dass wer über Suizid spricht, keinen Versuch unternimmt. Im Gegenteil, viele Selbstmorde werden angekündigt und können so, wenn richtig reagiert wird, verhindert werden. „Die Kommunikation mit suizidalen Patienten ist für jeden Arzt lernbar. Das neue Medizinstudium weist hier schon Verbesserungen in der Fortbildung auf. Auch die Ärztekammern bieten auf diesem Gebiet immer wieder Fortbildungsveranstaltungen an“, so Dr. Degn. Für November wird ein State of the Art-Papier zu diesem Thema erwartet.
Die richtige Sprache

Suizid wird heute noch häufig als Selbstmord oder Freitod bezeichnet. Beide Begriffe sind irreführend und sollten nicht mehr verwendet werden. Der Begriff Selbstmord impliziert eine kriminelle Handlung, die beim Suizid nicht vorliegt. Der Begriff Freitod lässt eine freie Entscheidung über Leben und Tod vermuten, zu der suizidale Menschen in der Regel nicht mehr fähig sind. Der Terminus wirkt darüber hinaus heroisierend. In der wissenschaftlichen Fachsprache und im Umgang mit Betroffenen sollte daher das Wort Suizid verwendet werden oder auch noch Selbsttötung.
Entwicklung eines Suizids

Phase 1: Suizid wird als mögliche Problemlösung in Betracht gezogen. Die ärztliche Frage „Haben sich Ihnen in letzter Zeit Selbstmordgedanken aufgedrängt?“ kann hier für den Patienten sehr erleichternd wirken und eine antidepressive Therapie einleiten.

Phase 2: In dieser Ambivalenzphase beschäftigt sich der Betroffene intensiv mit dem Für und Wider einer Selbsttötung und kämpft mit seinen Gefühlen und Ängsten. Meist werden die suizidalen Gedanken zur Sprache gebracht. Diese Hilfeschreie müssen unbedingt ernst genommen werden. Es stimmt nicht, dass Menschen, die über Suizid sprechen, diesen nicht verüben!

Phase 3: Die Entscheidung ist gefallen, der Betroffene weiß auch bereits, wie er aus dem Leben scheiden will. Nach außen hin wirkt er ruhiger und gelöst. Das Ansprechen von Suizidgedanken kann hier Leben retten!
© MMA, Medical Tribune 30-34/2005