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Erklärt

Gewinnt die Nato nach Schwedens Beitritt die alleinige Kontrolle über die Ostsee? Es ist kompliziert – eine Analyse in Karten

Der schwedische Beitritt in das Verteidigungsbündnis ist nicht nur ein historischer Moment, sondern verändert auch das geopolitische Gleichgewicht in der Ostsee.

Linda Koponen, Tallinn (Text), Adina Renner (Karten) 6 min
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Nach 20 Monaten Widerstand, Provokationen und Zugeständnissen hat Ungarn am Montag dem Beitritt Schwedens zur Nato zugestimmt. Es ist ein historischer Moment, denn zum ersten Mal seit 500 Jahren sind alle nordischen Länder Teil des gleichen Verteidigungsbündnisses. Finnland wurde bereits im vergangenen April in die Nato aufgenommen. Das amerikanische Newsportal «Politico» titelte vor der Ratifizierung Schwedens fast schon euphorisch: «Sorry, Russland, das baltische Meer ist jetzt ein Nato-See».

Mit dem Beitritt Schwedens kann die Nato ihre Macht in Nordeuropa nochmals ausbauen. Doch die Ostsee, ein Binnenmeer der Nato? Ganz so einfach ist es nicht. Russland hat in den letzten 30 Jahren in der Region zwar kontinuierlich Einfluss verloren. Das Land ist aber immer noch ein Ostsee-Anrainer – in St. Petersburg und Kaliningrad. Der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden verändert das geopolitische Gleichgewicht weiter. Sechs Zonen auf der Karte verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit:

Anhand dieser strategisch heiklen Zonen lässt sich zeigen, dass die Ostsee kein unbedeutendes Randmeer ist:

Für den russischen Handel ist St. Petersburg mit seinem Zugang zum Finnischen Meerbusen von grosser Bedeutung: Der maritime Güterverkehr umfasst jährlich über 300 Millionen Tonnen. Der Transportweg über das Wasser endet dabei nicht in St. Petersburg, sondern verläuft über Flüsse und Seen ins Landesinnere nach Moskau und nach Norden zum Weissen Meer.

Die finnische Hauptstadt Helsinki und die estnische Hauptstadt Tallinn liegen gerade einmal 80 Kilometer voneinander entfernt. Bei einem Konflikt zwischen der Nato und Russland könnten die Alliierten den Finnischen Meerbusen für Schiffe nach St. Petersburg blockieren oder den Güterverkehr zumindest erschweren.

Russland hat im vergangenen Frühling auf seiner Insel Gogland im Finnischen Meerbusen eine Radarstation und fünf Helikopterlandeplätze errichtet. Im Zweiten Weltkrieg verlor Finnland die Insel an die Sowjetunion. 2022 wurden GPS-Signale finnischer Flugzeuge mehrfach gestört. Mutmasslich steckt Russland hinter der Sabotage. Flugzeugdaten zeigen, dass die Störungen wahrscheinlich von Gogland aus verursacht wurden.

Die Ålandinseln werden von Militärexperten als Achillesferse der finnischen Verteidigung bezeichnet. Der Archipel Åland besteht aus 6700 Inseln, von denen 60 bewohnt sind und manche nicht viel grösser als ein Felsbrocken im Wasser sind. Die Inselgruppe liegt an strategisch wichtiger Stelle zwischen der schwedischen Hauptstadt Stockholm und der finnischen Hafenstadt Turku am Eingang des Bottnischen Meerbusens. Der grösste Teil des finnischen Handels verkehrt auf dem Wasserweg an den Ålandinseln vorbei, und am Meeresgrund verläuft ein Netz von Unterseekabeln.

Seit 1856 sind die Ålandinseln ein demilitarisiertes Territorium. Damals gehörte das Gebiet zum russischen Kaiserreich. Nachdem Russland den Krimkrieg verloren hatte, wollten seine Gegner verhindern, dass es den Handel in der Ostsee vom Archipel aus blockieren konnte.

1921 wurde der Status bestätigt, als Åland Teil von Finnland wurde. Nach dem Winterkrieg 1940, in dem Finnland zwar seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion behaupten konnte, aber dennoch faktisch verlor, trafen die beiden Länder eine Zusatzvereinbarung: Die Sowjetunion eröffnete ein Konsulat in der åländischen Hauptstadt Mariehamn, und der sowjetische Konsul sollte fortan über die Einhaltung der Demilitarisierung wachen. Auch wenn es die Sowjetunion nicht mehr gibt, ist diese Vereinbarung bis heute in Kraft.

Heute nütze die Demilitarisierung einzig Russland, heisst es in einer Analyse des Verbandes der finnischen Reserveoffiziere. Mit dem Nato-Beitritt Finnlands ist die Diskussion über den Status der Inselgruppe neu aufgeflammt. Während eine Mehrheit der finnischen Bevölkerung eine Aufhebung der Demilitarisierung begrüssen würde, sind die Åländer dagegen. Da die Inselgruppe politisch weitgehend autonom ist, kann die Regierung in Helsinki nicht einseitig über ihr Schicksal entscheiden.

Mit dem Nato-Beitritt Schwedens erhält die schwedische Insel Gotland eine besondere militärstrategische Bedeutung. Wegen seiner Lage und Grösse wird Gotland manchmal ironisch als unversenkbarer Flugzeugträger bezeichnet – und ist als solcher auch von Interesse für Russland.

Die Insel liegt zwischen Schweden und der Küste der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Von Gotland nur 330 Kilometer entfernt befindet sich in der Exklave Kaliningrad der Hauptstützpunkt von Russlands Baltischer Flotte.

Während des Kalten Krieges war die schwedische Militärpräsenz auf der Insel hoch. Danach fing Schweden an, bei den Verteidigungsausgaben zu sparen. Das zeigte sich auch auf Gotland, wo 2005 kaum noch Truppen präsent waren. 2014 änderte sich das schlagartig, als Russland die Krim annektierte und im Ostseeraum umfangreiche Übungen der Luftwaffe durchführte. Auf Gotland wurde danach wieder eine ständige militärische Einsatztruppe stationiert, 2021 wurde die Flugabwehr reaktiviert.

Wenige Wochen vor dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 fuhren unerwartet drei Landungsschiffe der russischen Marine durch die Ostsee. Als Reaktion liess die schwedische Armee Soldaten und Panzerfahrzeuge auf Gotland patrouillieren. Die Landungsschiffe fuhren weiter ins Schwarze Meer, geblieben sind die schwedischen Truppen. Für die Nato ist Gotland wichtig, denn wer hier eine starke militärische Präsenz hat, beeinflusst das Kräftespiel im ganzen Ostseeraum.

Mit den Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines ist die dänische Insel Bornholm im Herbst 2022 in die internationalen Schlagzeilen gerückt. Wer hinter der Sabotage der Erdgasleitungen steckt, ist noch immer unklar, die Untersuchungen laufen.

Eine im vergangenen Frühling veröffentlichte Dokumentarreihe der öffentlichrechtlichen Sender von Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen zeigt, wie die Besatzungen russischer Zivilschiffe seit Jahren gezielt Windparks, Gaspipelines sowie Strom- und Netzwerkkabel in der Ost- und der Nordsee kartieren – auch vor Bornholm.

Anders als Åland und Gotland ist Bornholm schon seit der Gründung der Nato Territorium der Alliierten – allerdings ohne dass die Insel in den letzten Jahrzehnten wirklich militärisch genutzt worden wäre. Das könnte sich jetzt ändern: Nach Russlands Angriff auf die Ukraine hat Dänemark signalisiert, dass es eine Stationierung amerikanischer Truppen auf der Insel begrüssen würde. Im Rahmen einer Militärübung im Frühling 2022, an der auch die USA beteiligt waren, wurde die Verteidigung Bornholms mit Langstrecken-Raketenartillerie simuliert – mit Geschützen also, die das 350 Kilometer entfernte Kaliningrad treffen könnten.

Die russische Provinz Kaliningrad ist eines der am stärksten militarisierten Gebiete Europas. Dort befindet sich nicht nur der Hauptstützpunkt von Russlands Baltischer Flotte – der zahlenmässig grössten Flotte der Ostsee. Auch Luftwaffeneinheiten, Anti-Schiff-Raketen, Flugabwehrsysteme und nuklear bestückbare Raketen sind dort stationiert.

Zwischen Russland und Kaliningrad besteht keine direkte Landverbindung, die Exklave liegt zwischen den Nato-Mitgliedern Litauen und Polen. Abgesehen vom Seeweg kann das Gebiet nur über Nato-Territorium erreicht werden, wobei durch Litauen eine Bahnlinie nach Kaliningrad verläuft. Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, führt die Versorgung der Exklave zwischen den beiden Ländern zu Spannungen.

Sollte ein Konflikt eskalieren, könnte die Nato Kaliningrad von Russland abschneiden. Laut Experten ist Kaliningrad daher eine Bedrohung für die Nato, aber gleichzeitig auch eine Schwachstelle Russlands.

Nicht umsonst war die Freude über die Nato-Beitritte Finnlands und Schwedens im Baltikum am grössten. Auf dem Landweg sind die Balten nur über eine 65 Kilometer lange Grenze – die sogenannte Suwalki-Lücke – mit Polen und dem zentraleuropäischen Nato-Gebiet verbunden. Eingeklemmt zwischen Russland, Weissrussland und der Ostseeküste, befinden sich Estland, Lettland und Litauen daher in einer sicherheitspolitisch exponierten Lage.

Im Kriegsfall wäre es äusserst schwierig, den Nachschub durch die Suwalki-Lücke zwischen Weissrussland und Kaliningrad zu transportieren. Höchstens 60 Stunden würden russische Soldaten brauchen, bis sie vor den Toren der Hauptstädte Riga und Tallinn stünden, prophezeite die amerikanische Denkfabrik Rand im Jahr 2016.

Die russische Armee hätte aber auch einen anderen Grund, die Suwalki-Lücke anzugreifen. Um seine hochgerüstete Exklave Kaliningrad mit dem verbündeten Weissrussland zu verbinden, müsste sie den Korridor kontrollieren.

Verschiedene Medien, darunter das News-Portal «Politico», verliehen der Suwalki-Lücke den etwas sensationsgierigen Titel «gefährlichster Ort der Welt». Mit den Nato-Beitritten Schwedens und Finnlands hat sich die Situation etwas entspannt, denn nun können die Bündnispartner den Balten auch von Norden zu Hilfe eilen. Die geografische Ausgangslage im Süden Litauens bleibt jedoch unverändert. Sollte es zu einem Konflikt zwischen der Nato und Russland kommen, wäre die Suwalki-Lücke wohl eines der ersten Ziele der russischen Armee.

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