Gezüchtet. Geliebt. Gepeinigt.
Ein Universitätsgebäude ist normalerweise ein öffentliches Bauwerk, ein Begegnungszentrum für die Jugend und die Zukunft. Dies hier ist anders. Es ist ein Auffanglager für schwer vermittelbare Kreaturen. Ein Refugium für Exoten.
Wir sind in der Münchener Kaulbachstraße, den Englischen Garten vor der Nase und die Juristischen Institute im Nacken. Die breiten Treppen, der kalte Steinboden, die langen Flure hinter den Glastüren, ein paar Plakate an der Wand – es herrscht der Institutsflair der Siebzigerjahre. So mancher würde sagen: Und genauso muffelt es hier auch. Doch was hier so schwer in der Luft liegt, ist nicht der Geruch der Vergangenheit, sondern hat vor allem zoologische Gründe. Vom Keller bis zur oberen Etage sind die Räume bis unter die Decke mit Glasterrarien bestückt und mit Wannen vollgestellt. Auch der Innenhof: ein improvisierter, dicht bewachsener Exotenzoo. Aus dem alten Unibau sind künstliche Lebensräume von Schildkröten, Echsen, Amphibien und Unmengen an Schlangen geworden.
Zweieinhalb bis dreitausend Tiere hat die Reptilienauffangstation München hier mittlerweile untergebracht, inklusive eines Drei-Meter-Kaimans mit Zeheninfektion und einer kolossalen Geierschildkröte aus einem Scheidungshaushalt. Anfangs nutzte der Verein nur die Kellerräume, später breitete sich das Exoten-Refugium auf alle Stockwerke aus. Drei bayerische Ministerien mussten dem zustimmen und das Geld dafür geben. Inzwischen ist der Jahresetat des Vereins auf mehr als 1,2 Millionen Euro gewachsen, ein Neubau ist seit Jahren im Gespräch. Seit Kurzem gibt es dafür grünes Licht vom Staatsministerium. Alles in allem also wird in der Münchener Innenstadt ein expandierendes nichtkommerzielles Reptilienobdachlosenheim betrieben, das seit Jahren immer größer – und problematischer – wird. Zwanzig Leute helfen und arbeiten hier. Corona und die Isolationsmaßnahmen haben dafür gesorgt, dass der Heimtiermarkt zuletzt noch einmal gewachsen ist und die Tierheime in fast allen Städten seitdem stärker überlastet sind denn je.
In fast jedem zweiten Haushalt in Deutschland lebte im Jahr 2023 ein Haustier, unter den Familien mit Kindern haben sich sogar zwei Drittel zoologisch vergrößert: 15,7 Millionen Katzen und 10,5 Millionen Hunde gibt es im Land, dazu 4,6 Millionen Kleintiere, 3,5 Millionen Vögel, hinzu kommen mehr als zwei Millionen Aquarien und 1,2 Millionen Terrarien mit vielfachem Tierbesatz.
Die Beliebtheit von Haus- und Heimtieren ist das eine, die Perversionen dieses Lebendtiermarktes das andere, inzwischen sogar das größere Thema. Das gilt für den Gesetzgeber, Richter, Amtsveterinäre und Tierärzte wie Markus Baur, den Vorsitzenden der Münchener Reptilienauffangstation, oder dessen Kollegin Sabine Öfner.
Ihre erste Begegnung mit dem wachsenden Exotenmarkt hatte Öfner Ende der Neunzigerjahre. Ein Transporter voll mit illegal gehandelten Rotwangenschildkröten und geschützten Leguanen wurde beschlagnahmt. Damals wurde ihr schnell klar, wie wenig es vielen um Tierliebe oder gar um Tierschutz geht, sondern um den Profit. Die kommerzielle Dimension war unübersehbar. Das deutsche Tierschutzgesetz gab es da schon, aber es konnte nicht verhindern, dass der Lebendtiermarkt über die Jahre hinweg von einer absurden züchterischen Hochrüstung angesteckt wurde.
„Vieles, was wir heute hier sehen, muss in den Qualzuchtsektor eingestuft werden“, sagt die Tierärztin. Sie öffnet im Quarantäneraum eines der kleinen Terrarien in der weißen Schrankwand. Ein Leopardgecko-Männchen nimmt sie mit der Hand heraus, ein ursprünglich aus Asien stammendes Reptil, das sich früher wegen seiner prachtvollen orange-beigen Färbung mit dem schwarzen Leopardenmuster zu einem der beliebtesten Terrarientiere entwickelt hatte. Heute ist dieses Muster wie im Fall des blassen Tieres in der Hand der Tierärztin oft gar nicht mehr zu erkennen. Der Marktwert eines Geckos ergibt sich aus vielen Faktoren, aus Farbe, Streifen, vor allem aber aus der Seltenheit der Abweichung.
„Eine Enigma-Variante“, sagt Öfner. Ein Gendefekt ist der Ursprung dieser Zucht. Das Tier ist mehr oder weniger farblos, zutraulich, fast träge. „Zentralnervöse Störungen kennen wir bei vielen von ihnen, sie werfen den Kopf hin und her und krampfen“, sagt Öfner. Nicht selten sieht man die Tiere auch den Kopf wegdrehend in den Himmel starrend. „Stargazing“ – auch so ein Begriff aus der Veterinärsprache, der erst mit den ausufernden Zuchtbemühungen häufig verwendet wird. In unterschiedlicher Ausprägung kommen die neuronalen Schädigungen vor. Sie sind genetisch „gekoppelt“, wie es in der Vererbungssprache heißt, mit den farb- und mustergebenden Genregionen, auf die hin gezüchtet wird. Vom Leopardgecko gibt es mittlerweile weit mehr als hundert spektakuläre Farbformen. Der „Lemon Frost“ mit seiner quietschgelben Körperfärbung, einer weißen Grundfarbe, einer silbrigen, „frostigen“ Iris im Auge und Körperflecken, die an vielen Stellen nur noch ansatzweise zu sehen sind, hatte vor zehn Jahren große Aufmerksamkeit geweckt.
Kurz nachdem die ersten Tiere aus den USA aufgetaucht waren, wurde ein Pärchen für zwanzigtausend Dollar ersteigert. In kurzer Zeit schwappte das Lemon-Frost-Fieber auf Europa über, auf den Börsen wechselten die Tiere für bis zu zehntausend Euro ihre Besitzer – das Zehnfache ihres üblichen Handelspreises. Das Problem: So schnell wie der Markt hochkochte, so schnell wurde klar, dass auch diese Tiere ihre Seltenheit einem fatalen Gendefekt zu verdanken haben. Sie erkranken fast immer unheilbar an multiplen Organ- und Hauttumoren. Die Beulenbildung ist an die Gene für die Pigmentierung gebunden, und sie ließ sich auch nicht herauszüchten.
Große und dubiose „Zuchtkarrieren“ wie die des Leopardgeckos locken immer wieder Nachahmer im Zuchtgeschäft. Von der am häufigsten gehaltenen, weil eher kleinwüchsigen Riesenschlange – der Königspython – gibt es in der Zuchtdatenbank „World of Ball Pythons“ inzwischen 7621 Eintragungen. So viele unterschiedliche Farb- und Mustererscheinungen – Morphen genannt – sind beschrieben. Der Markt in den USA und in Asien lechzt nach immer neuen seltenen Abweichungen. „Masse statt Klasse“, beklagte Markus Baur von der Münchener Auffangstation unlängst auf dem Veterinärkongress in Leipzig. „Mit jeder neuen Morphe können unglaubliche Erträge erzielt werden.“ Zehntausende Euros für die Nachzucht eines der oft nicht einmal ein Meter langen Königspythons sind möglich. In den USA seien deshalb, so Baur, „Fabrikhallen mit Schlangenproduzenten“ entstanden. Eine Parallelwelt. Aber auch in Europa wittern Hobbyisten längst das große Geschäft. Ein unethisches Spiel mit den absurden Auswüchsen der Zuchtwahl.
Baurs Team musste im vergangenen Jahr den Dachboden eines bayerischen Züchters ausräumen, in dem die eierlegenden Königspythons wie in Legebatterien in meterhohen Racks aus kleinen, übereinandergestapelten Kunststoffwannen gehalten wurden. Tierärztin Öfner nimmt eine der skurrilen Königspython-Morphen, die sich unter einer Korkeiche versteckt hat, aus einem Terrarium. „Auch ein Python, eine Wobblerin.“ Die Wildform des Königspythons ist normalweise tiefbraun, schwarz und beige gefärbt, doch von den typischen Pythonflecken ist bei diesem Tier nicht viel übrig. Eine „Splash“, sagt Öfner, sie gehöre zum erweiterten Kreis der „Spider“-Morphen. Die hier hat kaum noch Zeichnung, sie ist grünlich-ockerfarben, als wären die Farben ausgeblasst. Über den Rücken zieht sich von vorne bis hinter den Kopf ein hellgelber Streifen.
Das „Wobbeln“ ist das nervöse Kopfwackeln, unkontrollierte Bewegungen im vorderen Körperdrittel, die bei den Tieren während ihrer aktiven Phase immer wieder aufkommen. Die Schlangen taumeln dann. Auch von einigen ihrer größeren Teppichpythons kennt Öfner das. Mehr als ein Dutzend von ihnen war vor zwei Jahren in einem Karton auf der Theresienwiese gefunden worden. Offensichtlich Nachzuchten, von denen einige inzwischen an Terrarienbesitzer abgegeben werden könnten.
Wie im Fall der Leopardgeckos ist die zentralnervöse Verhaltensstörung mutmaßlich einer Mutationen zu verdanken, die an die Ausprägung des Schuppenmusters gekoppelt ist. Ein Defekt, der zum Verlust eines funktionstüchtigen Innenohrs und damit zu Koordinierungsproblemen führt. In Gefangenschaft müssen diese Tiere nichts fürchten. In der Auffangstation werden sie mit aufgetauten Mäusen oder Ratten von der Greifzange gefüttert. Wie eingeschränkt sie bei der Jagd wären, spielt in Gefangenschaft keine Rolle. In solchen Fällen, wenn es keine äußerlich erkennbaren Einschränkungen gibt, verbieten sich viele Tierhalter den Begriff Qualzucht. Was aber ist das dann genau: eine Qualzucht?
Vor fast zwanzig Jahren war von einer „Sachverständigengruppe Tierschutz und Heimtierzucht“ der Begriff für alle betroffenen Heimtierarten definiert worden. Beschrieben wurde Qualzucht als die mit Leiden verbundenen erblich bedingten Verhaltensstörungen, auch die züchterische Auslese zugunsten aggressiverer Nachkommen war als Qualzucht zu verstehen, außerdem gilt es für alle Tiere, deren Haltung nur unter Bedingungen möglich ist, die bei den Tieren zu Schmerzen oder „vermeidbaren Leiden und Schäden“ führen. Damals schon, im Jahr 2005, war es um die Auslegung des Paragraphen 11b des Tierschutzgesetzes gegangen, in dem das Verbot von Qualzuchten geregelt wurde. Doch bereits damals mangelte es an der Umsetzung des Verbots.
Die Amtstierärzte waren in den meisten Fällen ratlos. „Es blieb Wortgeklingel, bis heute“, sagt Baur. „Meistens wird ewig herumdiskutiert, und im Zweifel braucht es ein Gerichtsurteil, das in jedem einzelnen untersuchten Fall die Qualzucht feststellt.“
Was für Exoten gilt, ist bei Vögeln, Kleintieren, Hunden und Katzen nicht anders. Qualen sind begrifflich schwer einzugrenzen. Beim Lemon-Frost-Leopardgecko immerhin hat die schwer zu übersehende Tumorbildung am Ende die meisten Züchter ins Nachdenken gebracht. In den Preislisten taucht er fast nirgends mehr auf. Auch bei anderen, offensichtlichen Qualzuchten kommt Bewegung hinein. Der Betreiber der seit dreißig Jahren in Hamm stattfindenden weltgrößten Reptilienbörse Terraristika pflegt seit zwei Jahren eine Liste mit Qualzuchten, die nicht ausgestellt werden dürfen.
Und in der mittlerweile von Grünen-Landwirtschaftsminister Cem Özdemir vorangetriebenen Novellierung des Tierschutzgesetzes steht das Qualzuchtverbot einmal mehr ganz oben auf der Liste. Das ist nicht zuletzt auch die Konsequenz aus einem EU-Bericht „Extremzüchtungen in Europa“, der vor wenigen Monaten veröffentlicht wurde und die gesetzgeberischen wie die Umsetzungslücken in Europa offengelegt hatte.
Ausgehend von anonymisierten Umfragen in den Tierkliniken und -praxen Großbritanniens, in denen sich zeigte, dass gut zwanzig Prozent der Hunde irgendeine Art „extremer Gestalt“ aufweisen, resümierten die Autoren des Gutachtens: „Tiere, die aufgrund ihres Aussehens unter Gesundheitsschäden leiden müssen, sind Normalität geworden.“ In Deutschland etwa zählen die Französische Bulldogge und der Chihuahua zu den beliebtesten Hunden. Beide Rassen sind durch extrem kurze Schnauzen ausgezeichnet, beim einen machen Luftnot, übermäßige Schleimhautproduktion und infektionsanfällige Hautfalten oft Probleme, beim kleinen Chihuahua sorgt insbesondere die offene Schädeldecke für extreme Anfälligkeit.
Schätzungsweise 18 Millionen Hunde, 22 Millionen Katzen und vier Millionen Kleintiere in Europa hätten dem EU-Bericht zufolge eine irgendwie geartete Deformation, die ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit beeinträchtige. Ungezählt sind die Millionen Vögel und Reptilien. Tatsächlich gibt es weder ein Register noch bei den Verbänden eine Übersicht der problematischen Rassen und Varianten. Im neuen Tierschutzgesetz soll sich das ändern. Die Debatten darum laufen gerade heiß. Zum Zuchtverbot soll künftig ein Ausstellungs- und ein Werbeverbot für Qualzuchten kommen. Listen des Leidens werden vorbereitet: mit Kandidaten wie den anfälligen Nacktkatzen und Dackeln, die genetisch bedingte Knorpelmissbildungen aufweisen und zu Bandscheibenschäden neigen. Auch die Entwicklung des seit Jahrzehnten auf schräge Rückenlinien gezüchtete Deutsche Schäferhund wird wegen der Hüftdysplasien von Veterinären bemängelt und quasi alle kurzbeinigen und kurzköpfigen Hunderassen.
„Der Referentenentwurf für das neue Tierschutzgesetz ist ein Fortschritt“, sagt Veterinärin Öfner, jedoch werde die Klassifizierung – sprich: die Eingrenzung der Qualmerkmale und Symptome der betreffenden Tiere – schwierig. Die Tierärztin zeigt das am Beispiel zweier Bartagamen – Wüstenechsen, von denen das größere Männchen in ihren Armen rötliche Schuppen trägt. Resultat der Zucht. Auch die rötlichen Hörnchen auf den Halsschuppen sind ungewöhnlich, aber eben zu mickrig, um ihre biologische Signalfunktion zu erfüllen. Deshalb ist das Schuppenkleid dieser Bartagame für die innerartliche Kommunikation ungeeignet. Auch die vollständig schuppenfreien Kornnatter-Varianten, von denen einige in der Reptilienauffangstation leben, sehen auf den ersten Blick nicht leidend aus. Doch das Fehlen der Schuppen auf der Haut erhöht die Verletzungsgefahr und schränkt die Tiere ein – erst recht, wenn die Bauchschuppen fehlen, die sie für die im Geäst übliche Bewegung benötigen. Für die Beurteilung solcher Exoten kommen die Tierhalterverbände und -züchter im Juni zum ersten Mal mit Tierärzten zusammen, um am Ende womöglich eine Liste mit Qualmerkmalen zu erstellen.
Ganz klar ist die Sachlage für „Defekttiere“ wie die Mississippi-Alligator-Dame „Ophelia“. Im Frühjahr war sie auf dem Flug aus den USA nach Singapur in München abgefangen worden. Als helläugiger „Albino“ gezüchtet hätte sie im Handel gut fünfundsiebzigtausend Euro gebracht. Doch ihren Seltenheitswert musste sie teuer bezahlen: Eingepfercht und eingewickelt in Frischhaltefolie wurde sie per Röntgenaufnahme in einem Koffer entdeckt, die Kiefer und Gliedmaßen mit Klebeband festgezurrt. Inzwischen ist Ophelia dank der Münchener Vermittlung in einem kleinen Zoo untergekommen, in dem das farblose Tier lichtgeschützt baden kann: Werden Haut und die empfindlichen Augen nämlich auch nur einen Moment zu viel der Sonne ausgesetzt, schält sich die Haut und das Reptil droht erbärmlich zu verenden oder an Infektionen einzugehen.
Nächstes Kapitel:
Was ist schon normal?
„Was ist schon normal?“
Thomas Henses Begeisterung für die Kanarienrasse kommt nicht von ungefähr, er hat mehr als zwanzig Jahre Zucht- und Ausstellungserfahrung mit „frisierten“ Kanarienrassen.
Aus Gesundheitsgründen habe er die Vogelzucht aufgeben müssen, doch seinen „Spezialclub der Frisé-Freunde“ gibt es noch, wie auch den Deutschen Kanarien- und Vogelzüchterbund (DKB). Und wie dieser ist er der Meinung, dass sich Gibber italicus weder als Symbolvogel für Tierqualen eignet noch verboten gehört. Im DKB-Steckbrief wird der Vogel in den höchsten Tönen als Lohn einer bis zu den italienischen Faschisten zurückreichenden Züchtungsleidenschaft bezeichnet, die 1951 zur Anerkennung dieser „ersten italienischen Rasse“ führte.
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