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Henrik Müller

Finanzieller Crashkurs Warum der Schuldenberg der USA die Finanzmärkte nervös macht

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Hohes Defizit, Rekordschulden: Die Vereinigten Staaten geben mit beiden Händen Geld aus. Warum? Weil sie’s können. Bislang jedenfalls.
Joe Biden: Der US-Präsident versucht, mit großen, auf Pump finanzierten Programmen die Reindustrialisierung der USA anzuschieben

Joe Biden: Der US-Präsident versucht, mit großen, auf Pump finanzierten Programmen die Reindustrialisierung der USA anzuschieben

Foto: IMAGO/Ting Shen - Pool via CNP / IMAGO/ZUMA Wire

Der Notenbankchef warnte den künftigen US-Präsidenten vor einer „finanziellen Katastrophe“. Die nächste amerikanische Regierung müsse das Haushaltsdefizit senken und beginnen, den Schuldenberg abzutragen. Ansonsten werde das Vertrauen in die Wertstabilität des Dollar schweren Schaden nehmen.

Die Folgen: hohe Zinsen, immense Unsicherheit, schwache Wirtschaft. Ein Abbau der Staatsschulden hingegen würde Vertrauen stiften, die Zinsen senken und einen lang anhaltenden Aufschwung unterfüttern.

Das vertrauliche Gespräch hat der Starreporter Bob Woodward (81) in seinem Buch „Maestro – Greenspan’s Fed and the American Boom“, erschienen im Jahr 2000, beschrieben. Es soll im Dezember 1992 stattgefunden haben. Chef der Federal Reserve Bank war damals Alan Greenspan (98), der einem jugendlichen Bill Clinton (77) kurz vor dessen Amtseinführung ins Gewissen redete.

Ob die Episode tatsächlich so oder so ähnlich stattgefunden hat? Wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist, dass Clinton genauso handelte. In seinen zwei Amtszeiten verwandelte sich das öffentliche Defizit in einen strukturellen Überschuss, der über die Jahrtausendwende hinaus Bestand hatte. Die langfristigen Zinsen sanken, wie von Greenspan vorhergesagt. Dadurch kamen die Investitionen in Gang. Die Wirtschaft erreichte einen höheren Wachstumspfad, der in den spektakulären „American Boom“ der späten Neunzigerjahre mündete.

Alles lange her. Aus heutiger Sicht sind mindestens drei Aspekte an dieser Episode bemerkenswert:

Erstens, Clinton gelang es, eine parteienübergreifende Koalition im Kongress zu schmieden, die sich zu einer Mischung aus Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen bereitfand.

Zweitens, dieser Konsens hielt über Wahltermine hinaus, also auch in Phasen, in denen Politiker gern mal das langfristig Vernünftige zugunsten des kurzfristig Wünschbaren hintanstellen.

Drittens, 1992, als das Gespräch stattgefunden haben soll, summierten sich die aufgelaufenen US-Staatsschulden zu 47 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das laufende Haushaltsdefizit lag bei 4,5 Prozent.

Der Gegensatz zur Gegenwart könnte kaum krasser sein.

Greenspan wäre erblasst

Dass sich ein libertärer Ultra wie Alan Greenspan, Anhänger der schrägen staatsskeptischen Philosophin Ayn Rand, und ein Progressiver wie Bill Clinton – bei allen sonstigen Unterschieden – auf einen längerfristig tragfähigen finanzpolitischen Kurs verständigen konnten, ist im heutigen Washington quasi undenkbar. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die politische Polarisierung in den USA so weit fortgeschritten, dass sich Demokraten und Republikaner im Kongress kaum noch auf etwas einigen können.

Joe Bidens (81) Demokraten versuchen, mit großen, auf Pump finanzierten Programmen die Reindustrialisierung der USA anzuschieben. Die Republikaner wiederum haben längst ihren traditionellen finanzpolitischen Konservatismus über Bord geworfen und wollen möglichst niedrige Steuern. Worauf man sich im Zweifel gerade noch verständigen kann, sind Ausgabenprogramme ohne Gegenfinanzierung (so wie kürzlich, als das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus die Militärhilfen für die Ukraine, Israel und Taiwan nach langem Widerstand dann doch noch durchwinkte).

Eine materielle Folge dieser Politblockade, die sich seit der Präsidentschaft Barack Obamas (62) in wechselnden Konstellationen immer weiter verhärtet hat, sind Staatsfinanzen in einem Zustand, der Greenspan 1992 wohl hätte erblassen lassen. Nach Rechnung des Congressional Budget Office (CBO), dem finanzpolitischen Thinktank des US-Parlaments, hat sich die Schuldenquote auf annähernd 100 Prozent des BIP verdoppelt; nach der Definition des Internationalen Währungsfonds  liegt sie gar bei 123 Prozent. Das laufende Defizit im US-Staatshaushalt beträgt mehr als 6 Prozent, obwohl sich das Land in einem konjunkturellen Aufschwung befindet. So wird es wohl in den kommenden Jahren weitergehen – unabhängig davon, wer die Wahlen im November gewinnt.

Außer in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wog die US-Schuldenlast noch nie so schwer wie heute. Und wie die Dinge liegen, wird sie wohl rapide weiter steigen. (Ein Zahlenkonvolut des CBO zur US-Haushaltslage und zu langfristigen Projektionen finden Sie hier .)

Droht nun – mit drei Jahrzehnten Verspätung – jene „finanzielle Katastrophe“, vor der Greenspan einst gewarnt hatte?

Wenn das Blatt sich gegen Amerika wendet

Dass Greenspans Vorhersage nicht längst eingetreten ist, obwohl ab den 2010er-Jahren die Schuldenquoten wieder rapide gestiegen sind, lag einerseits an den extrem niedrigen Zinsen und den jahrelangen Anleihekäufen der Fed ("Quantitative Easing"). Andererseits am schier unstillbaren Appetit des Rests der Welt auf US-Staatsanleihen. Bislang sind Anleger rund um den Globus bereit, Amerikas Schuldscheine aufzukaufen, egal, was in Washington so passiert. Selbst als die USA 2011 nach einem „Government Shutdown“ von Ratingagenturen herabgestuft wurden und die Bestnote AAA verloren, änderte sich daran nichts. US-Bundesanleihen („Treasuries“) gelten nach wie vor als ultimatives Wertaufbewahrungsmittel, das sich auf ultraliquiden Märkten jederzeit in andere Papiere oder Währungen tauschen lässt, und zwar zu niedrigen Kosten.

Doch inzwischen haben sich die Dinge gewendet. Die Zinsen steigen. Und der Dollar könnte seine Rolle als Weltgeld Nummer 1 verlieren, weil wichtige Schwellenländer versuchen, Alternativen zum US-zentrierten Finanzsystem zu entwickeln. Dass Washington den Dollar für Finanzsanktionen nutzt und, zusammen mit Verbündeten (darunter die EU), die russischen Währungsreserven eingefroren hat, beschleunigt diese Bestrebungen. Die Konsequenz könnte eine Dollar-Krise sein: ein Käuferstreik bei US-Anleihen, sodass sich der amerikanische Staat nicht mehr unbegrenzt zu niedrigen Kosten verschulden kann.

Noch ist es nicht so weit. Aber das kann sich rasch ändern. CBO-Direktor Phillip Swagel (57) warnte kürzlich vor Verwerfungen an den Finanzmärkten: Sollten Anleger das Vertrauen in die fiskalische Solidität der USA verlieren, könnte einiges ins Rutschen geraten. Der aktuelle Fed-Chef Jerome Powell (71) sprach in einem Fernsehinterview vom „nicht nachhaltigen finanzpolitischen Kurs“ der US-Regierung: „Das bedeutet einfach, dass die Schulden schneller wachsen als die Wirtschaft.“ Auf Dauer könne das nicht gutgehen.

Ein endliches Spiel. Nur wie genau es ausgehen wird, ist unklar.

Mehr Ausgaben für Zinsen als fürs Militär

Nervös macht die Finanzexperten insbesondere, dass Amerika einen immer größeren Anteil seines Staatshaushalts für den Schuldendienst aufwenden muss. 2020 waren für Zinszahlungen lediglich 8,3 Prozent der gesamten Staatseinnahmen fällig. Binnen vier Jahren ist der Wert auf 12,7 Prozent gestiegen, so der Internationale Währungsfonds  (IWF). Erleichterung ist nicht in Sicht.

Amerika gibt dieses Jahr sagenhafte 870 Milliarden Dollar für Zinsen aus, mehr als fürs Militär, wie das Peterson Institut for International Economics bemerkt  – und die USA haben den mit Abstand größten Verteidigungsetat weltweit.

Während bei uns die Ampel-Ministerien eher um Kleinbeträge feilschen und die EU-Kommission gerade mal wieder angekündigt hat, die Defizite in diversen Mitgliedstaaten mit blauen Briefen zu ahnden, ist den heutigen USA derlei Zurückhaltung fremd. Deutschlands Schuldenquote zum Beispiel ist nur halb so hoch wie Amerikas. Dennoch haben wir das Gefühl, uns alles Mögliche nicht leisten zu können – ein einsatzfähiges Militär zum Beispiel. Von solchen Befürchtungen ist Washington weit weg. Klar, wir haben keine Weltwährung, die von einer Supermacht abgestützt würde. Dennoch haben wir enormen finanziellen Spielraum, den wir trotz einer akuten Bedrohungslage nicht nutzen.

Es sind die Vereinigten Staaten, die mit beiden Händen Geld ausgeben. Warum? Weil sie’s können. Bislang jedenfalls. Es ist eine gigantische Wette.

Protektionismus mindert die Schuldentragfähigkeit

Hier ist eine These: Die Schuldenlast der USA dürfte tragbar bleiben, sofern a) Amerikas beeindruckende wirtschaftliche Dynamik anhält; b) die Inflation unter Kontrolle bleibt, sodass die Zinsen nicht dramatisch steigen; c) die Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen gesichert ist; d) Parlament und Präsident in der nächsten Legislaturperiode beweisen, dass sie in der Lage sind, die Steuern zumindest moderat zu erhöhen.

All das ist fraglich. Der protektionistische Kurs der US-Regierung, aktuell insbesondere gegenüber China, wird die Faktoren a) und b) belasten: Importbeschränkungen dämpfen erfahrungsgemäß das Wachstum und treiben die Preise (und die Zinsen) im Inland. Beides schmälert tendenziell die Schuldentragfähigkeit.

Falls Donald Trump (77) erneut ins Weiße Haus einzieht, steht zu befürchten, dass er sich wenig um die verfassungsmäßige Ordnung des Landes schert, was die Glaubwürdigkeit der Institutionen, zumal der Fed, beschädigen würde.

Was Steuererhöhungen angeht, haben die USA enormen Spielraum. Die Steuer- und Abgabenquote ist im OECD-Vergleich ausgesprochen niedrig. Ob ein parteienübergreifender symbolischer Schritt der demonstrierten fiskalischen Handlungsfähigkeit politisch machbar wäre, ist eine andere Frage.

Kämen Amerikas Staatsfinanzen ins Rutschen, hätte das enorme Auswirkungen. Treasuries im Wert von zig Billionen Dollar müssten wertberichtigt werden. Schieflagen in den Bilanzen von Banken und anderen Finanzinstitutionen rund um den Globus wären die Folge. Die seit Anfang vorigen Jahres schwelende Krise von US-Regionalinstituten wie der Silicon Valley Bank hat genau damit zu tun: Wenn hochbewertete US-Bundesanleihen in den Büchern abgewertet werden müssen, ist manches Geschäftsmodell nicht mehr zu halten.

Die geopolitischen Folgen einer amerikanischen Schuldenkrise wären kaum absehbar. Die Supermacht mit den tiefen Taschen stünde plötzlich blank da.

Immerhin: Amerika ist immer wieder für Überraschungen – im Guten wie im Schlechten.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Montag

Taipeh – Das bessere China – Amtseinführung des neuen taiwanischen Präsidenten Lai Ching-te. Pekings Führer Xi Jinping will die freie, prosperierende Insel – eine der erfolgreichsten Volkswirtschaften der vergangenen Jahrzehnte – unbedingt mit der Volksrepublik "wiedervereinigen". Lai setzt auf Eigenständigkeit, Abgrenzung und Abschreckung. Politische Spannungen sind programmiert.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Ryanair, Zoom.

Dienstag

Seoul – Regeln, welche Regeln? – Südkorea und Großbritannien richten einen internationalen Künstliche-Intelligenz-Gipfel aus (bis Mittwoch). Es geht um die weltweite KI-Regulierung.

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Generali, Kingfisher.

HV-Saison I – Hauptversammlungen von Shell, J.P. Morgan.

Mittwoch

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Nvidia, Hornbach, Evotec, Swiss Life, Target.

HV-Saison II – Hauptversammlungen von Société Générale, Crédit Agricole, Intesa Sanpaolo, Erste Bank, Amazon, PayPal, United Airlines, McDonald’s.

Donnerstag

Stresa – Rocking in the Free World – Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs der wichtigsten westlichen Länder (G7) unter italienischem Vorsitz (bis Freitag).

Brüssel – Zur Sonne? – Spitzenkandidaten-Debatte der EU-Parteienfamilien anlässlich der im Juni anstehenden Europawahl.

HV-Saison III – Hauptversammlungen von LEG Immobilien, Brenntag, SGL Carbon, Enel, Rolls-Royce, Deliveroo, Morgan Stanley, DuPont.

Freitag

Wiesbaden – Die Vermessung der Wirtschaft Das Statistische Bundesamt veröffentlicht Details zur Entwicklung des deutschen Bruttoinlandsprodukts im 1. Quartal.

HV-Saison IV – Hauptversammlungen von Lanxess, Carrefour, Totalenergies.