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The article discusses the rise of authoritarian populism in the context of Turkeys neoliberalisation experience since 1980. For long time, populist politics in Turkey successfully claimed to be the voice of the suppressed against the ruling. In fact, they used an oppositional political language meanwhile processing the material interests of the hegemonic forces. This established hegemonic stream in Turkish politics has been represented since 2002 by AK Parti, which has been evaluated by many observers as a force contrary to an assumed 'status quo'. With the use of this terminology, AK Parti has been evaluated by many academics within the termini of it's own discourse – a precondition for overlooking the authoritarian transformation taking place in Turkey for long years on the shoulders of selectively implemented EU-reforms. Despite receiving considerable support, particularly from the European public, authoritarian populism fell into an deep crises throughout the recent years – the result is its radicalisation which is mistakenly debated as the start of populism in Turkey.
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“Wie verschieden Erdoğan in den letzten Jahren wahrgenommen wurde, ist eng mit dem Populismus in der Türkei verbunden – namentlich, ab dem Zeitpunkt, als westliche Öffentlichkeiten begannen, von den autoritär-populistischen Tendenzen in der Türkei zu berichten. Als diskursiv-medialer Wendepunkt kann die brutale Niederschlagung der Juni-Revolte von 2013 ausgemacht werden. Bemerkenswert daran ist, dass die Adalet ve Kalkınma Parti/Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die zur jener Zeit seit über 10 Jahren regierte, international als eine Kraft wahrgenommen wurde, die sich entschieden der Demokratisierung des Land verschrieben hatte. Breite, bislang nicht repräsentierte Bevölkerungsgruppen, schienen nun erstmals in der Geschichte gegen „den“ kemalistischen Staat politisch und kulturell repräsentiert zu werden. Als „Populismus der Herrschenden“ (Laclau 1979: 174) stellte diese Erzählung ihre zentrale national-populare Anrufung der Massen als etwas dar, was der herrschenden Ideologie widersprach, weil das Grundelement kritisch und herrschaftsaffirmativ gegenüber dem kemalistischen Staat zugleich war und das Fenster für eine islamistische Gesellschaftspolitik öffnete. Dies hegte das antagonistische Potenzial der popularen Massen ein und schuf zunächst Zustimmung zur Neoliberalisierung, indem sie diese als Technik der Überwindung der autoritär-staatlichen Bevormundung propagierte. Während die AKP so ökonomisch wichtige Herrschaftsverhältnisse reproduzierte, verschränkte sie ihr eigenes Herrschaftsprojekt erfolgreich mit dem EU-Projekt, das als externer Anker des Neoliberalisierungsprozesses fungierte.
Doch offenkundig befindet sich die populistische Bewegungen in der Türkei an einem anderen Punkt als jene in Europa: Was seit 2013 gerade im Ausland als eine autoritäre bis islamistische Gesellschaftstransformation debattiert wird, ist vielmehr eine seit Jahren anhaltende Krise des autoritären Populismus der AKP. Der autoritäre Populismus bildet seit Jahrzehnten die Agenda verschiedener Regierungen in der Türkei. Seine Radikalisierung, Krise und Transformation gehen darauf zurück, dass er zu lange hegemonial war, um noch erfolgreich als etwas Oppositionelles zu gelten. Wer sich mit der gegenwärtigen Krise des türkischen Populismus beschäftigt, wird schnell merken, dass jener zentral für die Neoliberalisierung seit 1980 war. Genau daran mangelt es dem westlichen, stark auf Erdoğan fixierten, Diskurs, der implizit den Mythos einer bis 2013 demokratisch-progressiven AKP aufrechterhält. Zudem basiert er – wie die herrschaftsaffirmative Kemalismuskritik – auf einem sehr oberflächlichen Staatsbegriff, der nicht in den Blick nimm, welche gesellschaftlichen Verhältnisse sich im Staat verdichten.
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Die hier kritisierte Lesart türkischer Staatlichkeit bildete nicht nur seit 1980 die wichtigste Argumentationsfigur des Populismus der Herrschenden, der sich in seiner national-popularen Anrufung der Bevölkerung anti-etatistisch gab, sondern avancierte zugleich in den kommenden Jahren zum ideologischen Kern der sich formierenden AKP. International gelang es dagegen nicht, die spezifische Form des autoritären Populismus zu dekonstruieren: Stattdessen betrachteten europäische Eliten die Integration der – primär religiös-konservativ wahrgenommenen – Mehrheitsbevölkerung in die regionale neoliberale Ordnung als Voraussetzung für die langfristige Stabilität der Türkei, was eine schlichte Vereinfachung der komplexen Verhältnisse war. Im beschriebenen politischen Umfeld konnte der reformierte politische Islam auf explizit islamistische Referenzen verzichten und seine Agenda leicht in einer Semantik artikulieren, die national wie international ein breiteres politisches Spektrum ansprach. An Stelle der Forderung einer religiös begründeten Ordnung trat ein antijakobinischer Diskurs, der für ähnliche Inhalte neue, scheinbar säkulare Codes prägte, namentlich die „lokalen“, „authentischen“, „kulturellen“ Werte der eigenen politischen Identität (exemplarisch Akdoğan 2006). Während die AKP herrschende Klasseninteressen vertrat und bereits im Prozess ihrer Gründung im Jahr 2001 wichtige Exponent_innen des konservativ-liberalen Spektrums absorbierte und in ihre ökonomische Agenda integrierte, vertrat sie einen (scheinbar) oppositionellen Anti-Establishment-Diskurs. Letzterer bildete eine Form des Populismus der Herrschenden, der in seiner Anrufung der Massen deren antagonistische Potenziale absorbierte (Laclau 1979: 174). Autoritär-populistische Elemente (ebd. 174) waren also von Beginn an in das AKP-Projekt eingeschrieben – freilich ohne von den westlichen Öffentlichkeiten wahrgenommen zu werden. In diesem Sinne war sämtliche Politik der AKP und ihrer Vorgängerinnen immer eine populistische gewesen, denn sie präsentierte sich gegenüber der Ideologie des herrschenden Blocks antagonistisch, d.h. „dem“ kemalistischen Staat.
Wie kann die verschobene Wahrnehmung der türkischen Entwicklungen erklärt werden? Handfeste materielle Interessen spielten eine mindestens ebenso bedeutende Rolle für die Akzeptanz der AKP unter den gesellschaftlichen Eliten in der Türkei, wie im Ausland. Indem die neugründete AKP sowohl den Mehrheitsflügel des politischen Islam als auch seine konservativ-liberale Strömung organisierte, verkörperte sie jene Einheit des Machtblocks, die Ende 1960er Jahre verloren gegangen war, als sich wichtige Teile des politischen Islams von der konservativ-liberalen AP abgespalten hatten. Von den ökonomischen Eliten in der Türkei; die sich wesentlich im Unternehmensverband TÜSİAD organisierten, wurde die Wiedervereinigung des zuvor vielfach gespaltenen konservativen Spektrums als großer Fortschritt gewertet: Für sie galt die politische Zerstrittenheit als Haupthindernis für ökonomische Strukturreformen."