Udo Schuster (Hrsg.)
Rassismus im neuen Gewand
Herausforderungen im Kommunikationszeitalter 4.0
Herausgegeben im Auftrag der
Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen
Extremismus e.V.
und der
Bayerischen Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise e.V. (ADK)
1
Dieser Sammelband umfasst die Beiträge diverser Autoren anlässlich unserer verschiedenen
Jahresfachtagungen bis 2016. Dies erklärt die unterschiedliche Aktualität der jeweiligen
Aufrufe von Seiten im Internet.
Ferner wurde bei Zitaten die jeweilige Rechtschreibung in der Regel unverändert übernommen,
was erklärt, dass teilweise sowohl „alte“ als auch „neue“ Rechtschreibung in den einzelnen
Artikeln zu finden ist.
2
Udo Schuster (Hrsg.)
Rassismus im neuen Gewand
Herausforderungen im Kommunikationszeitalter 4.0
mit Beiträgen von:
Manfred Ach
Peter Bierl
Alma Fathi M.A.
Julian Feldmann
Dr. Rainer Fromm
Lothar Galow-Bergemann
Dr. Matthias Pöhlmann
Jan Rathje
Willi Röder
Udo Schuster
Dr. Roman Schweidlenka
A.R.W.
3
ISBN 978-3-941421-52-3
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der
Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über
https://portal.dnb.de/opac.htm
abrufbar.
Herausgegeben im Auftrag der
Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V. und
der Bayerischen Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise e.V. (ADK)
© by Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus
e.V. , Bayerische Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise e.V. (ADK) und bei den
Autoren der jeweiligen Beiträge
Cover: Falk Müller
Alle Rechte vorbehalten
Dokumentations-Edition 37 der A.R.W.
Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen
(A.R.W.)
Postfach 500 107, 80971 München
E-Mail: ARW.Manfred_Ach@gmx.de
URL: http://www.religio.de/arw
München 2017
4
Inhaltsverzeichnis
Manfred Ach
VORWORT: ER IST WIEDER DA
7
Udo Schuster
DECKMANTEL ESOTERIK UND SPIRITUALITÄT - DAS INTERNET ALS PLATTFORM
FÜR RASSISMUS UND WELTANSCHAULICHEN EXTREMISMUS
13
Jan Rathje
„REICHSBÜRGER“ : VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIE MIT DEUTSCHER SPEZIFIK
35
Dr. Rainer Fromm
RECHTSRADIKALISMUS IN DER ESOTERIK: VERSCHWÖRUNGSWAHN ZWISCHEN
GRAUEN MÄNNERN, ALTEN UFOS UND DER SCHWARZEN SONNE
61
Alma Fathi M. A.
DIE IDEOLOGISCHEN HINTERGRÜNDE DER GERMANISCHEN NEUEN MEDIZIN 81
Lothar Galow-Bergemann
HEUSCHRECKEN, GIER UND WELTVERSCHWÖRUNG: REGRESSIVER ANTIKAPITALISMUS UND DAS ANTISEMITISCHE RESSENTIMENT
113
Dr. Matthias Pöhlmann
„ERLEUCHTUNG AUF DUNKLEN PFADEN“ : ZU DEN HINTERGRÜNDEN UND
ERSCHEINUNGSFORMEN BRAUNER ESOTERIK
143
Peter Bierl
DER BRAUNE GEIST DER WALDORFPÄDAGOGIK
161
Dr. Roman Schweidlenka
RECHTE ENERGIE IN ESOTERISCHEM ZEITGEIST
189
Julian Feldmann
DIE VÖLKISCHE LUDENDORFF-BEWEGUNG
205
PETER BIERL
FEINDBILD MENSCH - ÖKOFASCHISMUS , ESOTERIK UND BIOZENTRISMUS UND
IHRE VERBINDUNGSLINIEN
217
Willi Röder
RASSERELIGIÖSE WURZELN DARGESTELLT ANHAND DES ARMANENORDENS 265
Dr. Roman Schweidlenka
JUGENDKULTUREN UND IHR BEZUG ZUM RECHTSEXTREMISMUS IN GESCHICHTE
UND GEGENWART
275
5
6
VORWORT
Manfred Ach
Er ist wieder da!
Der Rassismus. Der Antisemitismus. Der Biofaschismus. Der völkische
(oder „nationale“ oder „identitäre“) Geist mit seinen Ausgrenzungen,
seinem artfrommen Credo und seiner nordischen Ethik. Der Reichsmythos. Der pseudoreligiöse Neonazismus. Der stolze, barbarische
Heide. Der „heilsnotwendige“ Übermensch.
Vor mehr als 40 Jahren hatten wir uns Sorgen gemacht über einen aggressiven Rechtsradikalismus, über die Militanz organisierter Neofaschisten, über das Geschäft mit einer „braunen“ Nostalgie, über den
Einfluss der Neopaganen auf die Ökologiebewegung.
Beängstigend schien es uns zu sein, dass manche Zirkel der religiösen
Subkultur „magische“ Aspekte des Nationalsozialismus in ihr Programm aufgenommen hatten und durch diese „geheimwissenschaftliche“ Aufwertung eine Renaissance der Ariosophie bewirkten; dass das
so genannte „nationale Erbe“ von der grünen Alternativkultur wiederentdeckt und gefeiert wurde; dass die spirituelle Szene sich für „germanische Esoterik“ und „heidnische Glaubenslehre“ begeisterte; dass aus
dem „New Age“ der Subkulturapostel immer öfter ein „Old Age“ wurde.
Wir warnten vor monomanischen Weltdeutungen, vor (pseudo-)religiösen Überzeugungsattentätern und vor Terrorsekten am rechten Rand.
Unsere Sorgen waren nicht unberechtigt. Was wir in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts befürchteten, ist eingetreten.
Und was am Ende meines Buches „Das Nekrodil“ (im Jahr 2010) angedeutet wurde, ist leider auch greifbare Realität geworden. Nicht nur,
7
dass sich die neue Volksgläubigkeit als politischer Untergrund etabliert,
sondern dass sich die latent vorhandenen alten Mythen auch als fortschrittliche Biopolitik maskieren und im offiziellen politischen Tagesgeschehen Gestalt annehmen.
Der Führer einer solchen Bewegung benötigt „Deutschland“ nur noch
als verbalen Vorwand. Was er braucht, ist eine Wirtschaftskatastrophe,
eine Verschwörungstheorie und eine mehrheitlich befürwortete Kriegserklärung an die „Gutmenschen“. Und eine als Partei verkleidete Gefolgschaft, die auf Demokratiefeindlichkeit setzt und Parlamente verhöhnt, die Fremdenhass und Eigennutz predigt und das auch rücksichtslos durchsetzt.
Dass es auch nach 1945 noch (oder wieder) ökologischen Enthusiasmus und biopolitisches Elitedenken, Blutmystik und rassistische Weltverschwörungstheorien, deutsch-völkisches Sektierertum und faschistische Kampfbünde geben würde, war klar. Der Schoß war nach wie vor
fruchtbar – und wird es weiterhin sein.
Die Versuchung ist, wie wir wissen, alt. Ich habe in dem Buch („Wie
Hitler wurde, was er war“), das der vorliegenden Publikation vorausgeht, zu zeigen versucht, dass Hitler nichts erfunden hat, er hat alles vorgefunden. Mag sein, dass er es rhetorisch geschickter zu Gehör brachte
als andere. Er war Trommler, Träger und Prophet dieses sattsam bekannten politisch-rassistischen „Un-Wesens“, das damals allenthalben
herumspukte, und bediente sich ausschließlich dieser Ideen und Parolen.
Wer nach Schlagworten einer humanitätsfeindlichen Übermenschenphilosophie sucht, findet sie über viele Jahrzehnte hinweg (etwa ab
1870) in hoch aufgelegten intellektuellen Standardlektüren, in wissenschaftlichen Publikationen und in akademischen Diskursen. Er muss
sich nicht, wie man gerne glauben möchte, in die Welt von Winkelsekten mit ihren peinlichen Pamphleten begeben. Es ist kein „entlegenes“
oder „absurdes“ Gedankengut, das sich später in „Mein Kampf“ repräsentiert: es ist ein sich als „modern“ und fortschrittlich, durchaus auch
als revolutionär verstehender Geist, der glaubte, auf der Höhe der Zeit
und alles andere als konservativ zu sein.
8
Es wäre aber eine Fehleinschätzung, wollte man den Anhängern des
aktuellen Rassismus und Biofaschismus nur Rückständigkeit und Naivität unterstellen oder ihnen die Opferrolle von Verblendeten andichten.
Abgesehen davon ist auch das Bild vom arbeitslosen „Verlierer“ ohne
Zukunftsperspektive, der sich mangels Angebot und aus Frust einer
völkisch orientierten Gruppe zuwendet, ein letztlich unbrauchbares
Klischee. Woher kämen denn dann die rechtsradikalen Hochschulbünde mit qualifizierten Intellektuellen, woher nähmen die rassistischen
Vereinigungen und germanisch-esoterischen Religionsgemeinschaften
ihre beflissenen Schreiber und deren erfolgreiche Verlage, woher Biopolitiker ihre geschickten Redner? Nazismus ist nicht nur dumpfe
Großmannssucht, die sich in Bierkellern Luft macht oder in Sprechchören und Aufmärschen stark fühlt, Nazismus hat auch eine akademische Variante. Für die Gewalt auf den Straßen braucht man freilich primitive Schläger, für die Seminare aber kluge Rhetoriker. Und für die
mediale Verbreitung dieser Ideenwelt und ihrer hochwertigen Aufbereitung kompetente und technologisch versierte Partner.
Das leichtfertig gebrauchte Schlagwort von den „nur religiösen Schwärmern und Traumtänzern“ nützt niemandem und erklärt nichts. Im Gegenteil: es versperrt die Einsicht, dass in unserer scheinaufgeklärten
Welt wesentlich mehr von ideologischen und pseudoreligiösen Ideen
mitgesteuert wird, als es vorschnelle Rationalisten wahrhaben wollen.
Offenbar ist die Angst vor der Vernunft größer, als wir glauben. Oder
anders gesagt: Vielleicht bietet das Irrationale neben seinen Gefahren
auch jene Geborgenheit und Eingebundenheit, die vor dem Verlust der
Identität schützt, vielleicht ist es für viele ein Garant für den ganzen
Menschen. In diesen emotionalen Bezirken ist wohl das Faszinosum zu
suchen. Und im Falle der heute sich verdichtenden gefährlichen Tendenzen auch das Tremendum.
Im Gegensatz zu neopaganen Bestrebungen, wie sie z. B. im folkloristisch aufbereiteten Regionalismus zu beobachten sind, drängt neugermanisches Heidentum meist sehr bestimmt zur politischen Erfüllung
der völkischen Glaubenssehnsüchte. Religiöses Denken wird rasch zur
völkischen Ideologie, Begriffe wie „Nation“ und „Reich“ gewinnen
dann soteriologische Dimensionen. Das Hinüberwechseln aus der Welt
des Religiösen in die Welt des politisch-kulturell-organischen Lebens
9
geschieht unmerklich und ist unvermeidbar. Mythisches Bekenntnis
wird zur Weltschau, zur Weltanschauung, schließlich zur Weltgestaltung.
Alfred Rosenbergs „Mythus des 20, Jahrhunderts“ lässt grüßen: Der
politisch Unzufriedene wird von einem „Bevollmächtigten“ zur inneren
„Ein-Sicht“ gebracht, so dass er die „wahren“ Probleme erkennen und
lösen kann.
Phantasievolle Berichte und Verschwörungstheorien können so manchen Leichtgläubigen in gefährlicher Weise irreführen. Der Grund,
weshalb die Faszination leicht fällt, liegt letztlich in der geistigen Großwetterlage unserer Zeit. Phantasten haben gute Chancen, Gehör und
Anhänger zu finden. Misstrauen gegen Fortschritt, Wissenschaft und
Zivilisation einerseits und Sehnsucht nach der heilen Welt andererseits
führen zu simplen extremistischen Weltdeutungen. Wo alles heillos
kompliziert geworden ist und zusammenzubrechen droht, dort haben
reduzierte, eingängige und radikale Programme Zulauf. Wo sich solche
Programme regressiv gebärden und den Konnex mit einer in angeblich
ferne Zeiten zurückreichenden Tradition herstellen, wo sie schließlich
den Leitgedanken eines esoterischen Übermenschen als Trostpflaster
oder Adelsprädikat dazugeben, sind sie kaum mehr zu schlagen.
Hinzu kommt die einfache Handhabung, Botschaften lawinenartig zu
verbreiten und auf einen „bürgernahen“ Schlagwortstil zu reduzieren.
Die Bild- und Hörkultur ist dabei, einen neuen Analphabetismus zu
schaffen. Der hatte bereits vor 1933 (ideologieübergreifend) begonnen.
Sein Siegeszug ist offenbar nicht aufzuhalten. Die plakative Propaganda
der Web-Präsenz und die allgegenwärtige verbale Verve von Hass und
Häme, wie sie heute asoziale Medien zeigen, sind freilich eine neue Dimension. Für Differenzierungen ist nirgendwo mehr Platz und Zeit.
Es ist hier nicht der Ort, alle Namen und Mitgliederzahlen aus dem
völkisch-religiösen und rechtsextremistischen Spektrum und deren ideologische Patenschaften im Bereich der therapeutischen und kulturellen, der ökologischen und ökonomischen „Alternativen“ aufzuzählen.
In diesem Buch soll der Hinweis auf ihre Virulenz, auf ihre wachsende
Effizienz und auf die Notwendigkeit aufklärerischer Arbeit genügen.
10
Die Systematisierung und sorgfältige Etikettierung der hier und heute
tätigen politischen Bünde, Rotten, Zirkel, Sekten, Weltanschauungsgemeinschaften, extremistischen Bewegungen etc. wäre zwar wichtig (z.
B. für den Verfassungsschutz), ist aber erfahrungsgemäß doch eine wenig hilfreiche Fleißaufgabe, denn solche Bemühungen erreichen selten
die Öffentlichkeit.
Udo Schuster hat die Beiträge, die für die gemeinsamen Fachtagungen
der „Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V.“ und der „Bayerischen Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise e.V.“ verfasst wurden, für den vorliegenden Band
zusammengestellt. Sie geben einen guten Einblick in die aktuelle Szene.
Die Auswahl ist bunt und reichhaltig genug, um erahnen zu können,
wie breit das Spektrum ist. Angesichts des „Panoptikums“, das sich
heute einem Suchenden bietet, ist es sicher hilfreich, kritische Stichworte und Kennzeichnungen zu liefern. Dafür sei Udo Schuster vielmals
gedankt!
11
12
DECKMANTEL ESOTERIK UND SPIRITUALITÄT - DAS
INTERNET ALS PLATTFORM FÜR RASSISMUS UND
WELTANSCHAULICHEN EXTREMISMUS
Udo Schuster
Esoterischer Rassismus
Wo ist wohl nachstehender Beitrag erschienen? Ist das ein Beitrag aus
einer rechtsextremen Neonazi-Publikation wie „Nationalzeitung“ oder
„Deutsche Stimme“ der NPD?
„Sie bedenken jedoch nicht, dass es ihr und ihrer Mitmenschen Verdienst im betreffenden zivilisierten Land ist, dass es ihnen besser ergeht – eben darum, weil sie in
erster Linie ihre Bevölkerungszahl kaum mehr anwachsen lassen bzw. niedrig halten; in vernünftigerer Form als jene Menschen in den sogenannten
hilfsbedürftigen oder unterentwickelten Ländern, die sich bedenkenlos-verantwortungslos wie Meerschweinchen und Karnickel
vermehren, um dann zu hungern und nach Hilfe zu schreien, weil ihnen wirk-
liche Hilfe in Form einer Geburtenkontrolle fehlt.“ 1
Weit gefehlt! „Kampf der Überbevölkerung“ lautet der Titel einer Publikation der FIGU, der „Freie(n) Interessengemeinschaft für Grenzund Geisteswissenschaften und Ufologiestudien“. Dort bekommen
auch Hilfsorganisationen ihr Fett weg, denn „Wo überall nur möglich, spenden die Falschhumanisten Gut und Gelder für ‹Brot für alle› und ‹Hunger in der
Welt› usw., ohne damit jedoch wirkliche Hilfe zu leisten, denn gerade damit pfuschen sie der Vernunft und der Natur ins Handwerk, die sich letztlich mit Hungersnöten gegen die Überbevölkerung wehrt.“ 2. Die
FIGU ist nur ein Beispiel dafür, dass es in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik eine breite rechtsextreme Esoterikszene gibt, die längst keine unbedeutende Randerscheinung mehr ist. Sie hat weite Verbreitung
auch in Kreise hinein gefunden, die jegliche Einordnung in den Bereich
1
http://www.figu.org/ch/ueberbevoelkerung/kampf-der-ueberbevoelkerung/kampf-derueberbevoelkerung?page=0,2 (Seite 3-abgerufen 13.2.2016)-Hervorhebung bei diesem und den folgenden
Zitaten durch den Autor
2
a.a.O.
13
des Rechtsextremismus weit von sich weisen würden. Dabei nutzt sie
über die neuen Kommunikationsmedien Internet und Social Media
breitgefächerte und unkomplizierte Verbreitungsmöglichkeiten. Auf
diesem Wege werden die braune esoterische Szene und deren rechtsextremes Gedankengut in Kreisen gesellschaftsfähig, in denen man es
eher nicht vermutet.
Während rechtsextreme Parteien wie NPD, DVU und Republikaner seit
Jahren in den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder
auftauchten, wird der Bereich des esoterischen Rechtsextremismus und
Rassismus so gut wie nicht beachtet, obwohl dieser wesentlich breitere
Bevölkerungsschichten als die alten und neuen Nazis anspricht.
Der Esoterikmarkt stellt einen durchaus ernstzunehmenden Wirtschaftsfaktor dar. Gerade mit esoterischer Literatur werden heute Milliardenumsätze getätigt. Experten zufolge ist etwa ein Viertel davon
rechtsextremem und rassistischem Gedankengut gegenüber offen eingestellt. Noch mehr aber sind diese antidemokratischen Ideen im Internet verbreitet.3
Die Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V. hat sich schon frühzeitig und immer wieder mit
diesem Thema kritisch auseinandergesetzt. So machten die früheren
Vorsitzenden Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack und Manfred Ach bereits Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre als eine der Ersten auf
die Herausforderungen und Gefahren durch Blut-Boden-Mythen und
rechte Rassereligionen aufmerksam. Dabei gingen beide einen anderen
Weg als die meisten Analytiker der rechten Szene. Sie verwiesen auf
einen bisher unbeachteten Nährboden: Die religiösen Grundlagen
rechtsextremer und rassistischer Ideologien. Auch der Nationalsozialis-
3
http://www.welt.de/print/die_welt/wirtschaft/article13189158/Mit-Esoterik-laesst-sich-reales-Geldmachen.html
Der Heidelberger Zukunftsforscher Eike Wenzel beziffert den Umsatz, der mit Esoterik in Deutschland gemacht wird, auf bis zu 25 Milliarden Euro im Jahr und schätzt, dass er in zehn Jahren bei 35 Milliarden liegen
wird.
Der österreichische Esoterikkritiker und Sachbuchautor Roman Schweidlenka schätzt, dass ein Viertel der esoterischen Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum rechtsextremistisch eingestellt sei. Schweidlenka spricht
bereits von „arischer Esoterik“.
14
mus speiste sich aus einem damals verbreiteten Neogermanismus, dessen Anfänge bis in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichten.4
Bei der FIGU werden plumpe rassistische Ressentiments mit dubiosen
Verschwörungstheorien zu einem Ideologiebrei vermengt, der nicht nur
an die ideologischen Grundlagen neonazistischer Organisationen erinnert. Vieles von dem, was dieser Ufologen-Kult von sich gibt, wird
heute in menschenverachtenden Postings zur aktuellen Flüchtlingskrise
verbreitet. So verkündet die FIGU unter der Rubrik „Kampf der Überbevölkerung“:
„Die Flüchtlinge jener Staaten, in denen ethnische Probleme, Krieg, Mord und Totschlag sowie Verfolgung aller Art usw. herrschen, fallen mehr und mehr in die bessergestellten Staaten ein und setzen sich in diesen fest – sehr oft mit Lügen und
durch kriminelle Machenschaften. Sie überfremden mehr und mehr die bessergestellten Staaten der Welt, in die sie sehr oft nur auf illegale Weise einzureisen vermögen.
Und die Überfremdung, die aus all diesen Flüchtlingen entsteht, bringt neue Probleme mit sich, die sozialer, wirtschaftlicher, politischer wie auch religiöser und ethnischer Struktur sind. Das Sozialwesen beginnt langsam aber sicher zusammenzubrechen, die Lebenserhaltungskosten und Wohnungsmieten steigen höher und höher,
die Wohnungsnot wird grösser und grösser, und die Flüchtlinge vermischen
sich mit den Einheimischen und löschen langsam aber sicher die
eigene Linie des einheimischen Volkes aus, indem Mischehen
gebildet werden, aus denen wiederum Mischlings-Nachkommen
entstehen, und zwar in einer Zahl und Masse, die nicht mehr zu
verantworten ist. … Werden aber massenweise durch die das
Land überfremdenden Flüchtlinge Mischehen gebildet und
Mischnachkommen gezeugt, dann entsteht in kurzer Zeit ein
neues Mischlingsrassenvolk, durch das das ursprünglich einheimische Volk verdrängt und ausgerottet wird … Und all diese Flüchtlinge der verschiedensten Gattungen fliehen aus ihren Heimatländern, um in bessergestellten Staaten Zuflucht zu suchen, wodurch diese unter Überfremdung zu leiden
beginnen, mit all ihren bösartigen und staatsgefährdenden sowie volksgefährdenden
Folgen.“ 5
4
5
so z. B. Friedrich Wilhelm Haack: Wotans Wiederkehr Blut-, Boden- und Rasse-Religion; Claudius Verlag München 1981; ders.: Blut-Mythos und Rasse-Religion. Neugermanische und deutsch-völkische Religiosität, Münchner Reihe, epv, München 1983 oder Manfred Ach / Clemens Pentrop: Hitlers ‚Religion‘. Pseudoreligiöse Elemente im nationalsozialistischen Sprachgebrauch, ARW, Irmin-Edition Nr. 3, 6. Auflage München 2001
http://www.figu.org/ch/ueberbevoelkerung/kampf-der-ueberbevoelkerung/kampf-derueberbevoelkerung?page=0,15 (Seite 16 + 17) (Seite 3-abgerufen 13.2.2016)
15
Das kommt einem doch bekannt vor! Tönte Goebbels nicht in der
gleichen Weise?
Dass derartig krudes Gedankengut nicht nur in den Hirnen kurzgeschorener Skins und Neonazis kreist, sondern Vergleichbares von Parlamentariern und der Führungsebene einer sich selbst demokratisch
nennenden Partei - nämlich dem Thüringer AfD-Fraktionschef Björn
Höcke - öffentlich geäußert wird, muss besorgt machen: Er gibt von
sich:
„ ... Der Bevölkerungsüberschuss Afrikas beträgt etwa 30 Millionen Menschen im
Jahr. Solange wir bereit sind, diesen Bevölkerungsüberschuss auf-
zunehmen, wird sich am Reproduktionsverhalten der Afrikaner
nichts ändern ... Die Länder Afrikas, sie brauchen die europäische Grenze, um
zu einer ökologisch nachhaltigen Bevölkerungspolitik zu finden. […] In Afrika
herrscht nämlich die sogenannte r-Strategie vor, die auf eine
möglichst hohe Wachstumsrate abzielt. Dort dominiert der sogenannte Ausbreitungstyp. Und in Europa verfolgt man überwiegend die KStrategie, die die Kapazität des Lebensraums optimal ausnutzen möchte. Hier lebt
der Platzhaltertyp. Die Evolution hat Afrika und Europa vereinfacht gesagt zwei
unterschiedliche Reproduktionsstrategien beschert – sehr gut nachvollziehbar für jeden Biologen …“ .6
Bei der esoterischen Ufologen-Gruppe FIGU und ihrem „Guru“ Eduard Albert (Billy) Meier ist darüber hinaus ein massiver Antisemitismus
manifestiert. So werden Hebräer als „Zigeuner, Abschaum und Auswurf“ tituliert, Hitler wird hingegen als ein „Genie“ angesehen.7 Beispielsweise
wird in einer Unterhaltung Billys mit Semjase (einer Kontaktperson von
den Plejaden) gegen Israel gehetzt: „… Insbesondere bestätigt sich nun auch,
was seit alters her gesagt wurde, dass das israelische Volk ursprünglich niemals
ein eigentliches Volk war, und sein wird, sondern dass es sich bei dieser Masse
Menschen zu uralten Zeiten einzig und allein um eine riesenhafte Gruppe ausgearteter und teils gar verbrecherischer Elemente handelt, die Zeit ihres damaligen Bestehens auf der Erde nur Unfrieden, Falschheit und Krieg stifteten ...
Hervorgegangen aus Ausgestossenen, weil sie sich in keine Ordnung einfügten und
6
Zitiert nach NZZ-Campus; Stoppen wir lügende Politiker! Servan Grüninger 15.12.2015 – 08:37
http://campus.nzz.ch/science-blog/stoppen-wir-luegende-politiker (abgerufen 13.2.2016)
und https://www.youtube.com/watch?v=ezTw3ORSqlQ (Asyl Eine politische Bestandsaufnahme – Höcke
beim IfS HD, 720p ; ab min. 28:22 bis min. 29.59 (abgerufen 13.2.2016)
7
https://www.psiram.com/ge/index.php/FIGU (abgerufen 13.2.2016)
16
verbrecherisch waren, rotteten sie sich in alter Zeit zusammen und bildeten das
Scheinvolk der Hebräer Hebraons, der Zigeuner, die sich grössenwahnsinnig und
aus Selbstsucht und Egoismus ein auserlesenes Volk nannten, das über allen irdischen Völkern eine hocherhobene und beherrschende Stellung einnehmen wollte, wie
dir ja bekannt ist. Du weisst aber auch, dass dieses Scheinvolk über Jahrtausende
sehr lange Zeit hinweg seine Ziele stets erreichte, jedoch immer nur durch Mord,
Brandschatzung, Freundschaftsverrat und Intrigen usw., worin die Israelis, wie sie
heute genannt werden, wahrliche Meister geworden sind, die nun sogar unter den
Augen der Weltöffentlichkeit und gar unter deren Beifall schonungslos und ungehemmt die schlimmsten Verbrechen begehen dürfen. worin sie, die Urvorfahren der heutigen Israelis, wahrliche Meister waren. … Hebraer
Hebraon aber bedeutet <abgestossener oder ausgestossener Abschaum>...“ 8
Esoterischer Antisemitismus und Rassismus sind jedoch kein Phänomen der FIGU alleine. Auch bei einer Neuoffenbarungsbewegung wie
dem Universellen Leben finden sich zweifelhafte Töne, die antisemitisches Gedankengut vermuten lassen, was die Gruppe allerdings immer
weit von sich weist.
„Prüft euch und euer Leben, ob ihr nicht in kleinen und in großen Dingen ähnlich
denkt, redet und handelt wie die Juden der damaligen Zeit. Auf diese Weise werden
viele zum Judas. Sie werden dafür zu tragen haben – wenn nicht mehr in dieser
Einverleibung, dann in den Seelenreichen oder in einer der nächsten Fleischwerdungen; denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Seit nahezu 2000 Jahren
ernten die Juden von einer Fleischwerdung zur anderen, was sie
damals und auch in ihren weiteren Einverleibungen gesät haben
– bis sie ihren Erlöser an- und aufnehmen und das bereuen, was
sie verursacht haben. 9 „Das Reich Gottes auf Erden wird nicht
dort sein, wo die Ichsucht der halsstarrigen Juden regiert und
jener Menschen, die Mich nur dem Wort nach annehmen.“ 10
8
9
10
http://www.futureofmankind.co.uk/Billy_Meier/gaiaguys/meierv2p406-410,v4p55-58,98-101X.htm
(Plejadisch-Plejarische Kontactberichte, Gespräche, Block 4 Einhudertsechsunddreissgster Kontact Dienstag,
14. Oktober 1980, 23:41 h Seiten 55-58 & 98-101 - Ziffern 103 – 105; 368 - Deutscher Text –
Hervorhebungen sind im Original vorhanden) (abgerufen 13.2.2016)
Gabriele Wittek, in: Das ist mein Wort, Universelles Leben e.V., 2. Auflage 1993 http://www.daswort.com/20/de/media/s007de_text.pdf DocPage 734 (734 von 1102) (abgerufen 21.09.2008) und
http://www.das-wort.com/deutsch/downloads/das-ist-mein-wort---alpha-undomega---gabriele.pdf
(abgerufen 31.05.2010), Seite 734 von 1102 (online aktuell nicht mehr abrufbar) Hervorhebungen durch den
Autor
a.a.O. http://www.das-wort.com/deutsch/downloads/das-ist-mein-wort---alpha-undomega---gabriele.pdf
(Doc Page 819) (abgerufen 31.05.2010), Seite 819 von 1102 (online aktuell nicht mehr abrufbar)
Hervorhebungen durch den Autor
17
Rassistisches kann man auch bei Rudolf Steiner, dem Stammvater der
Anthroposophie, lesen.
„Daher ist beim Neger namentlich alles das, was mit dem Körper und mit dem
Stoffwechsel zusammenhängt, lebhaft ausgebildet. Er hat, wie man sagt, ein starkes
Triebleben, Instinktleben. Der Neger hat also ein starkes Triebleben. Und weil er
eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Körperoberfläche in seiner
Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von
der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. Im Neger wird da
drinnen fortwährend richtig gekocht, und dasjenige, was dieses Feuer schürt, das ist
das Hinterhirn. Manchmal wirft die Einrichtung des Menschen noch solche Nebenprodukte ab. Das kann man gerade beim Neger sehen. Der Neger hat nicht nur
dieses Kochen in seinem Organismus, sondern er hat auch noch ein furchtbar schlaues und aufmerksames Auge. Er guckt schlau und sehr aufmerksam.“ Oder „Der
Neger ist viel mehr auf Rennen und auf die äußere Bewegung aus, die von den
Trieben beherrscht ist. Der Asiate, der Gelbe, der entwickelt mehr ein innerliches
Traumleben, daher die ganze asiatische Zivilisation dieses Träumerische hat. Also
er ist nicht mehr so in sich bloß lebend, sondern er nimmt schon vom Weltenall etwas auf. Und daher kommt es, daß die Asiaten so wunderschöne Dichtungen über
das ganze Weltenall haben. Der Neger hat das nicht. Der nimmt alles in seinen
Stoffwechsel herein und eigentlich verdaut er nur das Weltenall. Der Asiate eratmet
es sich, hat es in seiner Blutzirkulation. Daher kann er es auch in Worten von sich
geben.“ 11
Nach wie vor findet man diese und andere einschlägige Texte im Internet. So ist Stephan Leber, der hauptberuflich in der Ausbildung von
Waldorflehrern und im Vorstand des Bundes freier Waldorfschulen
tätig war, davon überzeugt, dass sich Menschen in Rassen sortieren
lassen: „ ‚Dass es verschiedene konstitutionelle Merkmale einerseits zwischen den
Rassen gibt, andererseits dann aber auch innerhalb der einzelnen Rassen, lehrt die
schlichte Anschauung‘, schreibt er in dem Standardwerk ‚Die Menschenkunde der
Waldorfpädagogik‘ “.12
11
12
http://anthrowiki.at/Rassen bzw. http://wiki.anthroposophie.net/Rassen#Die_7_atlantischen_Rassen
(abgerufen 13.2.2016)
Leber, Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik. Anthropologische Grundlagen der Erziehung des Kindes
und Jugendlichen, Stuttgart 1993, S.312 zitiert nach
Peter Bierl, Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die
Waldorfpädagogik
http://www.sektenwatch.de/drupal/sites/default/files/files/anthroposohie_wurzelrassen.pdf
18
Die Beispiele ließen sich noch fortsetzen, dies würde aber den Rahmen
dieses Beitrages sprengen.
Karma und der Holocaust
Besonders perfide sind Versuche, mittels karmischer Deutung des Holocaust den Opfern eine Allein- oder Mitschuld zu geben.
So stößt der Besucher auf der Seite www.esoterikmesse.de der ESOTeam Messe- und Kongreß GmbH aus München, die entsprechende
Messen bundesweit veranstaltet, unter dem Lexikoneintrag „Karma“
auf üble Thesen zum Thema Holocaust. In einer „Unterhaltung“ zwischen einem Devanando und Jesus erläutert letzterer angeblich die Zusammenhänge zwischen Karma und Judenvernichtung:
„ ... Devanando: Wenn die Spanier die Azteken abschlachten, die Nordamerikaner die Indianer, Hitler und die Nazis die Juden, Stalin und die Kommunisten die
Systemgegner, die Türken die Armenier oder die Inquisition die Einwohner einer
ganzen Stadt mit Katharern, um nur wenige Beispiele zu geben, dann macht es
den Menschen Schwierigkeiten, hier die Gerechtigkeit des Karmagesetzes zu erkennen.
...
Jesus: Trotzdem bitte ich euch, die Augen nicht aus Angst, Hass oder Überheblichkeit zu verschließen. Was in diesen und ähnlichen Fällen geschehen ist, solltet ihr
auf keinen Fall verharmlosen. Es kommt aber auch nicht auf die absoluten Zahlen an. Und es besteht überhaupt kein Grund, warum das Karmagesetz hier nicht greifen sollte.
…
Jesus: Ja, aber auch die Gruppe darf nicht übersehen werden. Ein bekannter Jude
und Autor zweier Bücher, die sich unter anderem mit dem Holocaust befassen,
Rabbi Yonassan Gershom, lehrt, dass es so etwas wie eine "jüdische
Seele" gibt; d. h. Seelen von Juden inkarnieren meistens wieder
als Juden. Er betreut Menschen, die in ihrem früheren Leben in einem der Konzentrationslager der Nazis umkamen. Er ist unter anderem Reinkarnationstherapeut. Die Gruppe als Ganzes hat somit ein Karma, das sich jedoch nicht
bei allen Mitgliedern gleichermaßen auswirkt. Deswegen sind auch immer eine bestimmte Anzahl gar nicht dabei, andere nur Zuschauer.
19
Wenn nun die Gruppe ein schweres Schicksal erleidet, dann nicht
deshalb, weil hier Bösewichter "ein ganzes Volk" zerstören wollen, sondern weil dieses Vernichtungserlebnis durch frühere Taten im Namen der Gruppe herausgefordert wird. Wir wollen hier
nicht spekulieren, welche Taten das waren - es würde nur Proteste auslösen und das
Verständnis der subtilen Zusammenhänge behindern.“ 13
Dies ist an Zynismus kaum mehr zu überbieten. Hinter Devanando
verbirgt sich Dr. Ottfried Weise und seine Organisation TABULA
SMARAGDINA, die Bewusstseinserweiterung und -entfaltung verspricht.
Auch krude Verschwörungstheorien trifft man hier an, so beispielsweise auf der Seite von „gallactic channelings“ eine „ ... informelle internationale Gruppe von Übersetzern. Wir übersetzen Channelings, Interviews und
andere Zeitdokumente, die Licht in diese Welt bringen, d. h. das spirituelle Bewusstsein der Öffentlichkeit anheben.“
„11. Eine der Wahrheiten, die dann offenbar werden ist, dass der Zionismus,
der aus dunklen Absichten heraus zu einem Synonym mit dem
Judentum gemacht wurde, in Wahrheit eine kriegerische politische Bewegung innerhalb der Illuminati ist, und dass seit über sechzig
Jahren sein Ziel ist, einen Konflikt und eine Instabilität im ganzen mittleren Osten
zu bilden. Zionisten, die einen großen Einfluss auf die Regierungen und die Streitkräfte der Großmächte ausüben, repräsentieren NICHT die jüdische Bevölkerung
Israels oder sonst wo auf der Welt. Und wie alle Fraktionen der Illumi-
nati, hatten sie sich dem Ziel der globalen Herrschaft durch die
Kabale verschrieben.
12. Obwohl die Semiten verschiedener nationaler und religiöser Herkunft sind, waren die Zionisten darin erfolgreich, viele davon zu überzeugen
dass "Antisemitismus" das negative Vorurteil gegenüber den Juden ist und bedeutet, gegen das Selbstverteidigungs-Recht Israels vor "seinen Feinden" zu sein. Durch diese krasse Verzerrung der
Tatsachen, konnten sie sich nicht nur ein weltweites Wohlwollen sichern, sondern
auch massive finanzielle Unterstützungen von seinen Alliierten erhalten, insbesondere von den Vereinigten Staaten, was alles dabei half, die großen Gewin-
13
http://esoterikmesse.de/esoterikmesse/cms/58.51.Lexikoneintrag+%5C%22Karma%5C%22.html (abgerufen
13.2.2016) Hervorhebungen durch den Autor
20
ne der Illuminati aus ihrer industriell-militärischen-Maschinerie
zu steigern.“ 14
Ähnlich lässt sich auch Francis Kaderli alias Gaurahari auf seiner „ersten deutschsprachigen Bahkti Yoga Seite“ aus. Kaderli ist ehemaliger
Anhänger der ISCON (Hare-Krishna-Bewegung), von der er sich im
Rahmen der Auseinandersetzung innerhalb der Gruppe Mitte der 80er
Jahre trennte. Für ihn heißt „«Jude zu sein» ist nicht im geringsten damit
gleichzusetzen, «schlechtes Karma» zu haben, wenngleich eine Vielzahl von
Lebewesen zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Verkörperung als Jude eine Rückwirkung aus vergangenem Tun zugefallen ist, die sich historisch betrachtet als «Holocaust» präsentiert.
… Doch unabhängig von solch grossen geschichtsträchtigen Ereignissen, geniessen
oder erleiden alle Lebewesen - überall und zu jeder Zeit - die Folgen ihres eigenen
Tuns. Dies entspricht dem eigentlichen Verständnis des Karma-Gesetzes. Es mag
vorkommen, dass von höherer Seite her, bestimmte Seelen mit
ähnlichem Karma so zusammengeführt werden, dass ein Ereignis wie der Holocaust stattfinden kann, um die Menschen etwas aufzurütteln, um sie auf festgefahrene Ungerechtigkeiten unausweichlich hinzuweisen.
Das hat aber nie etwas mit der Rasse oder der Religionszugehörigkeit zu tun. ...
Die Nazis waren in dem Sinne Erfüllungsgehilfen, als sich durch
sie das Karma ausgewirkt hat, das von Gott (als innerer Lenker) nur «zugeführt», jedoch nicht «verursacht» worden war. ...“ 15
Dies ist für ihn auch der Grund den wegen Volksverhetzung verurteilten Trutz Hardo zu verteidigen, der Konzentrationslager schon mal als
„Schulen der Demut“ bezeichnet, wo demjenigen, der „in früheren Leben
arrogant, hochfahrend war und sich etwas Besseres als andere dünkte ... durch diese
harte Unterjochungsschule Gelegenheit gegeben [wird], jene karmischen Vergehen gemäß seinen individuellen Voraussetzungen wieder auszugleichen.“ 16
Auch Anhänger des Buddhismus, wie der Zen-Buddhist David Loy
(nach Aussagen der Homepage buddhanetz.org „einer der profiliertesten
14
http://galacticchannelings.com/deutsch/matthew01-03-12.html (abgerufen 13.2.2016) Hervorhebungen durch
den Autor
15
www.bhakti-yoga.ch/FAQ/Karma/index.html (abgerufen 13.2.2016) Hervorhebungen durch den Autor
16
Trutz Hardo: Jedem das Seine, zitiert nach Roman Schweidlenka, „Rechte Energie in esoterischem Zeitgeist“,
veröffentlicht unter http://www.sektenwatch.de/drupal/sites/default/files/files/2003.pdf (Tagungsbericht der
Elterninitiative/ADK 2003)
21
buddhistischen Denker aus den USA“ und heute Universitätsdozent in
Japan) versteigen sich zu abstrusen Thesen:
„Ich will keinen von diesen Übeltätern verteidigen, sondern ihre Absichten erklären.
Wie hat das Problem mit den Juden ausgesehen, das eine "Endlösung" erforderlich machte? Die Erde konnte für die "arische
Rasse" nur gereinigt werden, indem man die Juden, die "unreinen Schädlinge", auslöschte. Stalin musste die Kulaken beseitigen, um
seine ideale Gesellschaft von Kollektivbauern zu verwirklichen. Beide versuchten,
diese Welt zu vervollkommnen, indem sie ihre Unreinheiten entfernten. Die Welt
kann nur gut gemacht werden, indem man ihre schlechten Elemente zerstört. Doch paradoxerweise war einer der Hauptgründe für das Böse
in dieser Welt immer der menschliche Versuch, das Böse auszurotten.“ 17
Loy kann seine Ansichten ungehindert über eine Seite „Engagierter
Buddhismus“ verbreiten, die ihrer Angabe gemäß „über den weltweiten
sozial, humanitär, gewaltfrei und ökologisch engagierten Buddhismus informieren“
will. Die Betreiber der Seite müssen sich fragen lassen, wie sie Loys
Ansichten mit ihren ansonsten hehren Zielen vereinbaren wollen.
Nicht minder abstoßend und niederträchtig agiert die Seite „Esoterik
Wissensbase“. Sie gibt vor, die Welt spirituell zu erklären. Szenetypische
Artikel wie „Feng Shui Tipp Loslassen“, „Meditationsrichtungen“, „Die Erinnerung an frühere Leben“ oder „Rückführungen“ lassen nicht vermuten, was
sich sonst noch hinter diesem Angebot verbirgt. Unter dem auf den
ersten Blick eher unverdächtigen Titel „Außerirdische Menschenzucht neuere Geschichte“ wird Hetze gegen Juden betrieben. „Zunächst mal, jeder
weiß es, die Juden sind das angeblich ‚auserwählte‘ Volk. Zu was ausgewählt ?
Etwa zu besonderer Zucht ? Wird die jüdische Rasse besonders zur
Zucht benutzt? Die Antwort ist JA, ich will das gleich näher
erläutern.“ Doch es kommt noch schlimmer. Die übliche Mär: Jüdische Familien regieren die Welt. „Dass Leute wie Merkel oder der
anscheinend sogar schwule Obama nur die Marionetten dieser
geheimen Regierung sind, auch darüber sind sich viele Menschen einig, die
in den letzten Jahren aufmerksam beobachtet haben, was in diesen Zirkeln vor sich
gegangen ist.“ Und dann wird es richtig übel. „Doch zurück in die Zeit des
zweiten Weltkrieges. Viele unabhängigen Historiker haben längst aufgedeckt und
gezeigt, dass auch Adolf Hitler von diesem jüdischen Finanzadel
17
http://www.buddhanetz.org/texte/krieg.htm (abgerufen 13.2.2016) Hervorhebungen durch den Autor
22
gelenkt wurde. Adolf Hitler war sogar verwandt mit den Rothschilds, wie der
österreichische Kanzler Dollfuß ermittelt hat ... Der geheime Auftrag, den
Adolf Hitler verfolgte, sollte offensichtlich die jüdische Rasse von
den schwächeren Juden befreien, das ist im Nachhinein erkennbar, denn
genau dies ist geschehen, und zwar gnadenlos in den KZs, beziehungsweise schon zuvor, denn die intelligenteren Juden haben natürlich Wege gefunden, dem KZ-Geschehen zu entrinnen. Viele, die schlau waren, sind rechtzeitig in sichere Länder geflüchtet. Das ganze Nazigeschehen war also völlig offensichtlich
ein einziges Zuchtauswahlverfahren am jüdischen Volk.“ 18
Betreiber dieser Hetzseite ist der selbsternannte Hellseher Andreas
Rebmann aus Waldenburg. Über 21.000 Besucher jeden Monat und
monatliche 130.000 Seitenimpressionen zeigen die entsprechende beachtliche Resonanz eines derartigen Anbieters.
Verschwörungstheorien feiern fröhliche Urständ
Ein weiterer besorgniserregender Bereich sind krude Verschwörungstheorien aller Art, die über das Netz verbreitet werden und immer
mehr ausufern.
Seit Jahrzehnten ist damit die rechte Politsekte EAP/Bürgerrechtsbewegung Solidarität unterwegs. Sie fabulierte schon 2001 darüber, ob
„Israelische Spione in Putsch vom 11. September verwickelt?“ seien.19 Es liege
offen zutage, wie der israelische Ministerpräsident „und das israelische Militär systematisch auf diesen Krieg hinarbeiten, der zugleich den ‚Zusammenprall
der Zivilisationen‘ auslösen würde.“ Noch abstruser ist die Theorie „KennedyMord ging von England aus“, die die EAP schon 1994 verbreitete.20
Nimmt man von den wirren Thesen von Lyndon LaRouche und seiner
Ehefrau Helga kaum Notiz, so ist dies bei anderen Akteuren jedoch
nicht der Fall.
Das entsprechende Wiki METAPEDIA, das sich selbst als alternative Enzyklopädie vorrangig für Kultur, Philosophie, Wissenschaft, Politik und
18
http://www.spirituelle.info/artikel.php?id=339 (abgerufen 18.2.2016) Hervorhebungen durch den Autor
19
http://www.solidaritaet.com/neuesol/2001/51/amerika.htm (abgerufen 14.2.2016)
20
http://www.solidaritaet.com/neuesol/aktuelle/krise/kennedy.htm (abgerufen 14.2.2016)
23
Geschichte bezeichnet, bietet Verschwörungsideologien aller Art eine
Plattform.21 Allein über 58.000 deutsche Artikel und 194.000 Artikel in
anderen Sprachen behandeln entsprechende Themen. Unter dem Begriff „Neue Weltordnung“ werden Erläuterungen über „Die Agenda der
NWO-Verbrecher-Elite“ oder „Adolf Hitler als Überwinder der ‚Neuen Weltordnung‘ “ geboten. Filmbeiträge mit Hitler-Reden oder vom „Regentreff 2013“ über „100 Jahre Federal Reserve – Der Weg in die NWO-Diktatur“, „Die Neue Weltordnung – Rothschilds Illuminati“ oder “Die geheime Weltregierung – Bester Vortrag aller Zeiten“ ergänzen den entsprechenden Eintrag.22 Hochprofessionell aufgemacht, strahlt die Seite auf den ersten
Blick auf den unvoreingenommenen Betrachter eine gewisse Seriosität
aus. Ein Umstand, der im Netz bei derartigen Seiten zunehmend zu
beobachten ist. Weg von Buchstabenwüsten und mit dem Setzkasten
zusammengeschusterten Homepages hin zu professionell aufgemachten Seiten, die kommerziellen Angeboten etablierter Medien in nichts
nachstehen.
Eine besonders widerwärtige Form von medizinischen Verschwörungstheorien verbreiten Ryke Geerd Hamer und seine „Germanische Neue
Medizin“ im Netz. AIDS, Chemotherapie und die Implantation eines
angeblichen Todeschips würden von den Juden genutzt, um die nichtjüdische Bevölkerung zu dezimieren.23
„Interview zwischen Dr. Hamer und Helmut Pilhar“ (Anm. d. Verfassers:
Pilhar ist der Vater des Mädchens Olivia, das durch die Nichtbehandlung ihrer Krebserkrankung fast umgekommen wäre, trotzdem ist er
weiterhin einer der führenden Propagandisten Hamers):
„ ... Pilhar: Geerd, Du hast mit Deinem letzten Brief die Vermutung ausgedrückt, dass die flächendeckende Impferei nicht dazu da ist, eine harmlose Sommergrippe zu bekämpfen, genannt ‚Schweinegrippe‘, sondern dass eigentlich eine flächendeckende Chipeinpflanzung der Bevölkerung geplant ist.
Hamer: Ja, Helmut, die ganze Sache ist so unglaublich, mit welcher Gewalt man
21
http://de.metapedia.org/wiki/Hauptseite (abgerufen 14.2.2016)
22
http://de.metapedia.org/wiki/Neue_Weltordnung (abgerufen 14.2.2016)
23
http://drrykegeerdhamer.com/de/index.php?option=com_content&task=view&id=304&Itemid=61v
(abgerufen 14.2.2016)
24
eine Zwangsimpfung gegen eine lächerliche Sommergrippe durchdrücken will, dass
man sich nur an den Kopf fasst ...
Pilhar: Wenn jeder Mensch gechipt wäre, dann wäre die absolute Weltherrschaft für eine religiöse Gruppe augenblicklich installiert und mit
dem Todeschip definitiv bzw. endgültig.
Hamer: Genauso ist es auch. Jeden Kritiker des Weltherrschaftssystems kann man innerhalb einer Stunde mit dem Todeschip ausknipsen. Mit Chemo und Morphium hat man in den letzten 28 Jahren seit dem
Boykott gegen die Germanische Neue Medizin 2,5 Milliarden Menschen auf dieser
Erde umgebracht. Mit dem Todeschip geht das natürlich viel, viel schneller. Nicht
nur, dass man die Menschen unauffällig umbringen kann, so daß ein natürlicher
Tod vorgetäuscht wird (Herzinfarkt, Hitzschlag, Schlaganfall, etc.), sondern man
kann auch künstlich Epidemien vortäuschen, wie man das ja jetzt schon mit viel
geringeren Zahlen machen kann: In Mexiko sind 3 Schweine verendet und angeblich ein Kind an Schweinegrippe gestorben. Daraus hat man eine weltweite Pandemie erlogen.…
Pilhar: Stellen wir uns einmal vor, alle Menschen der Welt tragen zwangsweise den
Todeschip in sich. Dann ist ja keiner einen einzigen Tag seines Lebens sicher. Und
wer entscheidet dann über Tod und Leben? Der Mossad, oder
das Synhedrium der B’nai B’rith? Ich verstehe nicht, dass die Menschen zu
schlafen scheinen und dass die sich sonst so kritisch gerierenden Zeitschriften, Fernsehen, Internetplattformen … darüber gar nichts wissen wollen oder so tun als ob
ihnen das völlig fern läge.
Hamer: War es nicht mit der GNM genauso? … Man findet auch keine
einzige jüdische Chemoleiche.
Pilhar: Ja, das ist wirklich sehr seltsam. Aber wenn man das System begriffen hat,
dann versteht man das sehr gut. Das ist eine riesige weltweite Bevölkerungsdezimierungsaktion, kriminellster Art, bei der am Ende nur
die Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft überleben sollen.“
Und an anderer Stelle 24:
24
http://drrykegeerdhamer.com/de/index.php?option=com_content&task=view&id=327&Itemid=61
(abgerufen 14.2.2016)
Eine detaillierte Darstellung der GNM ist bei: Alma Fathi M.A., „Die ideologischen Hintergründe der
Germanischen Neuen Medizin“ http://www.sektenwatch.de/drupal/sites/default/files/files/gnm.pdf
nachzulesen
25
„ ... Dr. Hamer: Ja, Helmut, das habe ich ja von Anfang an vermutet, daß
alles ein riesiger talmudischer Betrug ist. Und vor 20 Jahren (1989)
hat man auch schon eine Schweinegrippe-Epidemie konstruieren wollen und dabei
damals sogar offen zugegeben, daß man damit mit Hilfe von Chips die
Menschheit dirigieren (und dezimieren?) wolle.
…
Dr. Hamer: Ob den Leuten nicht irgendwann mal was aufgeht? Chemo - mit
98%iger Mortalität, nur für Nichtjuden. Fast alle Juden überleben Krebs
(amtliche Statistik) zu 96,1 %, haben also ohne Chemo und Morphium nur eine
3,9%ige Mortalität.
Aids - AZT auch nur für Nichtjuden. Aids war ebenso ein einziger talmudischer Betrug: Allergietest gegen männliches Smegma = Gleitflüssigkeit
der Vorhaut.
Schweinegrippe (-Todes-Chip) – ebenfalls für Nichtjuden. Und obwohl die Grippe sooo gefährlich ist, verzichten die Juden auf die (Todes-Chip)Grippe-Impfung.
Ing. Pilhar: Ja, klarer geht es jetzt nicht mehr, alles ist Betrug … um nach
Talmud die Nichtjuden auszurotten, damit der Messias kommen
kann.
Dr. Hamer: Nicht zu begreifen, wie ahnungslos und naiv unsere blauäugigen
Deutschen auf die jüdische Propaganda hereinfallen. Und genauso, wie die
Juden die Chemo propagiert haben (für Nichtjuden, versteht
sich) sie aber selbst nicht nehmen, oder bei Aids natürlich kein
AZT nehmen würden, so lassen die sich auch keine (TodesChip)-Schweinegrippe-Injektion verpassen. Das ist alles so abartig,
daß unsere braven Gutdenkmenschen das einfach nicht glauben können, zumal
Bildzeitung und Fernsehen doch von morgens bis abends predigen, wie wichtig die
Impfung ist.“
Nun könnte man dies ja als Spintisieren eines alten verbohrten Mannes
abtun. Doch zum einen erhält Hamer Schützenhilfe aus der Ecke von
Alternativmedizinern wie beispielsweise Rüdiger Dahlke 25, zum anderen hat er nach eigenen Angaben in Deutschland schon über 100.000
Anhänger.26 Eine entsprechende geschlossene Facebook Gruppe hat
25
26
http://www.neue-medizin.net/dahlke-comed.html und http://www.heilpraktikergesetz.de/dalke-hamer.html
(abgerufen 14.2.2016)
Das wirre Weltbild der Germanischen Neuen Medizin --- Panorama 3 ndr;
https://www.youtube.com/watch?v=P8kAMjGh90w Veröffentlicht am 17.04.2015 (abgerufen 14.2.2016)
26
über 6.000 Mitglieder. Als einziger Werbeträger darf auf der Homepage „gnm-wissen.de“ natürlich der einschlägig bekannte KOPP-Verlag
nicht fehlen, der Verschwörungsideologien und rechte Publikationen
aller Art verlegt.
„querdenken-tv“ heißt eine andere Seite, die von Michael Friedrich
Vogt, einem ehemaligen Honorarprofessor am Institut für Journalistik
der Universität Leipzig betrieben wird. Trotz seiner Entlassung an der
Uni führt er den eigentlich nur zeitlich begrenzt verliehenen Professorentitel weiter. Vogt gehört zur Burschenschaft Danubia, die der rechtsextremen Szene zugerechnet wird.27 Ende Januar 2016 schwadroniert
er über „Globalisierung durch Kriege? Globalisierer & Hochfinanz auf dem Weg
zur Weltregierung“.28 Interessant sind seine Werbepartner: hier treffen
sich neben einschlägigen esoterischen und alternativmedizinischen Angeboten auch die „Kent Depesche“ des Scientologen Michael Hinz
alias Michel Kent 29, der in seiner Publikation vice versa wieder für
Vogts querdenken-tv wirbt. Werbung dort auch für Impfgegner Michael Leitner und seinen Film „Wir impfen nicht“ oder Hans Tolzin, der als
Impfgegner, AIDS-Leugner, Ritalingegner und Unterstützer von Hamers GNM bekannt geworden ist.30
Der Sender wirbt für „Elexier-Magazin für die neue Zeit“, nach eigenen
Angaben „eine Plattform für vielfältige, ganzheitlich orientierte Wege, durch die
wir Menschen unsere Lebensfreude, innere Stabilität, Selbstbestimmung, Selbsterkenntnis und überpersönliche Liebe erkennen, stärken und zum Ausdruck bringen
können.“ Dort als Tipp wiederum die Werbung für querdenken-tv.31
Ein weiterer Werbepartner ist „Compact“ von Jürgen Elsässer, eigenen
Angaben zufolge ein „Magazin für Souveränität“, das „Mut zur Wahrheit“
verspricht.
27
http://www.verfassungsschutz.bayern.de/mam/anlagen/160114_vsb_2013.pdf (abgerufen 17.2.2016) Seite 114
28
http://quer-denken.tv/index.php/mfv-tv/2065-globalisierung-durch-kriege-globalisierer-hochfinanz-auf-demweg-zur-weltregierung (abgerufen 14.2.2016)
https://www.psiram.com/ge/index.php/Kent-Depesche und http://www.agpf.de/Archiv/Kent-Depesche.htm
(abgerufen 14.2.2016)
29
30
http://www.sabinehinz.de/pdf/Leseprobe-500.pdf ,
https://www.psiram.com/ge/index.php/Hans_Tolzin#cite_note-2 und
http://web.archive.org/web/20041205031310/http://f24.parsimony.net/forum60117/index.htm (abgerufen
14.2.2016)
31
http://www.elexier-magazin.de/%C3%BCber-uns/ (abgerufen 14.2.2016)
27
„Matrix-Power-Quantenheilung“ wiederum hat sich der „13 Strang
DNS-Aktivierung verschrieben“, die „Schöpferkraft“ statt Ohnmacht
zustande bringen soll. Öffnet man deren Seite, erscheint neben einem
Interview mit Joe Conrad, der wiederum in einem wahren Horrorszenario eine Verschwörung beschreibt, hinter der wie üblich „Illuminati,
Bilderberger, Vatikan, Zionisten, CIA, Rothschilds, CFR, NSA, Trilaterale
Kommission, JASON Society, Skull & Bones etc.“ stecken sollen.
„Alle Völker sollen durch Hunger, Krieg, Entbehrungen, Hass, Neid und Seuchen
zermürbt werden, so dass sie irgendwann eine Lösung der Probleme durch die Illuminaten regelrecht herbei betteln würden. (...) Der Glaube an einen Gott soll ihnen
durch Entsittlichung genommen werden. (...) Die Jugend soll durch eine Erziehung
nach falschen Grundsätzen verdummt, verführt und verdorben werden. So soll
erreicht werden, dass die verzweifelten Staaten mit Freude eine
gemeinsame Regierung für die gesamte Welt annehmen werden,
ohne zu wissen, dass damit die Illuminati die Weltherrschaft bekommen. Wenn sich ein Staat widersetzt, müssen die Nachbarstaaten zum Krieg
gegen ihn angestachelt werden.“ 32 Auch in querdenken-tv kommt Conrad zu
Wort und darf sich über „Mind control als Vollendung des Faschismus: der
geheime Zugriff auf unsere Gehirne und unser Denken“ auslassen.33 Natürlich
dürfen dort und an anderer Stelle Chemtrails nicht fehlen, die „aus der
Verschwörungstheorie-Ecke“ herausgekommen sein sollen.34 Und auch
die Neue Germanische Medizin (GNM) von Ryke Geerd Hamer ist
ebenso vertreten wie Jim Humbles MMS (Miracle-Mineral-Supplement).35 Wer nun glaubt, Vogt betreibe einen randständigen Nischensender, wird eines Besseren belehrt, wenn man den Aussagen Glauben
schenken darf, dass sein Sender im Internet zwischenzeitlich über 90
Millionen Hits im Monatsdurchschnitt hat. Auch wenn diese Zahlen
durch nichts nachgewiesen sind, alleine der entsprechende youtube-
32
33
34
35
Joe Conrad, Entwirrungen, Seite 67 zitiert nach Rainer Fromm, Rechtsradikalismus in der Esoterik:
Verschwörungswahn zwischen grauen Männern, alten Ufos und der schwarzen Sonne
http://www.sektenwatch.de/drupal/sites/default/files/files/verschwoerungstheorien.pdf
http://quer-denken.tv/index.php/mfv-tv/1634-der-geheime-zugriff-auf-unsere-gehirne-und-unser-denken
(abgerufen 14.2.2016)
http://quer-denken.tv/index.php/1450-chemtrails-kommen-aus-der-verschwoerungstheorie-ecke (abgerufen
14.2.2016)
Die seelischen Ursachen der Krankheiten - Fallbeispiele aus der Neuen Medizin http://querdenken.tv/index.php/mfv-tv/554-fallbeispiele-aus-der-neuen-medizin http://quer-denken.tv/index.php/mfvtv/554-fallbeispiele-aus-der-neuen-medizin und https://www.youtube.com/watch?v=-4dtF1nq3dQ (abgerufen
14.2.2016)
28
Kanal verzeichnet seit September 2013 knapp 9,5 Mio. Aufrufe und hat
über 38.000 Abonnenten.
Abgerundet wird das Bild durch die Tatsache, dass Vogt und Elsässer
bei Ivo Saseks Anti-Zensur-Konferenz 2015 auftraten.36 Dort schwadronierte er über „Destabilisierung mittels der Migrationswaffe – Hintergründe,
Drahtzieher & die eigentlichen Pläne“, während sich Elsässer über „Die Flut
– so wird Deutschland abgeschafft“ ausließ. Sasek ist Führer der „Organischen Christus-Generation“, einer ursprünglich fundamentalistischen
Sekte, „die sich hin zu einem Sammelbecken für esoterische Verschwörungstheoretiker mit antisemitischem Einschlag entwickelt hat. Sie ist ein mittlerweile konzernartig ausgebautes religiöses Familienunternehmen mit exklusivem Anspruch und
internationaler Anhängerschaft.“ 37
Neben Stammgast Vogt waren dort u. a. auch schon Vertreter von
Hamers GNM, Hans Tolzin, der führende Scientologe (Präsident der
Scientology in der Schweiz) Jürgen Stettler38 oder die Holocaust-Leugnerin Sylvia Stolz zu Gast, die juristische Schriften schon einmal mit
„Heil Hitler“ unterschrieb und mit Horst Mahler liiert war, den sie auch
vor Gericht verteidigte.39 Gegen Sasek und Stolz wurde Strafanzeige
erstattet und zwischenzeitlich scheint Stolz´ Auftritt Sasek wohl so
peinlich zu sein, dass er sie entgegen sonstiger Praxis von der Liste der
Konferenz-Referenten entfernte.
Über seine Publikation „Stimme und Gegenstimme“ verbreitet Sasek
Verschwörungstheorien zum Attentat im Januar 2015 in Paris auf
Charly Hebdo. „Terroranschlag auf Charly Hebdo in Paris – eine Operation
unter falscher Flagge?“ 40
Der Blick auf das braun-esoterische-verschwörungsideologische Netzwerk wäre unvollständig ohne einen Blick auf „secret-tv“. Vogt war
36
http://www.anti-zensur.info/azk12/
37
Pöhlmann/Jahn: Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Seite 378, 1. Auflage
2015, Gütersloher Verlagshaus
http://www.anti-zensur.info/azk5/scientology (abgerufen 14.2.2016)
38
39
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Der-grosse-Auftritt-der-HolocaustLeugnerin-/story/13425297
und http://www.spiegel.de/panorama/justiz/volksverhetzung-vor-gericht-fraeulein-stolz-und-der-hitlergruss-a623827.html (abgerufen 14.2.2016)
40
http://s-und-g.info/books/sugjahrbuch_2015/sug-jahrbuch2015.html#15/z Seite 13 (abgerufen 14.2.2016)
29
dort von 2006 - 2009 Mitarbeiter, ebenso wie Joe Conrad, der den Sender 2009 verlassen musste. Gemeinsam gründeten sie das Projekt „Aufbruch Gold-Rot-Schwarz“, das im Umfeld der „reichsdeutschen Szene“
angesiedelt war.41 Auch dort Verschwörungstheorien (z. B. 9/11) oder
Beiträge gegen das Impfen (z. B. Krank durch Impfen) oder für die
Germanische Neue Medizin.42
Sasek hat selbst einen Fernsehsender „klagemauer.tv“ gegründet.43
Dort verbreitet er in professionell aufgemachten „Nachrichtensendungen“ Verschwörungstheorien aller Art. „Organhandel als ‚Entschädigung für
den Holocaust‘“? titelt eine Sendung. Dort werden auch angebliche Zitate
der amerikanischen Anthropologin Nancy Scheper-Hughes verbreitet:
„‚Israel an der Spitze‘ des weltweiten Organhandels. ‚Seine Tentakel reichen über
die ganze Welt.‘ ‚Zum einen ist es die Gier,‘ sagt sie; das andere Motiv mag etwas
befremdlich erscheinen: ‚Rache, Entschädigung – Wiedergutmachung für den Holocaust.‘“ 44 Als Quelle wird das Magazin „Zeitenschrift“ angegeben, die
wiederum selbst Verschwörungideologien aller Art verbreitet. (so z. B.
Illuminati: Ein Blick hinter die Kulissen, Weltherrschaft: Die Ziele der Illuminati,
Illuminati: Was kann ich dagegen tun?, Weltverschwörung: Findet sie statt? Und
falls ja, wie?, Mit Killerviren gegen die Überbevölkerung, Globale Drahtzieher:
Komitee der 300, Flüchtlingskrise: Migrationswaffe gegen Europa? Himmelsakupunktur gegen Chemtrails und Dürren usw. usw.). 45 Sich selbst bezeichnet
man als „Magazin für mehr Qualität und Wahrheit im Leben“ und als einen
„Kompass in bewegten Zeiten“.46
In einem „Jahresrückblick 2015 – die größten Lügen zusammengefasst“ wird
auch hier die These vertreten, der Anschlag auf Charly Hebdo sei gar
41
https://www.psiram.com/ge/index.php/Jo_Conrad und
https://www.psiram.com/ge/index.php/Michael_Vogt (abgerufen 14.2.2016)
42
http://www.secret.tv/artikel3545172/Neue_Medizin (abgerufen 14.2.2016)
43
http://www.klagemauer.tv/index.php?a=showportal&keyword=medien&id=7437 Auch wir von
Klagemauer.TV werden nicht verschont. Seit vielen Jahren wird Ivo Sasek, Gründer von Klagemauer.TV und
der „Anti-Zensur-Koalition“ – kurz AZK – in aller Öffentlichkeit als ‚Prügelguru’, ‚gefährlicher Fundamentalist’
oder ‚übler Sektenboss’ diskreditiert. (abgerufen 15.2.2016)
http://www.klagemauer.tv/index.php?a=showportal&keyword=ideologie&id=620 (abgerufen 15.2.2016)
44
45
https://www.zeitenschrift.com/thema/politik-gesellschaft/ueberwachung-verschwoerunglogen#.VsJBtObGGcI und https://www.zeitenschrift.com/thema/politik-gesellschaft/ueberwachungverschwoerung-logen/neue-weltordnung#.VsJCqubGGcJ (abgerufen 15.2.2016)
46
https://www.zeitenschrift.com/heft/zeitenschrift-85#.VsOW4-bGGcI (abgerufen 16.2.2016)
30
kein Werk von Terroristen, sondern viele Indizien deuteten „auf eine
Operation unter falscher Flagge und eine Lüge hin.“ 47
„58 Kriegserklärungen gegen alleinschuldiges Deutschland?“ fragt ein anderer
Sendebeitrag und stellt abstruse Theorien auf: „Tatsächlich marschierte
Deutschland am 1. September 1939 in Polen ein, aber warum eigentlich? Deutschland schrie zu seiner Verteidigung schon damals in alle Welt hinaus: »uns bleibt gar
keine andere Wahl, wir müssen unseren deutschen Volksgenossen in Polen schützend zu Hilfe kommen und sie erretten, weil man dort bereits fünfzigtausend Deutsche in Konzentrationslager verschleppt und über 3.800 ermordet hat!« Doch dieser
Schrei deutscher Notwehr und Selbstverteidigung verhallte im Orbit gleich geschalteter Leitmedien. Oder verhallte er womöglich in einem bereits vorgezeichneten Bild
historischer Meinungsmacher?“
Es kommt noch schlimmer:
„2. Weltkrieg 1939 – 1945
58 Kriegserklärungen gegen Deutschland: *
24. März 1933 > Die Juden erklären Deutschland den
Krieg (In der englischen Zeitung 'Daily Express': „Judea declares war
on Germany“) - - - Dies war die erste von insgesamt drei jüdischen
Kriegserklärungen, die sich ganz offensichtlich nicht gegen irgendwelche
Nazis, sondern gegen ganz Deutschland richteten. Diese Vorge-
schichte wird in öffentlichen Historien fast ausnahmslos
ausgeblendet und zensiert.
1. September 1939 — Polen erklärt Deutschland den Krieg....“ 48
„klagemauer tv“ wiederum ist nach eigenen Angaben „TV-Vorbild“ für
einen speziellen Jugendsender „jugend-tv“, einem angeblichen „Freizeitprojekt“ junger Menschen. „Wir sind eine Gruppe Jugendlicher aus
verschiedensten Hintergründen und Ländern. Recherchiert, verfasst, moderiert,
produziert und auch online gestellt werden die Beiträge ausschließlich von uns
freiwilligen, aktiven Teenagern. Auch die jüngeren Kinder, die hier teilweise moderieren, wollen das aus ganz eigenem Antrieb tun. Wir versuchen dann mit ihnen
eine altersgerechte Sendung zu gestalten“ 49 Auch dieser Sender wird Saseks
47
http://www.klagemauer.tv/index.php?a=showportal&keyword=medien&id=7437 (abgerufen 15.2.2016)
48
http://www.klagemauer.tv/index.php?a=showportal&keyword=terror&id=4916 (abgerufen 15.2.2016)
49
jugend-tv.net/index.php?a=showinitial# (abgerufen 15.2.2016)
31
Umfeld zugerechnet, was dieser leugnet, seltsamerweise sind seine
Kinder dort jedoch als Moderatoren aktiv. Auch hier wurde übelste
Hetze betrieben: Analog dem selbstgewählten Vorbild „klagemauer tv“
mit nahezu den gleichen Themen (Polen habe den Weltkrieg provoziert, Organhandel als Israels Rache für den Holocaust usw. usw.), berichtet u. a der „Deutsche Konsumentenbund“ 50 Die einschlägigen Videos wurden zwischenzeitlich nach einer Bußgeldandrohung auf dem
Jugendkanal jedoch gelöscht.51
Auch hier gilt: Kein randständiges Nischenangebot, sondern 49.000 Besucher monatlich für klagemauer tv, davon 81% aus Deutschland.52 Der
youtube-Kanal verfügt über 19.000 Abonnenten und 4,5 Mio. Aufrufe
seit 2012. Jugend-tv.net verzeichnet mit knapp 2.300 Abonnenten fast
500.000 Aufrufe.
Die Gesellschaft für bewusstes Sein SAT-CHIT-ANANDA bezweckt
die „Weitergabe und Vermittlung von innerem Wissen und Verständnis über
spirituelles und geistiges Leben und Erleben, in Zeiten des Wandels und einem
damit einhergehenden bewusstem Sein.“ Ihr TV Angebot „Satsang-full“ ist
ein weiterer youtube-Kanal aus diesem Genre. Über 13.000 Abonnenten und rd. 6,4 Mio. Aufrufe für einen Sender, der auf den ersten Blick
Spirituelles propagiert. Tatsächlich hat das Programm wenig mit Spirituellem zu tun. So wird am 11.2.2016 ein Interview mit Holger Strohm
„Die Flüchtlinge - und wer sich noch alles darunter mischt“ 53 gesendet. Der IS,
die Mafia und amerikanische Geheimdienste würden Flüchtlinge nach
Deutschland einschleusen. Die tschetschenische Mafia sende jeden Tag
2-3000 Schwerkriminelle nach Deutschland.54 Interviewer ist der als
rechtsradikaler Verschwörungstheoretiker einschlägig bekannte Jo Conrad. Strohm verbreitet ebenfalls krude Verschwörungstheorien und ist
insgesamt eine schillernde Persönlichkeit. Chemtrails, AIDS als Laborkrankheit aus amerikanischen Forschungslabors, angebliche Wetterma50
51
http://www.konsumentenbund.de/blog/konsumentenbund/666152776.jugend-tvnet-kein-kinderkram.html
(abgerufen 15.2.2016); interessant auch der Beitrag von jarow in seinem youtube-Kanal „Sekte missbraucht
Kinder für Youtube-Propaganda?“ unter https://www.youtube.com/watch?v=McgdVccLUBw (abgerufen
15.2.2016)
http://www.jugend-tv.net/?a=showportal&keyword=september2014&id=693 (abgerufen 15.2.2016)
52
http://urlmetriken.ch/www.klagemauer.tv (abgerufen 16.2.2016)
53
https://www.youtube.com/watch?v=gNXf6gnXJuw (abgerufen 18.2.2016)
54
a.a.O. in 18:09 – 18:35 (abgerufen 18.2.2016)
32
nipulationen der USA in Nordkorea als Auslöser von Hungersnot, die
Existenz einer Reichsregierung etc. etc. gehören zu seinem Repertoire.
Unter dem Titel „Empörung und Verschwörung - Porträt einer Person auf dem
Weg in rechte Ideologien“ wird sein Weg vom Atomkritiker hin zu „einem
vielgefragten, rechtsextremen Redner und Interviewpartner - voller Hass gegen
Flüchtlinge, Juden, die USA und Israel, Linksfaschisten und zensierte Medien“
skizziert.55 „Wir werden also von kriminellen Geisteskranken regiert“ oder
„Medialer Einheitsbrei und stereotype Propaganda prägen heute die Medienlandschaft, die von wenigen zionistischen Konzernen kontrolliert werden.“ Noch krasser: „Zionistische Netze, die in den Schlüsselstellungen in Europa sind, in der
Politik, in den Medien, in der Wirtschaft, bei den Banken. Sie wollen Deutschland
schaden aufgrund der Schuld unserer Vergangenheit.“ Alle wichtigen Politiker
in Deutschland seien Juden.56 Solche und andere Aussagen bestätigen
die Einschätzung der Autoren aus der Filmwerkstatt Sachsen über
Strohm als „Verkünder wirrer und rechter Welterklärungen“, dem „Satsang
Full“ eine Plattform für seine Hasspropaganda bietet.57
Ohne großen Aufwand –
Missionare des Hasses finden eine Plattform
Dies waren nur einige Beispiele für rassistische und extremistische
Denkmuster. Das Netz ist voll davon. Was macht braune Esoterik aller
Art, Weltverschwörungstheorien und vereinfachte Welterklärungssysteme nun so gefährlich? Auf diesem Wege werden menschenverachtende Ideologien und Ideenkonstrukte gesellschaftsfähig gemacht, da
ihre Protagonisten im Gegensatz zu NPD, DVU und anderen Neonazis
nicht primitiv wie tumbe Toren auftreten, sondern ihre Thesen in ein
intellektuelles Gewand und eine höchst professionelle Aufmachung
hüllen. Damit wird ein Personenkreis erreicht, der von den bekannten
rechtsextremen Gruppen niemals gewonnen werden kann. Derartige
Gruppierungen und Autoren machen sich als Missionare des Hasses
55
https://www.youtube.com/watch?v=B7dK2FwZgoQ (abgerufen 18.2.2016)
56
a.a.O. ab min 11:25 – 11:28, 14:00 – 14:13, 14:21 – 14:42, 15:38 – 15:58, (abgerufen 18.2.2016)
57
http://www.projektwerkstatt.de/filme/verschw.html (abgerufen 18.2.2016)
33
die Ängste der Menschen und deren Offenheit für alternative Lebensentwürfe, ebenso wie die Sehnsucht nach Geheimnisvollem zunutze
und bieten einfache Welterklärungsmuster in einer immer komplexer
werdenden Welt an. Der intellektuelle oder „spirituell-religiöse“ Tarnmantel darf aber nicht über die Gefährlichkeit hinwegtäuschen, da die
Einflussnahme viel subtiler ist als bei bekannten rechtsextremen Gruppen. Die Gefahren sind das Schüren von Hass und Gewalt, der Aufbau
antidemokratischer und extremistischer Parallelwelten, Rassismus und
ein verzerrtes Selbstbild. Hinzu kommt, dass zwischenzeitlich aufgrund
der Möglichkeiten des Internets solche Nachrichten sich einfach kaskadenförmig weiter ausbreiten können.
Wollte man früher - meist mit wenig finanziellen Ressourcen - wahnwitzige Thesen, ideologische Spinnereien und Hetze verbreiten, so
musste sie der Verfasser mühsam mit der Schreibmaschine zu Papier
bringen, im Copy-Shop kopieren und dann versuchen als Flugblätter,
Broschüre oder „Eigendruck im Selbstverlag“ unter die Leute zu bringen. Die Wirkung blieb überschaubar. Heute bieten Internet, soziale
Netzwerke, youtube-Kanäle etc. rasend schnelle Verbreitungsmöglichkeiten und einen reichen Resonanzboden, auch wenn man zwar nicht
über große finanzielle Mittel verfügt, dafür aber ein gewisses Talent im
Hinblick auf Grafik, Design und Gestaltung hat. Kommt eine entsprechende Finanzkraft dazu, sind die Möglichkeiten nahezu unbegrenzt.
Die wahren Absichten, die wahren Hintergründe und Verflechtungen
bleiben dabei oft im Verborgenen.
Problematisch ist es auch, dass bei vielen Usern im Netz leider nicht
der Grundsatz „erst denken - dann klicken“ gilt, wenn es darum geht,
Nachrichten weiterzuverbreiten, sondern der umgekehrte Weg beschritten wird.
Es ist deshalb an der Zeit diese Szene viel intensiver zu beobachten
und auch in die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder
aufzunehmen. Dies vor allem, nachdem die Quellen hier sehr leicht
zugänglich sind.
34
„REICHSBÜRGER“
VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIE MIT DEUTSCHER SPEZIFIK
Jan Rathje
Einleitung
Das Wissen um die Existenz von „Reichsbürgern“ ist nicht mehr allein
den Experten vorbehalten. Die öffentliche Verwaltung sieht sich mit
einer zunehmenden Bedrohung ihrer Mitarbeitenden durch Mitglieder
dieses Milieus konfrontiert.58 Auch bei den aktuellen Protestbewegungen sind reichsideologische „Argumentationen“ verstärkt wahrnehmbar. Die anschließende Arbeit stellt einen Versuch dar, das reichsideologische Milieu und seine Grenzbereiche empirisch darzustellen und analytisch zu begreifen. Abschließend sollen einige zivilgesellschaftliche
Handlungsoptionen vorgestellt werden, die in der Auseinandersetzung
mit Anhängerinnen und Anhängern dieser Ideologie von Nutzen sein
können.
„Reichsbürger“
Die Überzeugung, das Deutsche Reich wäre der rechtmäßige Staat der
Deutschen, überdauerte die Niederlage des Nationalsozialismus und die
Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Der Politikwissenschaftler
Richard Stöss identifiziert innerhalb des organisierten Rechtsextremismus eine „Kampagne zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches“ seit dem
Jahr 1945.59 Die Grundannahmen der nachfolgend behandelten Reichsideologie sind in der Beschreibung Stöss‘ bereits enthalten:
58
Vergl. u.A. Finanzämter planen Notruf gegen „Reichsbürger“, auf rbb|24 vom 06.04.2016, online unter:
http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2016/04/reichsbuerger-brandenburg-aemter-notruf.html (Stand:
24.06.2016).
59
Vergl. STÖSS, RICHARD (2010): Rechtsextremismus im Wandel, Berlin, S. 31-46.
35
Die Bundesrepublik Deutschland ist kein legitimer/legaler Staat
(mehr).
Ein Deutsches Reich besteht weiterhin fort.
Innerhalb des organisierten Rechtsextremismus hat die Kampagne seit
den 1980er Jahren eine untergeordnete Rolle eingenommen.60 Im gleichen Zeitraum bildete sich die aktuelle Form 61 der Reichsideologie heraus, welche ihre Anhängenden dazu anhielt Reichsregierungen zu bilden, den alliierten Siegermächten Briefe zu schreiben und Steuer- sowie
Ordnungszahlungen zu verweigern.
Die Kommissarische Reichsregierung (KRR) des Wolfgang
Gerhard Günter Ebel
Nach bisherigem Erkenntnisstand wurde die aktuelle Form
der Reichsideologie zu Beginn
der 1980er Jahre von Wolfgang
Gerhard Günter Ebel begründet. Der ehemalige Westberliner
Reichsbahnmitarbeiter
fühlte
sich stückweise vom „Reichsverkehrsminister“ zum „Generalbevollmächtigten“ und schließlich „Reichskanzler“ des Deutschen
Reiches berufen.62 In seiner Vorstellung „dienstverpflichteten“ ihn die
West-Alliierten mit dem Auftrag, den „Aufbau der Vereinigten Staaten
von Europa vom Atlantik, einschließlich des Mittelmeerraumes, bis
zum Ural“ 63 voranzutreiben.
60
ebd. S. 34.
61
Zur historischen Dimension der Reichsideologie vergl. BEGRICH, DAVID (2015): Reichsidee und Reichsideologie
der extremen Rechten, in: MINISTERIUM FÜR INNERES UND SPORT DES LANDES SACHSEN-ANHALT (Hrsg.):
Reichsbürger. Sonderlinge oder Teil der rechtsextremen Bewegung, Magdeburg, S. 9-12.
62
Die eigene Darstellung der Abläufe variieren bei Ebel je nach Zeitpunkt und Darstellungsform der Erklärung.
Vergl. CONRAD, JOHANNES „JO“ (2011): Reichskanzler Ebel? auf BEWUSST.TV am 17.06.2011, online unter:
http://www.earth.bewusst.tv/wp-content/uploads/2011/06/Ebel.flv (Stand 24.06.2016).
Staat 2tes Deutsches Reich (2007): Kurzübersicht des Reichskanzlers Dr. h. c. Wolfgang Gerhard Günter Ebel,
o.O., S. 2, online: http://www.der-reichskanzler.de/Kurzuebersicht_Ebel.pdf (Stand: 21.08.2013)
63
36
Im Laufe der Jahre sammelte Ebel eine Gruppe von Anhängerinnen
und Anhängern um sich, mit denen er eine Kommissarische Reichsregierung
(KRR) bildete. Kommissarisch deshalb, da er stets in vermeintlicher Absprache mit den Alliierten zu handeln dachte. Die „Regierungsgeschäfte“ der KRR bestanden vornehmlich darin, juristische Auseinandersetzungen mit der Bundesrepublik zu führen, Lehrgänge in der Reichsideologie abzuhalten und Ausweisdokumente zu verkaufen.64
Schon 1987 gerieten die von der KRR angestrengten juristischen Auseinandersetzungen an einen Punkt, an dem Ebel schließlich für schuldunfähig nach Paragraph 20 des Strafgesetzbuchs erklärt wurde.65 Grund
hierfür waren seine Vorstellungen von der Fortexistenz des Deutschen
Reiches. Innerhalb der Gemeinschaft, die sich im Laufe der Jahre um
sowie schließlich auch gegen und neben Ebel gebildet hatte, war die
Schuldunfähigkeit des „Reichskanzlers“ von doppelter Bedeutung. So
dienten die darauf basierenden Einstellungen von Verfahren gegen
Ebel seinen Anhängerinnen und Anhängern als Beweis der politischen
Immunität ihres Reichskanzlers, also einer Anerkennung seines Amtes
durch die Bundesrepublik Deutschland. Andere nutzten das psychologische Gutachten zur Delegitimierung der Konkurrenz. Sie hatten sich
abgespalten, da die Unterordnung Ebels unter die alliierte Herrschaft
ihrem Verständnis von deutscher Souveränität zuwiderlief. Derzeit gibt
es eine Vielzahl an „Reichsregierungen“, deren Betätigungsgrad und
Mitgliederzahl sich erheblich unterscheiden. Hinzu kommen Einzelpersonen, die der Reichsideologie anhängen.66
64
Unklarheit besteht, ob Mitglieder Ebels KRR im Jahr 2009 am reichsideologischen Projekt „Fürstentum
Germania“ beteiligt waren. Dabei handelte es sich um ein baufälliges Schloss im brandenburgischen Krampfer,
das nach einer vermeintlichen Sezession von der Bundesrepublik Deutschland als naturverbundener,
esoterischer und reichsideologischer Kirchenstaat existiert haben sollte. Letztlich scheiterte das
reichsideologische Projekt im selben Jahr. Zwar wird die KRR in Texten erwähnt, sie scheint jedoch als UrReichregierung dieses Milieus stellvertretend für alle beteiligten Reichsideologinnen und -ideologen zu stehen.
Vergl. zum „Fürstentum“ FEIST, MARIO (2010): Das „Fürstentum Germania“. „Nicht links, nicht rechts,
sondern vorne“?, in: WILKING, DIRK/KOHLSTRUCK, MICHAEL (Hrsg.): Einblicke III. Ein Werkstattbuch,
Potsdam, S. 109-124.
65
Vergl. STAAT 2TES DEUTSCHES REICH: Kurzübersicht, S. 2.
66
Eine Liste führen die Betreiber der Satireseite Sonnenstaatland, das sich „Reichsbürger“ reichsideologischen
Scheinstaaten widmet: https://wiki.sonnenstaatland.com/wiki/Liste_von_reichsideologischen_Scheinstaaten
(Stand: 24.06.2016).
37
Kategorien von reichsideologischen Gruppierungen
Der Kriminalpsychologe Jan-Gerrit Keil unterscheidet innerhalb der
sehr heterogenen reichsideologischen Szene vier Gruppen: 67
1.
2.
3.
4.
Traditionell nationalistische „Reichsbürger“
„Selbstverwalter“
Monarchen und Stifter von Reichen und Fürstentümern
Milieumanager
Die Gruppe der „traditionell nationalistischen ‚Reichsbürger‘“ fasst diejenigen, welche beide Grundannahmen der Reichsideologie teilen, also die
Bundesrepublik Deutschland ablehnen und von der Fortexistenz eines
Deutschen Reiches überzeugt sind. „Selbstverwalter“ hingegen teilen lediglich die erste Annahme und sind in der Folge davon überzeugt, aus
der Bundesrepublik Deutschland aussteigen und sich unter „Selbstverwaltung“ stellen zu können. Nicht ganz ersichtlich ist, warum eine
Hauptkategorie der „Monarchen und Stifter von Reichen und Fürstentümern“
sowie der „Milieumanager“ notwendig sein soll. Erstere soll auf Menschen verweisen, die ihre Scheinstaaten in pseudofeudalen Strukturen
organisieren 68 und einen stärkeren Bezug zur Esoterik und zu sektenartigen zwischenmenschlichen Beziehungen aufweisen. Die Milieumanager wären schließlich organisatorisch und finanziell in das Milieu eingebunden und profitierten von ihm am meisten.
Meines Erachtens stellt sich eine Kategorisierung von Gruppierungen
im reichsideologischen Milieu und seinen Grenzgebieten komplexer
dar. Wie in Tabelle 1 abgebildet, lassen sich vier Obergruppen feststellen. Aufgrund der Heterogenität 69 der Gruppierungen und Einzelpersonen handelt es sich um eine idealtypische Unterteilung.
67
Vergl. KEIL, JAN-GERRIT (2015): Zwischen Wahn und Rollenspiel. Das Phänomen der „Reichsbürger“ aus
psychologischer Sicht, in: WIKLING, DIRK (Hrsg.): „Reichsbürger“. Ein Handbuch, S. 39-90, S. 39f.
68
Beispiele hierfür wären etwa die Exilregierung Deutsches Reich – Kaiserreich um Norbert Schittke oder das
Königreich Deutschland um Peter Fitzek.
Hier zeigt sich, dass zumindest die aktuellen Ausformungen der Reichsideologie ihren Anhängenden einen
weiten Spielraum bei der individuellen Zusammenstellung weiterer Ideologeme neben den Grundannahmen
gewähren.
69
38
Tabelle 1 Kategorien des reichsideologischen Milieus und seiner
Grenzbereiche
Rechtsextreme
seit 1945
Ideologische
Klammer
„Reichsbürger“
„Selbstverwalter“
Souveränitätsfordernde
Deutschland wird von einer fremden Macht beherrscht, die
im Hintergrund die Fäden zieht
Ideologeme
BRD kein legaler/legitimer
Staat
Deutsches Reich existiert
Personelle
Aufstellung
Milieumanagerinnen und -manager
Anhängende
Beispiele
Sozialistische Reichspartei
Teile des
Bundes der
Vertriebenen
Kommissarische Reichsregierung
(KRR)
Horst Mahler und Sylvia
Stolz
BRD kein
legaler/legitimer Staat
Germanitien
„Freie“ Gemeinden
BRD kein legitimer Staat
COMPACT
Magazin
Teile der AfD 70
Xavier Naidoo
Teile von Pegida
Teile der
NPD
Die erste Kategorie der „Rechtsextremen seit 1945“ bildet die historischen
Ursprünge der Reichsideologie ab. In ihr werden rechtsextreme Gruppen und Einzelpersonen gefasst, die, wie von Stöss dargelegt, seit 1945
an der Kampagne zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den
Grenzen von 1937 bzw. 1939 beteiligt waren und sind. Die zweite Kategorie der „Reichsbürger“ beinhaltet diejenigen, die in der Traditionslinie
von Wolfgang Ebel bereits in einem Deutschen Reich zu leben glauben
und deren Identitätskonstruktionen und Handlungen maßgeblich von
70
Vergl. beispielhaft den Änderungsantrag Nr. 1634 des AfD-Mitglieds Dr. Otto-Henning Wilhelms zum Thema
„‚Wiedererlangen wirklicher deutscher Souveränität‘“ in: Bundesgeschäftsstelle der AfD (2016): Vorläufiges
Antragsbuch zum Bundesparteitag in Stuttgart. 30. April und 01. Mai 2016. Teil 1, o. O., S. 9, online unter:
https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/sites/7/2016/04/AB-Teil1_gesamt-20160425_Druck.pdf
(Stand 25.04.2016).
39
ihrer „Reichsbürgerschaft“ bestimmt werden. Ihre vermeintlichen Argumentationen umfassen den Bezug auf andere Gesetzes- und Vertragswerke, die parallel zu und/oder an Stelle von bundesrepublikanischer Gesetzgebung Gültigkeit besitzen sollen (SHAEF-Gesetze, Haager Landkriegsordnung etc.). Die Gruppierungen innerhalb dieser Kategorie können sehr heterogen ausfallen. Eine Abgrenzung der Gruppen zueinander findet innerhalb des Milieus nicht nur durch Spaltungen
statt. Die rechtsextreme Holocaustleugnerin und „Reichsbürgerin“ Sylvia Stolz schreibt dazu:
„Es sei vor allen [reichsideologischen; J.R.] Bestrebungen, Standpunkten und Irreführungen gewarnt, die den Interessen der Gegner des Deutschen Volkes (und der
Gegner aller Nationen) dienen und letztlich in die Arme der ‚Neuen Weltordnung‘
führen. [...]
Insgesamt ist festzustellen, dass eine Irreführung und Verzettelung größten Ausmaßes im Gange ist, durch die die teilweise aufgewachten Deutschen und ihr Engagement in die politische Wirkungslosigkeit abgezogen werden.“ 71
Die Gruppe der „Selbstverwalter“ unterscheidet sich nicht von Keils
Darstellung. Sie teilt partiell die „Argumentationen“ der Gruppe der
„Reichsbürger“ bezüglich ihrer Delegitimierung und Derealisierung der
BRD. Eine Schnittstelle zum Rechtsextremismus der „Neuen Rechten“,
dem Konservativismus und bundesrepublikanischen Nationalismus bildet schließlich die Gruppe der „Souveränitätsfordernden“. Ihre Praxis ist
nicht von der vermeintlichen Gründung Deutscher Reiche oder Selbstverwaltungen bestimmt. Das vornehmliche Anliegen besteht darin, eine
vermeintlich fehlende Souveränität Deutschlands wiederzuerlangen. Ob
dieses Deutschland identisch mit der Bundesrepublik ist, bleibt bewusst
vage. Die offenen Bezüge verweisen auf ein Deutschland und ein deutsches Volk. Souveränitätsfordernde nutzen für ihre Ziele auch legalistische Strategien.72
Durch die Identitätskonstruktion der allgemeinen ideologischen Klammer einer vermeintlich gegen Deutschland und die Deutschen gerich-
71
72
STOLZ, SYLVIA (2013): Warnung vor Irreführung, Ebersberg, S. 2, 4. Gleichzeitig bringt sie auch großes
Verständnis für Bedürfnisse innerhalb des Milieus auf: „Es spricht nichts dagegen, sich mit dem Thema
Flugscheiben zu befassen. Es gibt jedoch keinen sachlich gerechtfertigten Grund, zu Untätigkeit und ‚Abwarten‘
aufzurufen, weil man ohnehin eine Befreiung durch UFOs erwarte.“ ebd., S. 4 (Hervorhebung im Original).
Ein Beispiel wäre die gescheiterte Verfassungsbeschwerde gegen die Flüchtlings- und Asylpolitik der
Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel im März 2016 der „neurechten“ Gruppierung Ein Prozent für
unser Land. Vergl. o. A.: Verfassungsbeschwerde abgelehnt: Was folgt nun?, auf einprozent.de vom 4.03.2016,
online unter https://einprozent.de/verfassungsbeschwerde-abgelehnt-was-folgt-nun/ (Stand 24.06.2016).
40
teten Verschwörung, also einer „anti-deutschen Weltverschwörung“,73
werden die Gruppierungen des Milieus miteinander verbunden. Darüber hinaus bieten die Feindbilder dieses verschwörungsideologischen
Narrativs ebenfalls Anknüpfungspunkte zu antiimperialistischen, sich
als links verstehenden Milieus und zum Antisemitismus in Form des
Antizionismus, die in dieser Tabelle keine Darstellung finden. An dieser
Stelle setzten die aktuellen Querfrontbemühungen, etwa um die „Montagsmahnwachen für den Frieden“ der Jahre 2014/16 oder die „Anti-Bilderberger“-Proteste im Juni 2016,74 an. Milieumanager und Anhängende stellen in dieser Konstellation keine eigene Gruppierung mehr dar, da sie
zur allgemeinen Organisationsstruktur dieser Gruppierungen gehören.
„Argumentationen“
Anhängerinnen und Anhänger dieser besonderen deutschen Verschwörungsideologie, der Einfachheit halber an dieser Stelle unter Reichsideologie subsumiert, verwenden in ihrer Argumentation eine deduktive Vorgehensweise: Stets wird vom Allgemeinen (der Fortexistenz eines
Deutschen Reiches und/oder der Nichtexistenz der Bundesrepublik
Deutschlands) auf das Besondere (der Personalausweis heißt Personalausweis, weil die Inhaber „Personal“ der Firma BRD GmbH sind) geschlossen. Gemäß der ideologischen Verhärtung werden Widersprüche
zu und Kritik an diesen Grundannahmen nicht zugelassen, geleugnet
oder ignoriert. Dies zeigt sich besonders in den umfangreichen und unwissenschaftlichen Textwüsten der reichsideologischen „Beweisführungen“.
Den Ausgangspunkt für die Suche nach „Beweisen“ bilden zwei Gruppen von Grundannahmen. Die eine behandelt alle vermeintlichen Ar73
Diese Kategorie gilt für den deutschsprachigen Raum. Sie ließe sich neben anderen, jeweils gegen die eigene
Nation gerichteten Weltverschwörungsnarrative als spezifisch deutsche „antinationale Weltverschwörung“
begreifen. Damit einher geht, neben der mit dem Komplex Verschwörung verbundenen antisemitischen
Stereotype, auch die Verbindung zum nationalistischen Antisemitismus.
74
Vergl. HAMMEL, LAURA-LUISE (2015): Antisemitische und antiamerikanische Verschwörungstheorien. Eine
Diskursanalyse im Umfeld der Mahnwachen für den Frieden, Mainz, online unter: https://www.academia.edu/13098275/Antisemitische_und_antiamerikanische_Verschw%C3%B6rungstheorien._Eine_Diskursanalyse_im_Umfeld_der_Mahnwachen_f%C3%BCr_den_Frieden;
Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e. V. (2016): Querfront gegen Bilderberg-Konferenz
in Dresden 2016, online unter: https://youtube/c6OQ_WlGGXs (Stand 26.06.2016).
41
gumentationen rund um Legitimität; die andere bündelt Aussagen zur
Souveränität. Legitimität bezeichnet ganz allgemein eine Rechtfertigung
für ein bestimmtes Handeln. Im Fall der Reichsideologie geht es zumeist um völker- oder staatsrechtliche Legitimation. So müssen die
Handlungen der Bundesrepublik Deutschland, aber auch die eigenen,
reichsideologischen, diesem Standard entsprechen. Dabei sind erstere
grundsätzlich illegitim, letztere so lange legitim, bis eine Opposition
innerhalb der eigenen Gruppe das Gegenteil behauptet, eine Spaltung
herbeiführt und eine eigene Regierung oder Selbstverwaltung bildet.
Der andere Teil der reichsideologischen Themen bezieht sich auf die
Souveränität des Staates, seiner Regierung und somit auch der Staatsbürger. Souverän ist, wer seine Handlungen eigenständig und unabhängig bestimmt. Für Reichsideologinnen und -ideologen gilt jedoch
ganz allgemein: Deutschland und das „deutsche Volk“ werden fremdbestimmt.
Nachfolgend soll eine Auswahl75 der gängigen Behauptungen der
Reichsideolog/innen entkräftet werden. Dabei soll auch ein Eindruck
vermittelt werden, wie reichsideologische „Argumentationen“ aufgebaut sein können.
„Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht souverän!“
Es wird behauptet, Deutschland sei noch immer besetzt, weshalb das
Besatzungsrecht weiterhin gelten würde. Diese Aussage ist falsch. Die
Souveränität der DDR wurde durch eine Erklärung der UdSSR seit
1954 hergestellt, die Bundesrepublik Deutschland gilt seit dem Deutschlandvertrag aus dem Jahr 1955 als souverän. Spätestens seit dem 2+4Vertrag aus dem Jahr 1990 ist die Bundesrepublik Deutschland jedoch
ein souveräner Staat.76
75
Vergl. ausführlicher hierzu SCHUMACHER, GERHARD (2015): Vorwärts in die Vergangenheit. Durchblick durch
einige ‚reichsideologische‘ Nebelwände, Berlin, online unter: http://buch.sonnenstaatland.com/ (Stand
24.06.2016).
76
Vergl. ebd., S. 106-131.
42
„Das Grundgesetz ist keine Verfassung (Art. 146 GG)!“
Kern dieser Behauptung ist der Glaube, der Name Grundgesetz (GG)
deute bereits darauf hin, dass es sich nicht um eine Verfassung handele.
Dazu wird gern auch der Artikel 146 GG zitiert:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands
für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem
eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung
beschlossen worden ist.“ (GG, Art. 146,1)
Diese Aussage ist falsch. Die Alliierten forderten nach dem Zweiten
Weltkrieg explizit eine verfassungsgebende Versammlung, den Parlamentarischen Rat. Die Namensgebung war zu dieser Zeit ein politisches Zugeständnis der deutschen Ministerpräsidenten an die Ost-Zone. Die
Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung sollte nicht symbolisch
durch den Erlass einer Verfassung getrübt werden.
Die deutsche Wortwahl machte jedoch für die Alliierten keinen Unterschied. Sie genehmigten die vom Parlamentarischen Rat erstellte
„constitution“ – zu Deutsch: Verfassung. Spätestens mit dem Inkrafttreten des GG wurde die Gültigkeit der Weimarer Verfassung aufgehoben, da stets nur eine Verfassung in einem Gebiet Gültigkeit beanspruchen kann. Der Art. 146 GG verweist ebenso auf die Hoffnung
einer Wiedervereinigung bezüglich der deutschen Staatsgebiete, die
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges anderen Staaten zugesprochen
wurden. Diese Bestrebung wurde spätestens mit der Anerkennung der
Oder-Neiße-Grenze 1990 zwischen Deutschland und Polen offiziell
aufgegeben.77
„Das Grundgesetz besitzt keine direkte demokratische Legitimation!“
Diese Aussage ist richtig. Die Initiative zur Verfassungsgebung erfolgte
vonseiten der Alliierten, da sie nach dem Zweiten Weltkrieg die Staatsgewalt innehatten. Dennoch kann von einer indirekten Legitimation des
Grundgesetzes gesprochen werden. Die Mitglieder des Parlamentarischen
Rates, die das Grundgesetz ausarbeiteten, waren Delegierte der Landta-
77
Vergl. ebd., S. 153-161.
43
ge, die zwischen 1945 und 1948 demokratisch gewählt worden waren.78
Richtig ist auch, dass es einige besondere Vorgaben der Alliierten bei
der Ausarbeitung des Grundgesetzes gab. Dies ist nicht verwunderlich,
lag doch das Ende des Zweiten Weltkrieges und der von Deutschland
verursachten Leiden gerade einmal vier Jahre zurück.
„Nach Artikel 23 GG a.F. wurde das Grundgesetz aufgehoben.“
Nach reichsideologischer Auffassung erfolgte am 17. Juli 1990 durch
den US-Außenminister James Baker die Anweisung an die Bundesregierung der BRD, den Art. 23 GG (räumlicher Geltungsbereich des
GG/Der Bund und die Länder) in seiner damaligen Fassung aufzuheben. Durch die Aufhebung des Geltungsbereichs sei gleichsam das
GG selbst aufgehoben worden. Diese Aussage ist falsch. Verfassungen
können ohne expliziten räumlichen Geltungsbereich Gültigkeit beanspruchen. Darüber hinaus ist der Geltungsbereich jedoch weiterhin im
Titel und in der Präambel vorhanden gewesen. Unabhängig davon garantiert die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ den Fortbestand des Grundgesetzes:
„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in
Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die
in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ (Art. 79 (3) GG)
Die Aufhebung des Art. 23 GG a.F. stand im Bezug zur anstehenden
Vereinigung von den wiedergegründeten östlichen Bundesländern mit
der Bundesrepublik Deutschland. Dazu fand am 17. Juli 1990 in Paris
eines der Vorverhandlungstreffen zum 2+4-Vertrag statt, der den Beitritt dieser Länder zur Bundesrepublik regelte. Das Datum findet sich
bei einigen Reichsideolog/inn/en als Endpunkt der BRD – so etwa in
der Auffassung der KRR.
78
Vergl. ebd., S. 162-166.
44
Auch „Reichskanzler“ Ebel war der Überzeugung, dass die Aufhebung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes mit der Aufhebung des Grundgesetzes identisch
sei. Quelle: Screenshot Website http://www.der-reichskanzler.de
„Deutschland hat bis heute keinen Friedensvertrag mit den Alliierten.“
Die Argumentation teilt sich in zwei Unterargumente, je nach reichsideologischer Vorliebe. Das erste besagt, dass bereits seit dem Ersten
Weltkrieg kein Friedensvertrag aller Alliierten mit Deutschland bestünde. Der US-Kongress habe den Versailler Vertrag nicht ratifiziert,
Deutschland befände sich noch immer im Kriegszustand mit den USA.
Dieses Argument ist teils richtig, teils falsch. Richtig ist, dass der USKongress den „Versailler Vertrag“ nicht ratifiziert hat. Im Jahr 1921
wurde jedoch ein gesonderter Frieden zwischen den USA und dem
Deutschen Reich geschlossen.
Das zweite Unterargument verschiebt den Nichtabschluss eines Friedensvertrags um einen Weltkrieg. Demnach habe am 8. Mai 1945 lediglich die deutsche Wehrmacht kapituliert, nicht jedoch das Deutsche
Reich. Auch hier besteht die Argumentation aus halb wiedergegebenen
Fakten. Ein expliziter Friedensvertrag besteht in der Tat nicht. Die
Alliierten haben hingegen jeweils einseitige Friedenserklärungen erlassen. Von Seiten der Westalliierten erfolgten diese im Jahr 1951, die
Sowjetunion folgte im Jahr 1955 nach. Spätestens mit dem 2+4-Vertrag
aus dem Jahr 1990 wurde jedoch ein gesonderter Friedensvertrag zwischen Deutschland und den ehemaligen Alliierten hinfällig.79
79
Vergl. ebd., S. 255-263.
45
„Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Firma („BRD GmbH“)!“
Es wird behauptet, die Bundesrepublik Deutschland sei kein Staat, sondern eine Firma, die „BRD GmbH“.80 Diese Behauptung soll damit
belegt werden, dass Verfassungsorgane, Behörden von Bund, Ländern
und Kommunen in Firmenverzeichnissen zu finden sind. Die oben
Genannten lassen sich tatsächlich in Firmenverzeichnissen finden. Allerdings sind auch staatliche Stellen Akteure im Wirtschaftssystem und
deshalb in den Verzeichnissen zu finden. Im Warenverkehr unterliegen
sie den gleichen Regeln wie Firmen, was sie jedoch nicht zu Firmen
macht. Das gleiche Argument existiert in einer Variante bezüglich der
Umsatzsteuernummern von staatlichen Akteuren.
Eine wesentlich plumpere Variante dieser Behauptung macht sich am
Titel des bundesdeutschen Personalausweises fest. Dieser weise seine
Inhabenden als „Personal“ der BRD aus. Diese Aussage ist falsch.
„Personal-“ bezieht sich hierbei auf die im Ausweis enthaltenen Personalien.81
Reichsideologische Praxis
In allen reichsideologischen Milieus spielt das Internet eine große Rolle.
Es dient nicht nur der internen und externen Kommunikation und Propaganda, sondern auch als alternative Informationsquelle zur „Lügenpresse“. Das Internet ist integraler Bestandteil reichsideologischer Praxis. Die Kommunikation erfolgt mittels eigener Diskussionsforen, auf
Webseiten und über Soziale Medien, wie Facebook. Neben den Beschreibungen der Zuständigkeiten von Personen für „Ministerien“ und
80
Hier gälte es weiter zu forschen, inwiefern das Narrativ „BRD GmbH“ eine Hybridisierung der Bezeichnung
„OMF-BRD“, der „Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft“ Bundesrepublik Deutschland,
darstellt. Sie wurde vermutlich von Horst Mahler in das Milieu eingeführt. Er bediente sich bei der
Formulierung OMF in seinem eigenen Sinne einer Rede von Carlo Schmid (SPD) im Parlamentarischen Rat am
8. September 1948. Vergl. Schmidt, Frank (o. J.): Wenn schon das „Berlin-Übereinkommen“ den „2+4“-Vertrag
nicht aufgehoben haben kann, was ist dann an der Behauptung, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR
hätten den „2+4“-Vertrag gar nicht abschließen dürfen (höchstens das „Deutsche Reich“) und er sei deswegen
nichtig? auf: KRR-FAQ, online unter: http://krr-faq.net/omf.php (Stand 24.06.2016); Fischer, Michael (2015):
Horst Mahler. Eine biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und deutscher Schuldabwehr,
Karlsruhe, S. 349.
81
Vergl. SCHUHMACHER (2015): Vorwärts in die Vergangenheit, S. 67-105.
46
Ähnliches, finden sich auf den Seiten immer auch Informationen, warum die Bundesrepublik Deutschland nicht existieren soll. Zu diesem
Zweck werden – in zumeist recht eigenwillig gesetzten Texten – willkürliche Zitate aus juristischen Dokumenten mit Fotos von Wappentieren und Ausweisen kombiniert. Als Multifunktionsplattformen bieten Webseiten auch die Verbindung zu den nachfolgend beschriebenen
profitableren Handlungsformen.
Reichsideologisch geleitete Menschen nehmen an einem eigenen Markt
teil. Dort tauschen sie Geld gegen reichsideologische Waren und
Dienstleistungen. Dazu gehören Fantasieausweise, -führerscheine und währungen82 sowie Fahnen, Aufkleber und viele andere MerchandiseArtikel. In besonderer Weise tat sich Peter Fitzek, selbsternannter
„König“ des „Königreichs Deutschland“ hervor. Er bot Anhängerinnen und Anhängern neben einer „Gesundheitskasse“ auch die Dienste
einer „Reichsbank“ an. Aufgrund dieser illegalen Finanzdienstleistungen liegt eine Anzeige der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) gegen Peter Fitzek vor, und es wird gegen ihn ermittelt.83
Neben identitär-ökonomischen Aktivitäten betätigen sich Reichsideologinnen und -ideologen seit Jahren an einem wachsenden Schriftverkehr
mit staatlichen Stellen, da ihre Hauptkonfliktlinie zwischen ihnen, ihrem Reich, Scheinstaat und/oder ihrer Selbstverwaltung und der Bundesrepublik Deutschland verläuft. Zumeist geht es um die Verweigerung von Zahlungen, seien es Steuern, Buß- oder Ordnungsgelder.84
Seit Jahren ist es neben der Verweigerung von Zahlungen und Abgaben
gängige Praxis, Todesdrohungen und Todesurteile gegen Mitarbeitende
staatlicher Stellen, Kritikerinnen und Kritiker, andere reichsideologische
(Spaltungs-)Gruppen sowie andere vermeintliche Feindinnen und Feinde zu verschicken. Aus den Kreisen von Reichsregierungen sind für
82
Etwa das „ENGEL-Geld“ des „Königreichs Deutschland“ um Peter Fitzek. Vergl. Königreich Deutschland (o.
J.): Peter. Oberster Souverän, Wittenberg, online unter: http://koenigreichdeutschland.org/de/peter.html (Stand
24.06.2016).
83
Vergl. O. A.: „König von Deutschland“ in U-Haft, auf: MDR Sachsen-Anhalt vom 8.06.2016, online unter:
http://www.mdr.de/sachsen-anhalt/koenig-von-deutschland-in-u-haft-100_zc-3cab68a5_zs-e4873e5f.html
(Stand: 24.06.2016).
Ob die Zahlungsverweigerung an die Bundesrepublik Deutschland aus der Reichsideologie folgt oder der
Wunsch nach Zahlungsverweigerung potentielle Anhängerinnen und Anhänger erst auf die Reichsideologie
verwiesen hat, kann an dieser Stelle auf Grund fehlender Forschung nicht beantwortet werden. Auffällig ist, dass
Steuern und Zahlungen im Vergleich zu anderen Themen von Reichsideologinnen und -ideologen zumeist sehr
ausführlich behandelt werden. Die Vordrucke und Begründungsbausteine sind jedoch ein einfaches Mittel, um
Menschen mit reichsideologischer Propaganda in Kontakt zu bringen, die lediglich Steuern oder Ähnliches
einsparen wollen.
84
47
diese Vorgänge zumeist sogenannte „Volksgerichtshöfe“ oder „Reichsgerichtspräsidenten“ zuständig. Der Vorwurf gegen Beamtinnen und
Beamte sowie Angestellte ist zumeist „Hochverrat“, da sie einer volksfremden Institution dienten und nicht den Anweisungen des „echten“
Staates folgen würden.85
Neben diesen Tätigkeiten drängt es Menschen aus dem reichsideologischen Milieu auch zur unmittelbaren Gewaltausübung. Dies beinhaltet
etwa den individuellen Schusswaffenkauf86 oder den Zusammenschluss
in pseudoexekutiven Gruppen, wie etwa dem Deutschen Polizei Hilfswerk
(DPHW).87 Ziel ist es, die eigenen Ordnungsvorstellungen gegen die
bundesrepublikanischen mit Gewalt durchzusetzen.
Exkurs I: Anknüpfungspunkte reichsideologischer Diskurse
Die reichsideologische Gedankenwelt bietet viele Einstiegsmöglichkeiten für Menschen, deren vornehmliches Interesse nicht von Steuerverweigerung getrieben wird. Durch die Offenheit der Reichsideologie für
andere Ideologeme ergeben sich weitere Möglichkeiten zur individuellen Bedürfnisbefriedigung potentieller Anhängerinnen und Anhänger.
Dazu zählen verwandte Welterklärungssysteme, wie Esoterik, Neuheidentum und andere Religionen, aber auch romantische Ausstiegs- und
Unmittelbarkeitsvorstellungen samt Biolandwirtschaft, Tauschring oder
ökologischer Siedlung.88 Anschlussfähig sind grundsätzlich alle anderen
Elemente zeitgenössischer antimoderner Ideologien, seien dies völki85
86
87
88
Das bekannteste Beispiel für Morddrohungen lieferte im Jahr 2012 Die Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft
von Philosophen (NGvP). Bereits in der Adressierung machte sich ihre rassistische Ausrichtung deutlich. Vergl.
RATHJE, JAN (2014): „Wir sind wieder da“. Die „Reichsbürger“: Überzeugungen, Gefahren,
Handlungsstrategien, Berlin, S. 21f.
Vergl. KRISCHER, HEINZ: Spinner oder Gefährder. Wenn „Reichsbürger“ sich mit Kalaschnikows bewaffnen, in
Die Welt vom 20.06.2016, online unter: http://www.welt.de/regionales/nrw/article156317241/Wenn-Reichsbuerger-sich-mit-Kalaschnikows-bewaffnen.html (Stand 24.06.2016); o. A.: Brandenburgs Verfassungsschutz
besorgt wegen bewaffneter „Reichsbürger“, in: ZEIT ONLINE vom 09.06.2016, online unter:
http://www.zeit.de/news/2016-06/09/deutschland-brandenburgs-verfassungsschutz-besorgt-wegenbewaffneter-reichsbuerger-09161008 (Stand: 24.06.2016).
Vergl. etwa RATHJE (2015), Die „Reichsbürger“, S. 22-24; Locke, Stefan: Selbsternannte Bürgerwehr.
Amtsgericht in Meißen verurteilt „Reichsbürger“, in: FAZ.net vom 15.01.2016, online unter:
http://www.faz.net/-gum-8cevu (Stand (24.06.2016).
Zum Verhältnis von Nationalsozialismus, Rechtsextremismus und Esoterik vergl. BARTH, CLAUDIA (2003): Über
alles in der Welt - Esoterik und Leitkultur. Eine Einführung in die Kritik irrationaler Welterklärungen,
Aschaffenburg; GOODRICK-CLARKE, NICHOLAS (2004): Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus,
Wiesbaden; DERS. (2009): Im Schatten der schwarzen Sonne. Arische Kulte, esoterischer Nationalsozialismus
und die Politik der Abgrenzung, Wiesbaden.
48
sche Kapitalismuskritik oder antiindividualistische Gesellschaftsmodelle.
Funktionen von Verschwörungsideologien
Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber beschreibt vier
Funktionen von Verschwörungsideologien,89 zu denen die Reichsideologie als deutsche Sonderform zu rechnen ist. Diese umfassen die Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion, die Identitätsfunktion, die Manipulationsfunktion sowie die Legitimationsfunktion.90
Die Zusammenhänge der Gesellschaft sind vielschichtig und unübersichtlich. Vieles vollzieht sich hinter dem Rücken der Menschen, die
Zusammenhänge von verschiedenen menschlichen Handlungen sind
nur schwer zu begreifen. Verschwörungsideologien bieten in ihrer Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion ganz allgemein die Möglichkeit, gesellschaftliche und historische Ereignisse sinnvoll zu ordnen. Dies haben
sie mit der Esoterik und den Religionen gemein; vor allem dann, wenn
es um die Beantwortung der Frage geht, warum guten Menschen
Schlechtes widerfährt.91 Verschwörungsideologien vereinfachen jedoch
die gesellschaftlichen Zusammenhänge in unzureichender Weise, wenn
in ihnen bestimmte Feindinnen und Feinde alleinig für das Leid in der
Welt verantwortlich gemacht werden. Dabei folgen Verschwörungsideologien einer überlegenen Logik. Sie können auch zwischen unzusammenhängenden oder widersprüchlichen Ereignissen Verbindungen herstellen. In der Vorstellung einer einzigen großen Weltverschwörung befähigt die Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion ihre Anhängerinnen
und Anhänger, alle geschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignisse zu
ordnen; sie wird zur Welterklärung.
89
90
91
Vergl. PFAHL-TRAUGHBER, ARMIN (2002): „Bausteine“ einer Theorie über „Verschwörungstheorien“.
Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen, in: HELMUT REINALTER (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Theorie, Geschichte, Wirkung, Innsbruck, S. 30–44.
Daniel Kulla weist zurecht darauf hin, dass diese Funktionen nicht auf Verschwörungsideologien begrenzt sind,
sondern Bestandteil von Ideologien im Allgemeinen sind. Vergl. Kulla, Daniel: Verschwörungstheorien und
Nationalismus. Handeln wollen, verstehen müssen, in: Jungle World Nr. 23 vom 9.06.2016, online unter:
http://jungle-world.com/artikel/2016/23/54147.html (Stand: 24.06.2016).
Vergl. GROH, DIETER (1992): Die verschwörungstheoretische Versuchung oder: Why do bad things happen to
good people?, in: DERS.: Anthropologische Dimensionen der Geschichte, Frankfurt am Main, S. 267–304.
49
Tabelle 2 Aktuelle verschwörungsideologische Selbst- und Feindbildkonstruktionen
Selbstbild
Das Gute
Mehrheit
Volk, „Wir hier unten“
Kollektiv/Gemeinschaft
Feindbild
Das Böse
Minderheit
Nicht-Volk, Elite, „Die da oben“
Individuum/Gesellschaft
deutsch
antideutsch
Opfer
Manipulierte
Betrogene
Täter
Manipulierende
Betrügende
Zirkulation (Geldwirtschaft,
Banken, Zins)
Kapitalismus
Massenproduktion
faul, geistige Arbeit
Produktion („echte Wirtschaft“)
Kapitalismuskritik
Kleinproduktion
tüchtig, körperliche Arbeit
idealistisch
materialistisch (gekauft/bezahlt)
arm
anständig/sittsam/gottgefällig
Unmittelbarkeit
reich
pervers/sittenwidrig/satanisch
Vermittlung
Die Identitätsfunktion von Verschwörungsideologien bedient ein wichtiges Bedürfnis der Menschen in der Moderne nach Identität. Gefühlen
der Vereinzelung und Unbestimmtheit setzen Verschwörungsideologien
klare Gruppen entgegen. Sie bieten ihren Anhängerinnen und Anhängern Feind- und Selbstbilder zur Identifikation. Die Beschreibungen
der eigenen und der gegnerischen Gruppe sind in einem dualistischen
Weltbild verbunden, das keinen Raum für Zweifel, Widersprüche und
Ambivalenzen bietet. Die Einteilung und Beschreibung beider Gruppen wird gleichzeitig vorgenommen, die Gruppen stehen in einem
wechselseitigen Verhältnis zueinander. Tabelle 2 umfasst einige allgemeine Eigenschaften der beiden Gruppen in Verschwörungsideologien,
die im dualistischen Weltbild verbunden sind.
Die Identitätsfunktion muss in den Auseinandersetzungen mit Verschwörungsideologinnen und -ideologen eine besondere Aufmerksam50
keit erfahren. Sie verweist auf irrationale Prozesse, denen nicht einfach
mit Logik oder Gegenargumenten begegnet werden kann.
Menschen nutzen Verschwörungsideologien ebenfalls als Manipulationsinstrument. Ein Ziel dieser Manipulation kann es sein, eine verschwörungsideologische Gruppe aus den Zusehenden oder Zuhörenden zu
bilden. Wie bereits in der Identitätsfunktion vorgestellt, reicht es dazu
aus, wenn die beeinflussende Person dem Publikum Sündenböcke für
alles Schlechte in der Gesellschaft präsentiert. Hier zeigt sich die Nähe
zum Populismus und seiner Unterteilung von „Volk“ gegen „Elite“.
Gerade durch das Web 2.0 und die sozialen Medien ist es einfacher
geworden, andere verschwörungsideologisch aufzuhetzen. Gleichzeitig
lassen sich Verschwörungsideologien auch zum Aufruf zu Taten gegen
die „Schuldigen“ einsetzen.
In der Legitimationsfunktion werden diese Taten schließlich gerechtfertigt.
Dazu zählen beispielsweise Maßnahmen der Beherrschung, der Unterdrückung und im Extremfall auch der Vernichtung bestimmter Menschen. Die Folge ist, dass den „Feinden“ in unterschiedlichem Ausmaß
Gewalt angetan werden darf, weil sie angeblich zu den „Bösen“ gehören oder mit ihnen sympathisieren. Besonders gefährlich ist dabei, dass
durch die nachgesagte Schrecklichkeit der begangenen Verbrechen der
„Verschwörerinnen und Verschwörer“ (Massen-, Kindsmord etc.) genauso gewalttätige „Gegenmaßnahmen“ gerechtfertigt erscheinen. Die
Legitimationsfunktion kann darüber hinaus auch der Rechtfertigung
des eigenen Scheiterns und der Abwehr von Schuld oder individueller
Verantwortung eigenen Handelns dienen.92
Ursachen
Entgegen der verbreiteten Vorstellung, es handele sich bei Verschwörungsideologinnen und -ideologen ausschließlich um paranoide, psychisch kranke Personen, sind aus wissenschaftlicher Perspektive vornehmlich gesellschaftliche und individuelle Ursachen für die Akzeptanz
92
Vergl. zur Abwehr individueller Verantwortung im Kontext moderner gesellschaftlicher Konstellationen
LÖWENTHAL, LEO (1990): Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus. Frankfurt am Main, S. 39f.
51
von Verschwörungsideologien verantwortlich.93
Nicht alle Menschen sind auf Grund ihrer Psyche anfällig für den
Glauben an Verschwörungsideologien. Als individuelle Ursache für den
Glauben an eine Verschwörungsideologie wird eine Verschwörungsmentalität als Teil der psychischen Strukturen bestimmter Menschen angenommen. Sie entsteht, wenn Kinder von ihren Eltern besonders autoritär erzogen werden. Anschließend neigen sie nicht nur eher dazu,
Feindseligkeit gegen Andere und Schwächere zu entwickeln, sondern
auch an die Existenz des Bösen in der Welt zu glauben. Dieser Glaube
an das Böse macht sie anfällig dafür, Verschwörungsideologien zu folgen, denn Verschwörungsideologien folgen der Einteilung der Welt in
Gut und Böse. Menschen mit einer Verschwörungsmentalität müssen
nicht jederzeit offen Verschwörungsideologien vertreten. Ihre Anfälligkeit für dieses Denken kann sich auch verdeckt in einzelnen Einstellungen äußern.
Die gesellschaftlichen Ursachen für den Glauben an Verschwörungsideologien lassen sich in allgemeine gesellschaftliche und politische Ursachen unterteilen. Verschwörungsideologien haben zu bestimmten
Zeiten Konjunktur. Große gesellschaftliche Veränderungen begünstigen die Verbreitung von „Verschwörungstheorien“ in der Bevölkerung.
So wurde bereits die Französische Revolution (1789) von ihren Gegnern als Verschwörung von „den Juden“, Freimaurern und Sozialisten
bezeichnet.94 Auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) oder
den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA blühten die
Verschwörungsideologien auf. Als gewaltiger gesellschaftlicher Umbruch muss auch die Herausbildung des kapitalistischen Wirtschaftssystems gewertet werden, das durch seine ungeheure Dynamik und
Wandelbarkeit eine stetige Veränderung im Leben der Menschen erzeugt. Dies gilt besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
und den damit verbundenen Veränderungen für die ehemaligen realsozialistischen Gesellschaften. Große gesellschaftliche Umbrüche haben weitreichende Folgen für die Individuen. Es kommt zu Verunsicherungen des eigenen Denkens und zu Abstiegsängsten. Die gewohnte
93
94
Vergl. PFAHL-TRAUGHBER (2002), „Bausteine“; sowie IMHOFF, ROLAND/DECKER, OLIVER (2013):
Verschwörungsmentalität als Weltbild, in: BRÄHLER, ELMAR/DECKER, OLIVER/KIESS, JOHANNES (Hrsg.):
Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose, Gießen, Lahn, S. 146–161.
Vergl. etwa ROGALLA VON BIEBERSTEIN, JOHANNES (1992): Die These von der Verschwörung, 1776-1945.
Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Flensburg.
52
Art, dem Weltgeschehen einen Sinn zuzuordnen, wird erschüttert.
Diese Missstände und emotionalen Hintergründe sind jedoch nicht nur
in der Einbildung von Verschwörungsideologinnen und -ideologen vorhanden. Sie sind der Ausdruck eines großen sozialen Unbehagens, das
die Gesellschaft durch ihren Aufbau in den Menschen hervorbringt.95
Verschwörungsideologien stellen eine Möglichkeit dar, Halt in einer
sich stetig verändernden Welt zu finden.
Die bloße Existenz von individuellen Verschwörungsmentalitäten und
gesellschaftlichen Umbruchsprozessen reichen jedoch nicht aus, damit
Verschwörungsideologien sich verbreiten. Letztlich bedarf es der Menschen, die mit ihrer Agitation diese Aufgabe übernehmen. Dazu können sie beispielsweise Reden halten, Bücher schreiben, Beiträge in sozialen Netzwerken veröffentlichen oder gleich eigene Medien mit Zeitschriften, Fernseh- und Radiosendern gründen. Grundsätzlich geht es
darum, einer breiten Öffentlichkeit die eigenen Verschwörungsideologien zu präsentieren, darin bestimmte Gefühle und Beschwerden der
Bevölkerung aufzugreifen und zu ordnen, um schließlich die eigene
Gefolgschaft zu bestimmten Handlungen zu motivieren. Das Internet
ist hierfür ein wichtiges Mittel.
Antisemitismus und Verschwörungsideologien
Antisemitismus und Verschwörungsideologien sind eng miteinander
verbunden. Sie gleichen sich in ihrer Funktion, alle Ereignisse in der
Welt zu erklären. Auch wenn Jüdinnen und Juden nicht offen als böse
Verschwörerinnen und Verschwörer bezeichnet werden, finden zumeist
bestimmte Feindbilder in der Beschreibung der Verschwörerinnen und
Verschwörer eine Anwendung, die den traditionellen Judenbildern moderner Gesellschaften entstammt. In weiten Teilen der Erde entwickelten Nichtjüdinnen und Nichtjuden eine Vielzahl negativer, gegensätzlicher und mythischer Bilder von „den Juden“. In antisemitischen Stereotypen sind diese Bilder auch heute noch präsent. Bereits im frühen
Christentum wurden „die Juden“ als Vertreter des Bösen und Verbün95
Vergl. LÖWENTHAL, Falsche Propheten, S. 25-34.
53
dete des „Antichristen“ bezeichnet. In dieser Funktion wurden Jüdinnen und Juden für alle möglichen Verbrechen und Schlechtigkeiten verantwortlich gemacht. Man warf ihnen vor, im Geheimen gegen das
Christentum zu arbeiten; sie wurden als Inbegriff des Bösen oder zumindest als dessen Agenten angesehen.96 Die Unterstellungen von „Ritualmorden“ an christlichen Kindern, von „Brunnenvergiftung“ oder
„Hostienschändung“ führten in der europäischen Geschichte immer
wieder zu Vertreibungen und Pogromen.
Mit den großen gesellschaftlichen Umbrüchen der Moderne im 18. und
19 Jahrhundert, also der Französischen Revolution, der Industrialisierung und den damit verbundenen sozialen Spannungen, entstand auch
der moderne Antisemitismus. Teil dieses Antisemitismus ist auch der
Mythos einer „jüdischen Weltverschwörung“. Darin werden Jüdinnen
und Juden in alter Tradition auch für die negativen Anteile der gesellschaftlichen Modernisierung verantwortlich gemacht. Von den Gegnerinnen und Gegnern der Moderne werden sie mit ihr gleichgesetzt97:
Als „jüdisch“ gelten in diesem Verständnis etwa individuelle Menschenrechte, Säkularismus, Liberalismus, Demokratie, Betonung des Individuums, die Herausbildung gesellschaftlicher Eliten, Massenmedien, Materialismus in Form des Kapitalismus und Kommunismus, Geld und
Zinsen. In der Vorstellung der Verschwörungsideologinnen und -ideologen bedienten sich die vorgeblich schwächlichen aber schlauen Jüdinnen und Juden dieser Mittel, um auf Kosten anderer zu leben und diese
beherrschen zu können. Dieses Judenbild nutzen nicht nur rechtsextreme Gegnerinnen und Gegner der Moderne. Auch „Alternative“, Linke und Islamistinnen und Islamisten greifen darauf zurück. Die
Ablehnung der Moderne und das damit verknüpfte Judenbild bietet all
diesen Gruppierungen eine Möglichkeit zum Zusammenschluss zu einer sogenannten Querfront. Die fiktiven „Protokolle der Weisen von Zion“
griffen zur Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts dieses Judenbild auf
und sorgten für eine Verbreitung des Mythos einer „jüdischen Weltverschwörung“. Im Rechtsextremismus spielt er seit dieser Zeit eine zentrale Rolle.98
96
Vergl. WIPPERMANN, WOLFGANG (2007): Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute,
Berlin-Brandenburg.
97
Vergl. etwa RENSMANN, LARS (2005): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der
Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden, S. 497.
Vergl. BUNDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ (2002): Die Bedeutung des Antisemitismus im aktuellen
deutschen Rechtsextremismus.
98
54
Heutzutage muss eine Weltverschwörung jedoch nicht mehr als „jüdisch“ bezeichnet werden, um antisemitisch zu sein. Aufgrund der allgemeinen Bekanntheit vermeintlich „jüdischer“ Eigenschaften ist dies
nicht mehr notwendig. Es genügt, bewusst und unbewusst antisemitische Codes zu nutzen. Dies hängt damit zusammen, dass Verschwörungsideologien auf dualistischen Weltbildern aufbauen: Die Guten
kämpfen gegen die Bösen (dazwischen befinden sich die Unwissenden).
Wenn nun das Böse beschrieben werden soll, das im Geheimen wirkt,
so kommen in Gesellschaften mit latentem Antisemitismus diejenigen
Eigenschaften zum Vorschein, die in der Vergangenheit Jüdinnen und
Juden als „Agenten des Bösen“ zugeschrieben worden sind. Wenn also
das Bild der bösen Weltverschwörerinnen und -verschwörer gezeichnet
wird, dann handelt es sich dabei um eines, das durch wenige Pinselstriche zum „Juden“ konkretisiert werden kann. Dies ist möglich, weil dieses Bild aufgrund des gesellschaftlichen Judenbildes zu Beginn bereits
eine angedeutete Version der „jüdischen Weltverschwörung“ darstellte.
Die antisemitische Fiktion der Protokolle der Weisen von Zion ist zum
Framing, d. h. zum Rahmen, der großen Weltverschwörung geworden,
innerhalb dessen Verschwörungsideologeme nach individuellen Vorlieben eingefügt werden können. Antisemitismus ist folglich nicht ein
ideologischer Baustein unter anderen, sondern der Konstruktionsplan.
Verschwörungsvorstellungen sind so fest im Judenbild verankert, dass
in wissenschaftlichen Studien zum deutschen Antisemitismus dieser unter anderem durch die Zustimmung zu den folgenden Aussagen abgefragt wird: „Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen
Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen“ und „Juden haben in
Deutschland zu viel Einfluss“.99 Die Gefahr der Nutzung antisemitischer Codes wächst, je stärker die Verschwörungserzählung als Weltverschwörung und Welterklärung angelegt wird. Die allumfassende Weltverschwörung ist durch die „Protokolle“ bereits so sehr als „jüdisch“
gebrandmarkt, dass aktuelle Versionen sich nicht mehr offen auf diese
Quelle beziehen müssen.
99
MELZER, RALF/ ZICK, ANDREAS/KLEIN, ANNA (2014) (Hrsg.): Fragile Mitte - feindselige Zustände.
Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn, S. 36, 70.
55
Handlungsoptionen
Vor den besonderen Formen der Auseinandersetzung mit Verschwörungsideologien und ihren Anhängerinnen und Anhängern gilt es einige allgemeine Handlungsoptionen zu beachten. So sollte selbst kein widerspruchsfreies dualistisches Weltbild vertreten werden, in welchem lediglich
die Rollen von Gut/Böse vertauscht werden. Eine Abwertung von Anhängerinnen und Anhängern als „Verrückte“ oder Randgestalten überdeckt die gesellschaftlichen Ursprünge von Verschwörungsideologien
und konstruiert eine vermeintlich „normale“ Mitte der Gesellschaft.
Auch nicht-verschwörungsideologische Weltbilder der „Normalen“ haben ideologische Inhalte, Bereiche des Nichtwissens und der Fehlschlüsse. Deshalb sollte nicht einfach für die eine „normale“ Position
eingetreten werden, sondern die potentielle Fehlerhaftigkeit der eigenen
Informationsquellen anerkannt werden, ohne gleichzeitig Verschwörungsideologien zuzustimmen. Dies gilt besonders in den Auseinandersetzungen um den Themenkomplex „Lügenpresse“. Das Gegenteil der
verschwörungsideologischen Position ist nicht die eine nicht-verschwörungsideologische, „normale“ Position, sondern im Sinne des Pluralismus viele unterschiedliche Positionen. In Fällen des Zweifels kann es
manchmal jedoch nicht schaden, auch die eigene Unwissenheit einzugestehen und weitere Analysen abzuwarten. Es braucht Zeit, Erklärungen
für gesellschaftliche, geschichtliche und private Ereignisse zu ermitteln.
Verschwörungsideologien nehmen hier eine unzulässige Abkürzung.
Darüber hinaus sollten Menschenfeindlichen die Elemente, die Verschwörungsideologien zugrunde liegen, stets aufgezeigt werden. Dabei
handelt es sich etwa um Antisemitismus, antidemokratische Gesellschaftsentwürfe, Antipluralismus, Nationalismus und personalisierenden Antikapitalismus.
Satire
Ein beliebtes Mittel zur Auseinandersetzung mit Verschwörungsideologien ist Satire. Menschen die Abwegigkeit der eigenen Überzeugungen satirisch vorzuführen, ist ein Weg, der sie in den meisten Fällen
jedoch nicht erreichen wird. So lässt sich zum einen feststellen, dass
Verschwörungsideologinnen und -ideologen keinen Spaß verstehen –
dies ist auch im wörtlichen Sinne gemeint. Zum anderen ist es sehr
56
schwer für Satire, das Selbstbild von Verschwörungsideologinnen und ideologen dauerhaft anzugreifen: Satire kann Verschwörungsideologien
ihre Autorität nehmen, den Verschwörungsideologinnen und -ideologen jedoch nicht ihr Bedürfnis nach Identität. In bestimmten Fällen
werden die spöttischen Beiträge als Wahrheit aufgefasst, wenn sie das
verschwörungsideologische Weltbild stützen. Die satirische Auseinandersetzung mit Verschwörungsideologien ist also besser dazu geeignet,
Dritte in besonderer Weise aufzuklären und potentielle Verbündete zu
gewinnen.
Fragen als Mittel des Zweifels 100
In der Auseinandersetzung mit verschwörungsideologischen Äußerungen von Menschen, die noch kein geschlossenes Weltbild ausgeprägt
haben, kann es sinnvoll sein, die autoritären Weltbilder und antisemitischen Elemente aufzuzeigen, die Personen jedoch nicht sofort auszugrenzen. Der ursprünglich kritische Impuls, die gesellschaftlichen Begebenheiten zu hinterfragen, wird von „Verschwörungstheorien“ in die
ideologische Sackgasse gelenkt. Um dem entgegenzuwirken, können
Fragen zum Gesamtbild der Verschwörungserzählung gestellt werden,
aber auch danach, ob nicht auch andere Ursachen möglich wären. Ziel
dieser Fragen ist es, Verschwörungsideologien als eine (problematische)
Erklärung für gesellschaftliche, geschichtliche oder private Ereignisse
unter vielen anderen aufzuzeigen sowie die widerspruchsfreie Welterklärung mit eindeutigen Rollenverteilungen wieder für Widerspruch
und Zweifel empfänglich zu machen. Anschließend können in gemeinsamen Recherchen die problematischen Inhalte herausgearbeitet werden, etwa indem Webseiten aufgesucht werden, die sich kritisch mit
einzelnen Verschwörungsideologien auseinandersetzen.
Debunking101
Debunking, zu Deutsch „Entlarven“, ist eine Methode, um falsche Informationen von Mythen, Ideen oder Überzeugungen aufzudecken. Bei
100 Vergl. WOLF, MERLIN (2015): Verschwörungstheorien. Wer regiert die Welt?, in: DERS. (Hrsg.): Zur Kritik
irrationaler Weltanschauungen. Religion - Esoterik - Verschwörungstheorie - Antisemitismus, Aschaffenburg, S.
109–125, 123f.
101 Vergl. COOK, J./LEWANDOWSKY, S (2011).: The Debunking Handbook, St. Lucia.
57
der Methode geht es konkret darum, falsche Informationen oder Lügen
von Verschwörungsideologien mit Fakten offenzulegen und zu entkräften. Gleichzeitig richtet sich das Debunking nicht nur an Verschwörungsideologinnen und -ideologen, sondern auch an Mitlesende oder
Beistehende, die sich noch kein geschlossenes Weltbild zusammengestellt haben. Debunking legt einen Schwerpunkt auf Fakten und bedarf
deshalb einiger Einarbeitung, um seine Wirkung entfalten zu können.
Dazu kann es hilfreich sein, sich mit Wissenschafts-communities zu
vernetzen, vertrauenswürdige wissenschaftliche Quellen zu studieren
oder sich auf Debunkingseiten über Fakten gegen Verschwörungsideologien zu informieren. Dabei geht es weniger darum, Menschen noch
mehr Informationen zur Verfügung zu stellen, als vielmehr Falschinformationen, Gerüchte und Mythen als solche aufzuzeigen und durch wissenschaftlich belegte Fakten zu ersetzen.
Problematisch am Debunking ist, dass es nicht nur eines speziellen
Wissens bedarf, sondern bei falscher Anwendung auch das Gegenteil
des Intendierten bewirken kann. Menschen, deren Weltbild maßgeblich
von Verschwörungsideologien bestimmt wird, können durch den Versuch des Debunkings in ihren Überzeugungen bestärkt werden. Die
Widersprüche zu ihren falschen Überzeugungen widerlegen nicht einfach nur die Falschinformationen, sondern sie bedrohen auch das
Selbstbild von Verschwörungsideologinnen und -ideologen. Debunking
richtet sich also nur an die Erkenntnisfunktion von Verschwörungsideologien, nicht jedoch an deren Ursachen und die Identitätsfunktion.
Um diese Menschen für das Debunking empfänglich zu machen, bietet
sich an, dem Debunking einen Rahmen zu geben, der es weniger bedrohlich für das vollständige verschwörungsideologische Weltbild der
angesprochenen Person wirken lässt. Auf diese Weise haben die im Debunking enthaltenen Fakten eine größere Chance, nicht pauschal abgelehnt zu werden und die/den Verschwörungsideolog/in/en langfristig
zum Nachdenken über die eigene Position zu bewegen.
Soziale Ächtung
Die soziale Ächtung verschwörungsideologischer Überzeugungen ist
angebracht, um andere von der Ideologie abzuschrecken sowie Verschwörungsideologinnen und -ideologen mit einem geschlossenen
Weltbild keinen Raum für ihre menschenfeindlichen Ideologien zu bie58
ten. Dazu gilt es besonders, sich nicht auf die Detailebene einzelner
verschwörungsideologischer Aussagen zu begeben, sondern das autoritäre Weltbild und die antisemitischen Elemente innerhalb der Verschwörungsideologien zu kritisieren. Auf Dauer sollen so verschwörungsideologische Themen aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt
werden.
Fazit
Einzelne Elemente der „Reichsideologie“ finden derzeit breiten Anschluss an gesellschaftliche Prozesse, die einen populistischen Widerstand gegen die Bundesrepublik Deutschland oder seine vermeintlichen
Eliten darstellt. Die Annahme einer Fremdherrschaft über die Deutschen ist mit seinen abstrakten („die da oben“) wie konkreten („Rothschild“, „Bilderberger“, „die Amis“) Feindbildern anschlussfähig an das
nationalistische Selbstbild, welches die aktuellen Protestbewegungen
von sich zeichnen. Dabei entfaltet die Forderung nach einer deutschen
Souveränität, womit Vorstellungen eines autoritären Volksstaats verbunden sind, eine größere gesellschaftliche Attraktivität als ein wie auch
immer gearteter Aufbau eines Deutschen Reiches. Da es sich insgesamt
um einen verschwörungsideologisch geleiteten Widerstand gegen die
Widersprüche moderner Gesellschaften handelt, der in den Prozessen
dieser Gesellschaften selbst entsteht, ist eine Externalisierung von verschwörungsideologischem Denken und Handeln als psychisch krank
wenig hilfreich für ein Begreifen und Bekämpfen dieser antidemokratischen Phänomene. Die Identitätsfunktion von (Verschwörungs-)Ideologien stellt in diesen Auseinandersetzungen meines Erachtens das gesellschaftliche Hauptproblem dar. In der Konsequenz bedeutet dies,
dass nicht nur Möglichkeiten für eine Akzeptanz von Widersprüchen in
der Gesellschaft gestärkt werden müssen, sondern auch die Kritik der
gesellschaftlichen Verhältnisse, die solcher Art Ideologien produzieren,
vorangetrieben werden muss.
59
60
RECHTSRADIKALISMUS IN DER ESOTERIK:
VERSCHWÖRUNGSWAHN ZWISCHEN GRAUEN MÄNNERN,
ALTEN UFOS UND DER SCHWARZEN SONNE
Dr. Rainer Fromm
„Wenn Dir Buddha begegnet, schlag ihn tot“
Diese Weisheit aus dem Zen-Buddhismus beschreibt wohl am treffendsten die Vorsicht, mit der man auf den sanften Pfaden der Esoterik religiösen und psychologischen Anbietern begegnen sollte. In
kaum einem anderen Wirtschaftszweig wie dem Eso-Markt wird so
skrupellos abgezockt, geblufft und geblendet. Horoskope auf EsoMessen sollen individuelles Seelenheil sichern, bunte Klunkersteinchen
Krankheiten lindern, versilberte Amulette Schaden abwehren und nachgemachte Indianertrommeln samt Federkopfschmuck angeblich eigene
Wurzeln erkennen lassen – billige Instantmystik im 21. Jahrhundert.
Auf der anderen Seite erinnert der Aufbruch vieler Sinnsuchender im
neuen Jahrtausend an die Losung, die während der Studentenunruhen
Mai 1968 an die Mauern der Pariser Sorbonne geschrieben wurde:
„In euerer Welt gibt es kein Glück. Wir sind aufgebrochen, es zu suchen.“
Aber immer wieder endet der esoterische Aufbruch bereits nach wenigen Monaten in den Zwangsjacken falscher Sinnstifter, die Suche
nach dem inneren Frieden in seelischer und finanzieller Ausbeutung,
Familienzerrüttung bis hin zu Selbstmord oder Mord.
Und es ist immer dieselbe Frage: Warum können hochintelligente und
reflektierte Menschen in einem destruktiven Kult scheitern? Vielleicht
ist eine Antwort, gerade weil sie intelligent sind und auf ihre dringenden Fragen nach dem Sinn, dem Warum, bisher die falschen Antworten
bekamen.
Hier setzt Esoterik an – denn was anderes bedeutet Esoterik als okkultes, geheimes Wissen. Bestsellerautoren der Szene haben das erkannt.
61
Ihr Erfolgsgeheimnis liegt in der Verheißung, angebliches Geheimwissen preiszugeben. In seinem Erfolgsbuch „Entwirrungen“ fragt der
esoterische Autor Jo Conrad, „was ist mit dieser äußerst dysfunktionalen Welt
eigentlich los? Warum werden so viele Entscheidungen wider alle Vernunft getroffen?“ 102 In einem skurrilen Mix aus rechtsradikalen Verschwörungstheorien, Schwarz-Weiß-Stereotypen und nicht verifizierbaren Vermutungen lokalisiert Conrad die Wurzel des Übels darin, dass „Mächte am
Werk sind, die unseren Planeten kontrollieren“.103 Explizit nennt er unter anderem „Illuminati, Bilderberger, Vatikan, Zionisten, CIA, Rothschilds, CFR, NSA, Trilaterale Kommission, JASON Society, Skull &
Bones etc.“ 104 Die Produkte des unheilvollen Wirkens der Verschwörer
skizziert Conrad in einem imposanten Horrorszenario von „Hunger,
Krieg, Entbehrungen, Hass, Neid und Seuchen“ 105. Doch dazu an anderer
Stelle noch ausführlicher.
Und Jo Conrad ist nur ein Autor von vielen, die in der verfassungsfeindlichen Nische rechtsradikaler Klischees zur Welterklärung ihren
Platz gefunden haben. Bei genauerem Hinsehen stößt man auf ein ganzes Netzwerk Gleichgesinnter, die abwechselnd auf Tagungen, in Aufsätzen oder in zum Teil sehr erfolgreichen Buchveröffentlichungen versuchen die Welt zu deuten. Nicht alles ist rechtsradikal, nicht alles menschenverachtend, aber die Inhalte müssen als Brückenköpfe totalitären
und antisemitischen Gedankengutes im gesellschaftlichen Mainstream
interpretiert werden. Aus diesem Grund verdient die verschwörungstheoretische Literatur in der Esoterik weit mehr Platz im kritischen
Diskurs, als ihr bisher zuteil wurde.
Für eine zweite große Gruppe der Esoterik-Interessierten ist es der
Überfluss an Informationen und Nachrichten, die alltäglich multimedial
vermittelt werden, aus deren dichtem Geflecht die Antworten des Okkulten klar strukturierte Aussagen liefern. In Zeiten der Quantenphysik
und der Entschlüsselung des genetischen Codes gibt es immer weniger
Freiraum für Schöpfungsgeheimnisse. Und genau hier findet sich ein
weiteres Argument für das Wachstum des Psychomarktes. Viele Men102 Jo Conrad: Entwirrungen, Covertext
103 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 11
104 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 66
105 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 67
62
schen sträuben sich dagegen, alles erklärt haben zu wollen. Denn rationale Erklärungen machen Handlungen notwendig. Entscheidungen
werden erforderlich und wer Entscheidungen trifft, kann auch Fehler
begehen, für die man zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Hier werden dann Psychoangebote, die vorgaukeln, dass Glauben und
Wissen verwandelbar sind, zur begehrten Ware. Denn gibt es geheimes
Geschehen, das nicht beeinflussbar ist, kann man seine Verantwortung
abgeben. Hierin liegt wohl auch die Attraktivität so genannter karmischer Ansätze, die Massenverbrechen, Kriege und Krankheiten als Folgen für Verfehlungen früherer Leben deuten. Unter Karma-Denken
versteht man in der Esoterik-Bewegung die Überzeugung, dass das Leben vom Schicksal vorherbestimmt ist, das von der bekannten esoterischen Vordenkerin Helena Petrovna Blavatsky (31.7.1831-8.5.1891)
auch als „das unfehlbare GESETZ DER VERGELTUNG“ beschrieben
wird. Dazu ergänzt sie:
„Das Eine Leben steht in enger Beziehung zu dem Einen Gesetze, welches die
Welt des Seins beherrscht – zu KARMA“.106
Beispielhaft hierfür steht das Werk „Karma und Gnade“ von Peter
Michel. Hier erfährt die Leserschaft, dass alle Not und alles Leid die
„schlichte Faktizität eines kosmischen Gesetzes“ sei:
„Das Karma belohnt nicht und straft nicht, es stellt lediglich die verloren gegangene
Harmonie wieder her. Wer leidet, verdient sein Leiden, und wer Grund hat, sich zu
freuen, erntet, wo er gesät hat“.107
In einer Tabelle erklärt Peter Michel Krankheiten, indem er sie mit der
„karmischen Ursache“ früherer Leben verknüpft.108
Krankheit
Karmische Ursache
Multiple Sklerose
Hass, Eifersucht, Selbstverachtung, Angst
106 Helena Petrovna Blavatsky, Die Geheimlehre, Band 1, S. 695
107 Thomas Michel, a.a.O., S. 110
108
Thomas Michel, a.a.O. , S. 114
63
Down-Syndrom
(„Mongolismus“)
Infektion
Organdeformation
Masern
Krebs
Diphtherie
Verkrüppelung
Übergewicht
Epilepsie
Rücksichtslosigkeit, Selbstsucht
Gier, extremer Gewerbssinn
Lügenhaftigkeit
Chronische Selbsttäuschung
Kollektivschuld durch schwarze Magie
Affekt-Handlungen
Grausamkeit
Spott gegen Korpulente
Sexuelle Exzesse
Eine menschenfeindliche Auffassung, die sich nur schwerlich den Eltern krebskranker Kinder vermitteln lässt. In diesem Zusammenhang
weist Michel auf die „ausschließliche Eigenverantwortung des Menschen für sein karmisches Leiden“ hin.109 Wie andere Esoteriker deutet
Thomas Michel „Karma“ nicht nur in individuellen Zusammenhängen,
sondern auch kollektiv:
„Zu den schwierigsten karmischen Zusammenhängen zählen die Ereignisse bei großen Katastrophen, Vulkanausbrüchen, Erdbeben, Flugzeugabstürzen oder ähnlichen. Hier können möglicherweise keine unmittelbaren Ursachen im Karma des
Einzelnen ausfindig gemacht werden. Die Menschen, die jene Form eines gewaltsamen Todes erleiden, müssen möglicherweise keine kausale ‚Schuld’ ausgleichen, ‚es
gehört aber zum Karma der betreffenden Menschen, dass sie diesen Untergang erleiden’“.110
Angeblich kosmische Wahrheiten, die fernab der Beobachtung von
deutschen Innenbehörden im Esoterikfachhandel verkauft werden und
weitaus effektiver als die allgegenwärtig stigmatisierte NPD-Propaganda dazu geeignet sind, Menschenverachtung durch die Hintertür in das
Bewusstsein der Gesellschaft zu streuen.
109 Thomas Michel, a.a.O., S. 114
110 Thomas Michel, a.a.O., S. 114
64
Bei Verschwörungstheoretikern zu Hause
Zwischen altem Ungeist und neuen Dimensionen
Regelmäßig treffen sich überall in Deutschland esoterische Verschwörungstheoretiker. Besonders beliebt ist der so genannte „Regentreff“ im
Gasthof am Rathaus der bayerischen Stadt Regen. Die Veranstaltung
zieht hunderte von Zuhörern an, die gebannt den absurdesten Theorien folgen, die Referenten aus ganz Europa präsentieren. Die Besucher
kommen aus gebildeten Schichten – Akademiker, Studenten, Familien,
die sich hier regelmäßig mit Informationen aus dem Grenzbereich zwischen Verschwörungswahn, Esoterik und individuellem Forschergeist
versorgen lassen. Am 31. Juli 2004 präsentiert ein Referent die eigenwillige These, „dass Dinosaurier und Menschen zusammengelebt“ hätten.
Absurd, aber harmlos.
Von rechtsextremen Inhalten distanzieren sich die Veranstalter deutlich.
Auf der Homepage des Regentreff-Forums im Internet heißt es:
„Der Betreiber des Forums distanziert sich ausdrücklich von Antisemitismus und
Rassismus jeglicher Art.“ 111
Doch dem aufmerksamen Besucher wird auch schnell klar, dass es eine
zweite Seite des Regentreffs gibt. Zu den Referenten gehören Esoteriker mit reichlich Rechtsdrall wie Armin Risi oder Jo Conrad. Der antisemitische Verschwörungstheoretiker van Helsing wird liebevoll als
„Jan“ beschrieben, „der sich gerne zurückzieht“. Ganz offen jedoch liegen seine Werke aus. Zu Jan van Helsings Werken im Angebot gehört
auch der Titel „Hände weg von diesem Buch!“ 112 Inhalt ist unter anderem die jüdische Rothschild-Familie, die für alles Übel dieser Erde
verantwortlich gemacht wird. An anderer Stelle wird die Kriegsschuld
der Nationalsozialisten negiert. So erfährt die Leserschaft, dass nicht
der NS-Staat, sondern die Illuminaten für den Ausbruch des 1. und 2.
Weltkriegs verantwortlich sind. Ein Auszug:
„Auf dem Weg zu ihrer ‚Neuen Weltordnung’ (Novus Ordo Seclorum) sollte der
Erste Weltkrieg inszeniert werden, um das zaristische Russland in die Hände des
bayerischen Illuminaten-Ordens zu bringen. Russland sollte dann als ‚Buhmann’
111 http://www.f25.pasimony.net/forum63351/, 28.07.2004; vgl. http://www.regentreff.de/forum/, 06.06.2008
112 Jan van Helsing: „Hände weg von diesem Buch !“, Fichtenau 2004, S. 32
65
benutzt werden, um die Ziele der bayerischen Illuminaten weltweit zu fördern.
Der Zweite Weltkrieg sollte über die Manipulation der zwischen den deutschen
Nationalisten und den polnischen Zionisten herrschenden Meinungsverschiedenheiten fabriziert werden. Daraus sollte sich eine Ausdehnung des russischen Einflussbereiches und die Gründung des Staates Israel ergeben.“ 113
Aus der Feder des DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey stammt das Buch
„Prominente ohne Maske“, das gleich neben van Helsing ausliegt.
Die brisante Mischung aus Rechtsextremismus und Esoterik offenbart
sich am deutlichsten in dem ebenfalls im Sortiment befindlichen Video
„UFO - Geheimnisse des dritten Reiches“, das bereits ein Hakenkreuz
auf dem Cover hat. Das Drehbuch des Films stammt von dem Autorenduo Norbert Jürgen Ratthofer und Ralf Ettl, die in der Fachbuchliteratur als rechtsextrem eingestuft werden.114 Nach der Analyse des
Autorenduos Paul Heller und Anton Maegerle greift das Video auf „die
wichtigsten Elemente der Thule-Tradition zurück“.115 Weiter heißt es:
„Den Romanen und Sachbüchern, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Thule
Tradition wieder aufnehmen, haftet Muffigkeit an. (...) Anders die Thule Videos.
Sie haben alles Muffige abgestreift. (...) Der Hitlerbewunderer kommt auf seine
Kosten: der kritische Zuschauer schwankt zwischen Schaudern und Gelächter.
Nichts ist mehr zu spüren von den Mühsalen, völkische Traditionsstränge auf die
Höhe postmoderner Moden zu bringen.“ 116
Im Prospektmaterial, das an diesem Julitag im ganzen Raum verteilt ist,
heißt es zynisch: „Wussten Sie schon? - dass die SS in Auschwitz mit
teuerster High Tech versuchte, das Leben der dortigen Häftlinge zu retten?“ Dazu liegen Kataloge des NPD-Verlages „Deutsche Stimme
Buchversand“ aus Riesa aus – neben der „Angebotsliste Revisionistischer Bücher“.117 Der Katalog liest sich wie ein Who is Who der weltweit bekanntesten Revisionisten, der Inhalt ist eindeutig verfassungsfeindlich. Beispiele sind: „Das Drama der Juden Europas“ von Paul
Rassinier, „Der Auschwitz Mythos“ von Wilhelm Stäglich, „Die Ausch113 Jan van Helsing: „Hände weg von diesem Buch !“, Fichtenau 2004, S. 188
114 vgl. Eduard Gugenberger/Franko Petri/Roman Schweidlenka: Weltverschwörungstheorien: Die neue Gefahr
von rechts, Wien-München 1998, S. 156f.
115 Paul Heller/Anton Maegerle: Thule: Vom völkischen Okkultismus bis zur Neuen Rechten, Stuttgart 1995, S. 147
116 Paul Heller/Anton Maegerle: Thule: Vom völkischen Okkultismus bis zur Neuen Rechten, Stuttgart 1995, S. 144
117 Postbus 46, B-2600 Berchem, Stand: 1.3.2002
66
witz-Lüge“ von Thies Christophersen, „Der erste Leuchter-Bericht“
von Fred Leuchter, „Der Jahrhundert Betrug“ von Arthur R. Butz oder
das antisemitische Hetzbuch „Schelm und Scheusal“ von Gerd Honsik.
Auf dem Flyer „Holocaust und Revisionismus“ einer belgischen Revisionisten-Organisation findet sich übelster Zynismus über die im Holocaust ermordeten Juden.
Frage: „Warum leisteten die Juden gar keinen oder nur schwachen Widerstand?“
Antwort: „Weil ganz offenkundig niemand beabsichtigte, sie auszurotten.“
Mit dem Dementi des Regentreffs, sich vom Rechtsextremismus zu distanzieren, haben die ausliegenden Schriften recht wenig zu tun. Trotzdem: Längst nicht jeder Besucher von derlei Veranstaltungen ist Rechtsextremist – besorgniserregend sind die Einfallstore zum politischen Extremismus. Der Esoterik kommt hier eine Scharnierfunktion zu.
Dieses Dunkelfeld dokumentiert sich auch im Angebot des Schönberger Osiris-Buchversandes, der von Oliver Geschitz, dem Sprecher des
Regentreffs, betrieben wird. Im Angebot finden sich Werke von Jan van
Helsing, Jo Conrad, Armin Risi oder die DVD „UFO - Geheimnisse
des 3. Reiches“.118 Kritiker werfen Geschitz vor, die Veranstaltungen
des Regentreffs seien „nichts weiter als eine Werbeaktion“ des OsirisBuchversandes.119
Verschwörungstheoretische Literatur: Die Illuminatenmär
Verschwörungstheoretische Literatur ist in! Eine skurrile Mischung aus
Akte X-Romantik und Ghostbusters – nur ganz in echt. So manches
bürgerliche Wohnzimmer mutiert beim Lesen in eine unauffällige Detektei. Spurensuche im Internet und in Bibliotheken sowie der Kauf
weiterer verschwörungstheoretischer Werke im Esoterik-Handel sind
immer wieder Begleiterscheinungen der Lektüre. Die Leser werden Teil
eines geistigen Paralleluniversums, in dem Aliens, graue Männer, geniale
Arier und finstere Illuminaten um die Macht auf dem Planeten ringen.
Anything goes – Telephatie, Zeitreisen, Planetenflüge und Zeit-Raum118 vgl. http://shop.strato.de/epages/Store2.sf/?ObjectPath=/Shops/61075500/, 27.3.2007
119 vgl. http://www.transgallaxys.com/-kanzlerzwo/showtopic.php?threadid=86, 27.3.2007
67
Tore werden so selbstverständlich wie Regierungsumbildungen oder
Weltklimagipfel. Irrationalität und Rationalität vermischen sich in literarischen Abenteuern. Wer die Ausführungen der Werke ernst nimmt,
sich die Thesen zu eigen macht, ist bereits im Vorhof einer Ideenwelt
des Okkultismus und des politischen Extremismus.
Die gezielte Indoktrination mit verfassungsfeindlich-rechtem Gedankengut steht allerdings nicht im Mittelpunkt des Interesses der meisten
Autoren. Es geht um die Vermarktung moderner Abenteuer und Sehnsüchte nach Erklärungen einer immer unübersichtlicheren Welt. Die
Sorge vor Globalisierung, der europäischen Erweiterung, internationaler Konflikte bekommt plötzlich einfache Antworten. Doch genau bei
den Erklärungsansätzen für das Übel der Welt landen viele Esoteriker
wieder beim Ungeist der Nazis. Hier werden Antisemitismus und die
Verachtung demokratischer und humanistischer Standards in Größenordnungen betrieben, die ins Mark des esoterischen Mainstreams gehen. Verfassungsfeindliche Lyrik mutiert in diesem Spektrum zu Bestsellern.
Jan van Helsing – ein Grenzgänger zwischen Esoterik und Antisemitismus
Jan van Helsing – vielen ist der Name noch als Vampirjäger bekannt.
Doch der Bekanntheitsgrad des Esoterikers Jan Udo Holey, der sich
den Namen der Romanfigur aus Bram Stokers Vampirlektüre zu eigen
machte, dürfte inzwischen seinem Namensgeber den Rang ablaufen. Er
ist weit über den Eso-Markt hinaus ein bekannter Mann. In seinem
Werk „Die Kinder des neuen Jahrtausends“ widmet er sich dem Phänomen der Indigo-Kinder, die er wegen ihrer „hohen Medialität“ als spirituell sehr fortgeschritten anpreist:
„Die medialen Kinder, die teilweise mit Verstorbenen oder ihrem Schutzengel sprechen können, berichten selbst, was ihre Anwesenheit und ihre besonderen Fähigkeiten für die Entwicklung unsere(r) Gesellschaft als auch unseren gesamten Planeten
bedeutet.“ 120
Biographisch hat van Helsing seinen Hang zum Okkulten in die Wiege
gelegt bekommen. In seiner „ausgesprochen spirituell veranlagte(n) Fa120 www.amadeus-verlag.de/contents/jan-van-helsing.html
68
milie“, gingen „Hellseher, Heiler, Channeling-Meister oder mit dem
Jenseits korrespondierende Menschen“ ein und aus, wie auf der Homepage seines „Amadeus Verlages“ zu lesen ist.121 Sein Vater, Jan Holey,
beschreibt sich als „esoterisch geprägter Unternehmer“.122 In van Helsings Biographie stilisiert sich der Autor selbst als unermüdlichen Suchenden, allzeit Ausschau haltend nach noch ungelösten Menschheitsgeheimnissen. Auf diesen Reisen begegnete er angeblich, wie seiner
Verlagswebseite zu entnehmen ist „nicht nur vielen spirituellen Menschen, sondern auch solchen aus Geheimdiensten, Freimaurerlogen
und Magiern“.123 Der „Wissensaustausch“ mit diesem Insider führte
1993 dann dazu, dass er sein erstes Buch „Geheimgesellschaften und
ihre Macht im 20. Jahrhundert“ schrieb. Das Werk wurde 1995 vom
Ewert-Verlag veröffentlicht. Binnen der ersten Wochen wurden „mehr
als 100 000 Exemplare verkauft, das Stück zu 45 Mark: ein Bestseller,
ein Millionengeschäft“, wie „Die Zeit“ vom 28.5.1998 resümierte.
Dabei sind die meisten Verschwörungstheorien in den Bänden „Geheimgesellschaften 1 und 2 “alles andere als neu. Inhalt der Bände ist
das Bestreben eines finsteren und kriminellen Zirkels, den so genannten „Illuminati“, die Weltherrschaft gänzlich an sich zu reißen und die
Geldströme auf dem Planeten zu beherrschen. Zu diesem Zweck
stürzten diese Verschwörer, an deren Spitze Holey Juden verortet, Nationen in Kriege, um sie danach noch effektiver auszubeuten.
Besonders skrupellos ist der Versuch Holeys, dem Judentum auch
Schuld am Zweiten Weltkrieg zu geben. Eine „offizielle jüdische
Kriegserklärung“ aus dem Jahr 1933 beinhalte einen „heiligen Krieg“
gegen Deutschland, „bis zu dessen Vernichtung“.124
An anderer Stelle heißt es, „dass die Illuminati gezielte Vorbereitungen trafen,
den Zweiten Weltkrieg (...) auszulösen. Und zwar musste Deutschland darin verwickelt werden ob es wollte oder nicht. Und es wollte nicht! Daher musste man es
geschickt in diesen Krieg verwickeln, und zwar so, dass es im nachhinein aussah,
dass Deutschland diesen Krieg angefangen hätte“.125
121 www.amadeus-verlag.de/contents/jan-van-helsing.html
122 www.johannes-holey.de/, 28.07.2004
123 www.amadeus-verlag.de/contents/jan-van-helsing.html
124 Jan van Helsing: Geheimgesellschaften 2, Lathen 1995, S. 88
125 Jan van Helsing: Geheimgesellschaften 2, S. 89
69
In Anbetracht der Menschheitsverbrechen der Illuminaten liest sich die
Beschreibung der Nazis wie eine Verteidigungsschrift des NS-Terrorregimes:
„Die Thule-Leute wussten ganz genau über die jüdischen Banksysteme, sprich
Rothschild und Genossen und über die Protokolle der Weisen von Zion Bescheid
und fühlten sich berufen, in Übereinstimmung mit der Sajaha-Offenbarung, das
Volk, doch ganz speziell das jüdische Banken- und Logensystem, zu bekämpfen
und das Lichtreich auf Erden zu schaffen“.126
Während die nationalsozialistischen „Thule Leute“ also das „Lichtreich
auf Erden“ schaffen wollten, stehen auf der dunklen Seite van Helsings Juden. Selbst die antisemitische Hetzschrift der „Protokolle der
Weisen von Zion“, nach denen Juden um jeden Preis nach der Weltherrschaft trachteten und die längst als Fälschung entlarvt sind, werden
von Holey als echte Quelle verteidigt:
„Was soll denn daran nicht echt sein? Wer soeben die Auszüge aus dem Talmud
gelesen hat, die in ihrer Aussage mit den ‚Protokollen der Weisen von Zion‘ fast
identisch sind, kann den Ursprung der Protokolle beim Westen nicht mehr leugnen!
(...)
Auch ist mir die Frage nach der ‚Echtheit’ unverständlich. Das würde der Aussage
entsprechen, dass die zehn Gebote nicht echt seien“.127
Selbst düsterste Ideen aus dem Mittelalter erleben bei van Helsing eine
Renaissance. In seinen „Geheimgesellschaften“ wird Jahwe zum Satan
und Juden damit gemeinhin zu Teufelsanbetern:
„Der Schaddai, der alttestamentarische Gott, ist der Verderber, der Widersacher
Gottes. Seine Anhängerschaft dient daher der Zerstörung der Erde, der Natur, der
Menschen. Und die Anhängerschaft waren die Hebräer – das jüdische Volk“.128
Die Geschichtsfälschung wird begleitet von einer Verächtlichmachung
der Nachkriegskunst- und Kultur, in der angeblich „alles Erhabene, Erhebende und Schöne außer Kurs sei.“ Dem kollektivistischen Volksgemeinschaftsdenken der Nationalsozialisten setzt der Autor ein Schreckensbild einer pluralen Gesellschaft gegenüber, die mit einem Sittenund Wertezerfall gleichgesetzt wird:
126 Jan van Helsing: Geheimgesellschaften 1, S. 106
127 Jan van Helsing: Geheimgesellschaften 2, S. 124
128 Jan van Helsing: Geheimgesellschaften 1, S. 106
70
„Zur systematischen Zersetzung der westdeutschen Moral gehört die Einführung des
Begriffs der pluralistischen Gesellschaft, wonach sich jedermann seine eigenen Wertmaßstäbe selbst bilden kann, und innerhalb dessen die Verbreitung der Vorstellung, dass es keine absoluten Sittengesetze gibt. (...) Damit wird das westdeutsche
Gemeinschaftsleben schon bei der Jugend zersetzt, und diese lebt weitgehend in einem
moralischen Nihilismus, da sie nicht unterscheidet zwischen Gut und Böse, Recht
und Unrecht (...) An die Stelle allgemeingültiger Leitbilder ist das eigene Ich getreten, an die Stelle des Gemeinwohls der Egoismus“.129
Rechtsextreme Botschaften im esoterischen Gewande. Verkauft werden
die Botschaften van Helsings nicht unter dem Ladentisch des neonazistischen Vertriebsnetzes, sondern neben Dinkelspreukissen, Duftfläschchen und Räucherstäbchen im Esoterik-Fachhandel. Wirft man
einen Blick auf die immensen Verkaufszahlen und den Bekanntheitsgrad van Helsings, können seine „Geheimgesellschaften“ publizistisch
als der „bedeutendste Coup des Rechtsextremismus nach 1945“ bewertet werden.130
Im Mai 1996 lässt die Staatsanwaltschaft Mannheim den Lagerbestand
der Bücher „Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert“
Band 1 und Band 2 beschlagnahmen. Doch ungeachtet der Ermittlungen wiederholt van Helsing auch in späteren Werken seine antisemitischen und revisionistischen Verschwörungslehren. In seiner bisher
neuesten Publikation „Hände weg von diesem Buch!“ heißt es:
„Es sind die privaten internationalen Bankiers! ... diejenigen, welche die Wall
Street steuern und über die Wall Street Konzerne ruinieren oder übernehmen, ja
sogar ganze Länder. Und genau diese Kameraden, welche die Welt über ihr Zinssystem knechten, werden einen künstlich herbeigeführten Banken-Crash (eventuell
mit einem Krieg oder einem weiteren Terroranschlag als Vorwand) dazu nutzen, ...
den nächsten Meilenstein zu ihrer Eine-Welt-Regierung, der Neuen Weltordnung
zu setzen.“ 131
Van Helsings Analyse weist frappierende Nähe zum Kommentar Alfred
Rosenbergs auf, den dieser zum 11. Punkt des NSDAP-Parteipro129 Jan van Helsing: Geheimgesellschaften 1, S. 106
130 Eduard Gugenberger/Franko Petri/Eduard Schweidlenka: Verschwörungstheorien, Wien/München 1998, S.
170
131 Jan van Helsing: Hände weg von diesem Buch!, Fichtenau 2004, S. 208
71
gramms und dessen Vorwurf der Zinsknechtschaft artikulierte.132 Hier
heißt es unter der Überschrift „Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens, Brechung der Zinsknechtschaft“:
„Dass sich ganze Staaten in der Hand einiger Hundert Bankiers befinden und
dass ihre Völker ihnen tributpflichtig sind, das nennt der Nationalsozialismus
Zinsknechtschaft.“ 133
Auch andere esoterische Verschwörungstheoretiker bringen es in die
Rechtsextremismusberichte des Inlandsgeheimdienstes. So lokalisiert
das Bundesamt für Verfassungsschutz „im Fahrwasser“ Jan van Helsings auch den Esoteriker Stefan Erdmann, „der für seine Thesen immer wieder die ‚Protokolle der Weisen von Zion’ bemüht“.134 Erdmann
selbst beschreibt Jan van Helsing als seinen „überaus vertrauensvollen
Freund und Weggefährte(n)“.135 Der gelernte Heilerzieher leitet heute
ein Senioren- und Pflegeheim und forscht seit Ende der achtziger Jahre
mit Expeditionen auf dem Gebiet der „Grenzwissenschaften“. Sein
erstes Buch „Den Göttern auf der Spur“ erscheint 2001 im „AmadeusVerlag“ seines Freundes van Helsing. Nach seiner Kernthese wurde die
Menschheit in einer frühen Phase ihrer Entstehung durch eine höher
entwickelte Zivilisation beeinflusst. Diese sei „von den Sternen gekommen“ und habe „genetisch in die Entwicklung der Erde eingegriffen“.136 In seinem Zweiteiler „Banken, Brot und Bomben“ will er die
Geheimnisse der modernen Geheimgesellschaften der Freimaurer und
Illuminaten lüften. Im ersten Band schreibt Erdmann:
„Die Presse wird den Protokollen entsprechend fast vollständig von der unsichtbaren
Weltregierung gesteuert und bombardiert die Völker ständig mit einer Mischung aus
Irrtum, Lüge und Heuchelei. Zur Aufrechterhaltung der Diktatur in westlichen
Demokratien ist es demnach notwendig, die Völker so lange mit Lügen zu bearbeiten, bis sie diese für Wahrheiten halten.“ 137
Die Passage dokumentiert, wie sehr Erdmann in seinem Denken durch
132 vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Argumentationsmuster im Rechtsextremistischen Antisemitismus –
Aktuelle Entwicklungen, Köln November 2005, S. 11
133 Alfred Rosenberg; Wesen, Grundsätze und Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Das
Programm der Bewegung, München 1937, S. 33-37
134 Bundesamt für Verfassungsschutz: Argumentationsmuster im Rechtsextremistischen Antisemitismus – Aktuelle
Entwicklungen, Köln November 2005, S. 11
135 www.erdmann-forschung.de/vorwort2.html, 16.3.2007
136 www.erdmann-forschung.de/vorwort2.html, 16.3.2007
137 Stefan Erdmann: Banken, Brot und Bomben, Band 1, Fichtenau 2003, S. 336
72
die „Protokolle der Weisen von Zion“ geprägt ist. Andere Aussagen
dokumentieren krude Konspirationsszenarien. Erdmann skizziert ein
„undurchschaubares Netzwerk“, bestehend aus Banken, Versicherungen, Industriekonzernen und Regierungen, „deren Führende Köpfe
Mitglieder von Geheimgesellschaften“ seien. Weiter schreibt der Esoteriker:
„Ihr Ziel ist mit nur wenigen Worten formulierbar: Manipulation, Steuerung und
moderne Beeinflussung (durch Massenmedien) der Massen, radikale Dezimierung
(durch Hunger, Kriege usw.) der Menschheit, um eine zentrale Eine-Welt-Regierung
zu errichten.“ 138
Seine Werke markieren einen wichtigen Graubereich zwischen Esoterik,
Weltverschwörungstheorien und Antisemitismus.
Die Entwirrungen des Jo Conrad
Ebenfalls international bekannt ist der schon genannte Schweizer Publizist Jo Conrad, der in der esoterischen Literatur überall präsent ist, wo
es um angeblich dubiose Machtzirkel geht, die uns kontrollieren. In
Publikationen wie „Net-Journal“, „Menschsein“, „Magazin 2000“ oder
„Zeitenschrift“ erscheinen von Conrad dutzende Artikel.139
Sein Standardwerk „Entwirrungen“ gehört mittlerweile zu einem der
bekanntesten Titel in der esoterischen Literatur und erscheint inzwischen in der achten Auflage. Das Geheimnis des Erfolges liegt in der
Verheißung des Autors, angebliches Geheimwissen preiszugeben. So
stellt er in seinem bereits genannten Buch „Entwirrungen“ die Frage:
„… was ist mit dieser äußerst dysfunktionalen Welt eigentlich los? Warum werden
so viele Entscheidungen wider alle Vernunft getroffen?“ 140
Bei der Suche nach den Antworten will er die Dinge auf den Punkt
bringen – Tabus brechen. Bei seiner Analyse arbeitet Conrad mit
Schwarz-Weiß-Rastern. Während auf der einen Seite angeblich „Mächte
am Werk sind, die unseren Planeten kontrollieren“ und nicht wollen, „dass wir
frei von Angst werden“ 141, sieht der Autor auf der anderen Seite „Licht138 www.erdmann-forschung.de/stadtanzeiger1.html, 16.3.2007
139 vgl. www.joconrad.de/portraet_jo_conrad.htm, 16.03.2007
140 Jo Conrad: Entwirrungen, Covertext
141 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 11
73
arbeiter“. Deren Aufgabe sei es zu „helfen (...) diesen Planeten wieder mit
Licht zu erfüllen, das ihm rechtmäßig zusteht“.142 Auf der finsteren Seite lokalisiert Conrad Freimaurer und Geheimbünde. Explizit nennt er, wie
bereits eingangs skizziert, unter anderem „Illuminati, Bilderberger, Vatikan, Zionisten, CIA, Rothschilds, CFR, NSA, Trilaterale Kommission, JASON Society, Skull & Bones etc.“ 143 In seinem theoretischen Gebäude
nimmt Conrad direkt Bezug auf die Diffamierungen in den Bänden Jan
v. Helsings, die er „jedem nur wärmstens ans Herz“ legen möchte.144 Die
Produkte des unheilvollen Wirkens der Verschwörer skizziert Conrad in
einem imposanten Horrorszenario:
„Alle Völker sollen durch Hunger, Krieg, Entbehrungen, Hass, Neid und Seuchen
zermürbt werden, so dass sie irgendwann eine Lösung der Probleme durch die Illuminaten regelrecht herbei betteln würden. (...) Der Glaube an einen Gott soll ihnen
durch Entsittlichung genommen werden. (...) Die Jugend soll durch eine Erziehung
nach falschen Grundsätzen verdummt, verführt und verdorben werden. So soll erreicht werden, dass die verzweifelten Staaten mit Freude eine gemeinsame Regierung
für die gesamte Welt annehmen werden, ohne zu wissen, dass damit die Illuminati
die Weltherrschaft bekommen. Wenn sich ein Staat widersetzt, müssen die Nachbarstaaten zum Krieg gegen ihn angestachelt werden.“ 145
Unter Bezugnahme auf die Fälschung „Die Protokolle der Weisen von
Zion“ verknüpft Conrad seine Kernthesen mit antisemitischen Klischees. So gingen die Protokolle angeblich auf „ein Treffen von jüdischen Bankern im Hause der Rothschilds in Frankfurt 1773 zurück“.
Hier hätten diese „einen Plan ausgearbeitet wie sie mit denselben Methoden das
Vermögen der Welt unter Kontrolle bringen können“. Dazu sehe man in diesen
Protokollen „den Zustand der Welt, wie wir sie heute haben“.146 Insgesamt
stünden hinter dem „geistigen Chaos“ und der „geistige(n) Desorientierung“
Produkte „jüdische(r) Gedanken“, die „jede staatliche Ordnung durch die Schaffung von Demokratien“ zerstören würden.147 An anderer Stelle wird seitenlang aus den „Protokollen der Weisen von Zion“ zitiert, als Belegdo142 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 16
143 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 66
144 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 66
145 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 67
146 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 70
147 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 70
74
kument für die „Eine-Welt Regierung“ unter der Herrschaft der Illuminati.148
Neben den eher diffusen Verschwörungstheorien findet sich in dem
esoterischen Werk auch ungefilterter Antisemitismus. So ist vom negativen Einfluss „von Juden auf ihre Wirtsländer“ die Rede149 und von ihrem völkermordenden „merkwürdigen Gott Jahwe“.150
In Jo Conrads Folgeband „Zusammenhänge“151 verfestigen sich die antisemitischen Attacken. Hier werden Juden als Teufelsanbeter diffamiert. Den „Gott, der im Alten Testament beschrieben ist“, deklariert
Conrad als „El Shaddai“, als „gefallener oder gescheiterter Engel“. Für
„einige“ sei er „ein Außerirdischer, der z. B. mit einer wahren Höllenmaschine gelandet sein muss.“152
Zwar behauptet der Autor in seinem Buch ,,keinerlei Sympathien für
Nazis oder Rechtsradikale“153 zu besitzen, dennoch finden sich im gesamten Buch eine Vielzahl rechtsextremer Positionen. So negiert der
Autor Deutschlands Kriegsschuld am Zweiten Weltkrieg:
„Viele Bemühungen Hitlers zum Aufbau des vom Versailler Vertrag geknechteten
Landes waren durchaus anerkennenswert. (...) Es erfolgte die Mobilmachung der
polnischen Armee und blutige Übergriffe mit übelsten Grausamkeiten auf die Bevölkerung der ostdeutschen Gebiete. Hitler hielt angeblich die Nachrichten von den
grausigen Morden vor der Öffentlichkeit zurück, da sie geeignet waren, eine Stimmung von Hass zu erzeugen. Erst mit reichlicher Verzögerung griff Hitler Polen
an.“ 154
Aus dem mit Waffengewalt expandierenden Deutschen Reich macht
Conrad ein Opfer internationaler Kräfte – der Angriffskrieg der Nazis
wird zum Notwehrakt verklärt:
„Wohlgemerkt, Churchill begann mit der Bombardierung von Zivilbevölkerung in
deutschen Städten 1940. Es hatte noch keine Judenvernichtung gegeben und außer
dem Angriff auf Polen noch keine kriegerischen Handlungen. Hitler hatte erst
148 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 95
149 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 83
150 Jo Conrad: Entwirrungen, S. 82, S. 84f.
151 Jo Conrad: Zusammenhänge: Was läuft schief in unserer Welt, 4. Auflage, Worpswede 2003
152 Jo Conrad: Zusammenhänge, S. 28ff.
153 Jo Conrad: Zusammenhänge, S. 121
154 Jo Conrad: Zusammenhänge, S. 129
75
1939 begonnen, wieder zu rüsten, nachdem von allen Seiten Gefahr drohte.“ 155
Von UFOs und Nazis
Zu den erfolgreichsten Titeln im Esoterik-Markt zählt Armin Risis
Werk „Machtwechsel auf der Erde“, das sich bis Ende der neunziger
Jahre in der Top-Ten-Liste der deutschsprachigen esoterischen Buchhandlungen befand. Der Autor beschreibt eine geheimnisvolle satanistisch-diabolische Clique, die um die Weltherrschaft kämpft. Risi lokalisiert die Verschwörer unter Freimaurern und Illuminaten, die mit antisemitischen Stereotypen aus der rechtsextremen Mottenkiste angereichert werden:
„Wie aus der vedischen Beschreibung hervorgeht, ist Goldmanipulation das Hauptwerkzeug der diabolischen Intelligenz, durch die sich die dunklen Mächte die Vorherrschaft auf der Erde verschaffen.“ 156
Mit diesem kriminellen Handeln würde für die Verschwörer plötzlich
„eine alte Utopie unverhofft realisierbar: eine umfassende Herrschaft
von Auserwählten, letztendlich eine Weltherrschaft.“157 Angefangen
hatten die konkreten Pläne zur globalen Machtübernahme nach Risi im
Jahr 1776, als in München „die Geheimgesellschaft der Illuminaten ins
Leben gerufen wurde“. Gründer war Adam Weishaupt, „ein enger Vertrauter des Neureichen Mayer Amschel Bauer (1744-1812), der unter
dem selbst zugelegten Namen Rothschild in die Geschichte einging“.158
Damit wird die Lösung des Weltübels schnell transparent: Mit Hilfe einer „Illuminaten Allianz“159 folgen reiche Juden ihrer angeblichen alttestamentarischen Bestimmung, die Welt in ihren Besitz zu nehmen.
Als „der erste große Coup, den die Vertreter dieser Ideologie landeten“,
wird die Französische Revolution beschrieben.160
Im Anbetracht von derlei Aussagen wirkt die „Grundsatzerklärung“
155 Jo Conrad: Zusammenhänge, S. 132
156 Armin Risi: Machtwechsel, S. 253
157 Armin Risi: Machtwechsel, S. 108
158 Armin Risi: Machtwechsel, S. 108
159 Armin Risi: Machtwechsel, S. 109
160 Armin Risi: Machtwechsel, S. 110
76
von Autor und Verlag wie eine Schutzbehauptung, in der sie betonen,
„jede Art von rassistischer, antichristlicher, antijüdischer, antisemitischer (usw.) Voreingenommenheit und Propaganda“ abzulehnen.“161
Zu deutlich schimmert an zahlreichen Stellen des Risi-Werkes eine
Mystifizierung des Deutschen Reiches durch, das angeblich im telepathischen Kontakt mit höheren Lebensformen regelrechte TechnikWunder vollbracht hätte. Im Mittelpunkt der Verschwörungstheorie
steht dabei eine reichsdeutsche Forschergruppe mit dem Namen „VrilGesellschaft“:
„Unterstützt wurde sie von der mysteriösen Thule-Gesellschaft, aus der auch die
DAP, die spätere NSDAP, hervorging. Sie befassten sich mit alten germanischen
und östlichen Mythen, wie z.B. mit demjenigen, der besagt, dass es im Innern der
Erde einen Höhlenstaat gebe, der eine Energieform namens Vril-Kraft beherrsche.“162
Dieser Mix aus Technik-Faszination und Nazi-Power verdichtet sich in
Risis Theorie, nach der supermoderne Nazi-U-Boote sich bis heute
siegreiche Scharmützel mit alliierten Truppen liefern.163 Risi spricht von
einem „moderne(n) Zweig des reichsdeutschen Kerns“, der über eine
„Macht mit unbekannter Technologie“ verfüge. Diese überlegene Waffengewalt würde jedoch weitgehend human eingesetzt, „nur Schläge gegen Ballungszentren militärischer Aggression; nur Sachschäden, kaum
Verluste an Menschenleben“.
Armin Risis „UFOs – made by Germany“164 mögen skurril anmuten,
wenn er über die Macht galaktischer Mächte auf der Erde philosophiert, die wirtschaftliche und politische Schlüsselpositionen innehaben
sollen. Die politischen Botschaften, die mit seiner Geschichtsdeutung
einhergehen, sind politisch aber hoch problematisch – besonders in
Bezug auf das nationalsozialistische Terrorregime: „Das Bild, das er
entwirft, führt letztlich auf eine Entlastung der NS-Verbrechen hinaus:
Die Nazis waren letztlich von okkulten Mächten ergriffen.“165 Darüber
hinaus hat die esoterisch-okkulte Überhöhung der nationalsozialisti161 Armin Risi: Machtwechsel, S. 4
162 Armin Risi: Machtwechsel, S. 481
163 Armin Risi: Machtwechsel, S. 490ff.
164 Armin Risi: Machtwechsel, S. 475ff.
165 Matthias Pöhlmann: Neues Denken auf alten Wegen? Braune Esoterik zwischen Weltverschwörungstheorien
und Neuheidentum, o.O. o.J., S. 15, www.bildung-mv.de/sekteninfo/vortrag-schwerin-druck.pdf
77
schen Waffentechnologie auch eine hohe Faszinationskraft.
Das Übel der Erde lokalisiert Risi bei den Illuminaten, die als Drahtzieher von Kriegen dämonisiert werden, „um die Menschen in Elend und
Abhängigkeit zu stürzen“.166 Die Welt wird im Würgegriff von „Dunkelmächten“ charakterisiert:
„Dieselben Mächte, die Deutschland zerstört hatte, rüsteten Deutschland im geheimen wieder auf. (...) Es waren dieselben Hintergrundmächte, die u.a. auch die russische Revolution (1917) organisiert und finanziert hatten.“ 167
Der nationalsozialistische Terrorstaat wird in der Schilderung zur Marionette geheimer Finanzkräfte, die NS-Technik zur Brücke in die Zukunft. Auch wenn das Werk auf plumpe Antisemitismen und Rassismus verzichtet, hat die UFO-Mystik Risis eine enorme Entlastungsfunktion für die nationalsozialistische Diktatur.168
In späteren Ausgaben distanziert sich Risi von den Textpassagen seiner
frühen Auflagen 1999 - 2005. In einem Brief an den Autor schreibt er:
„In der überarbeiteten Neuauflage von 2006 habe ich das diesbezügliche Kapitel
vollständig gestrichen, um mich nicht nur kritisch, sondern gänzlich von diesem
Thema zu distanzieren.“
Darüber hinaus sei eine unterstellte Nähe seines Werkes zum Dritten
Reich „unwahr und diffamierend“. Als Beleg seiner Seriosität verweist
Risi auf die beachtliche Reputation seines Werkes bei Verlagen.
„2005 las die strenge Lektoratsabteilung von Randomhouse-Bertelsmann dieses
Buch und fand keine einzige zu beanstandende Stelle. Dieser große Verlag wollte
das Buch in der Fassung von 1999 als Taschenbuch herausgeben.“
Ob hingegen das Interesse der Verlage der inhaltlichen Seriosität geschuldet ist, oder dem Wissen, dass sich mit esoterischen Verschwörungstheorien viel Geld verdienen lässt, sei dahingestellt.
Im vorliegenden Beitrag wurden längst nicht alle Werke problematisiert.
Die vorliegenden Auszüge dokumentieren jedoch eindringlich, dass es
in Deutschland fernab des als verfassungsfeindlich stigmatisierten und
unter Beobachtung der Innenbehörden stehenden Neonazismus eine
166 Armin Risi: Machtwechsel, S. 262
167 Armin Risi: Machtwechsel, S. 264
168 vgl. Pöhlmann, a.a.O., S. 15f.; Rüdiger Sünner: Schwarze Sonne. Entfesselung und Missbrauch der Mythen in
Nationalsozialismus und rechter Esoterik, Freiburg/Breisgau 1999, S. 170
78
zweite Bewegung gibt, die sich im esoterischen Gewand daran gemacht
hat, neuen Antisemitismus und Rechtsextremismus zu transportieren.
Bei genauer Betrachtung können viele der oben aufgeführten Werke
vereinfacht als sanfte Tarnkappenbomber menschenverachtender Hetze
beschrieben werden.
79
80
DIE IDEOLOGISCHEN HINTERGRÜNDE DER GERMANISCHEN
NEUEN MEDIZIN
Alma Fathi M.A.
Einleitung
Dieser Beitrag behandelt die ideologischen Hintergründe der sogenannten Germanischen Neuen Medizin 169, die durch den Theologen
und Arzt Ryke Geerd Hamer begründet wurde. Zur GNM gibt es
kaum Literatur, die nicht von Anhängern dieser Theorie stammt und
somit als Eigenwerbung angesehen werden kann. Ein kritischer Artikel
stammt von Christa Federspiel (Zeitschrift Skeptiker 170), ein weiterer
wurde von Hans Jörg Hemminger verfasst, der eine Demonstration
von Hamer-Anhängern besuchte und davon berichtete.171 Zusätzlich
gibt es viele Zeitungsartikel und Zeitschriftenbeiträge zu den Fällen:
Olivia Pilhar, Susanne Rehklau und Muriel Seebald.
Die Anhänger der GNM verbreiten ihre antisemitischen Verschwörungstheorien fast ausschließlich über das Internet. Aus diesem Grund
wurde für diesen Beitrag über die ideologischen Hintergründe der
GNM eine Internetrecherche durchgeführt und zusammengefasst.
In diesem Artikel wird auf Webseiten mit verfassungsfeindlichen und
antisemitischen Inhalten verwiesen. Ich tue dies nicht, um dieses Gedankengut weiter zu verbreiten und möchte mich ausdrücklich von den
hier aufgeführten Inhalten distanzieren. Ziel ist es, die antidemokratischen und menschenverachtenden Äußerungen zu verdeutlichen. Darüber hinaus sollen Sie mittels der zur Verfügung stehenden Information
selbst in die Lage versetzt werden, die durchgeführte Internetrecherche
nachzuvollziehen. Ich werde im folgenden Abschnitt teilweise die Namen der Websites angeben. Seiten, die verfassungsfeindliche Inhalte
169 Im folgenden Text wird die Germanische Neue Medizin nur noch mit der Abkürzung GNM bezeichnet .
170 Federspiel, Christa: „Krebsheiler“ Geerd Ryke Hamer im Spiegel von Presse und TV oder: Die eiserne Regel der
Medien, S. 11-15. In: Skeptiker: Jahrgang 11, Heft 1, Roßdorf 1998.
171 Einsehbar unter der Rubrik Themen und Materialien, siehe: http://www.weltanschauungsbeauftragte.elk-
wue.de/, , (zuletzt gesehen am 14.07.2010)
81
zum Download bereithalten und in Verbindung stehen mit der GNM,
werde ich nicht vollständig angeben.172
Die GNM besitzt eine eigene Krankheitstheorie und spricht damit auch
Menschen an, die rechtem Gedankengut anhängen. Aus diesem Grund
werden die Theorien der GNM auch auf einer Vielzahl von rechten
Seiten erwähnt und verlinkt. Hierzu zählt z. B. auch ein Internetdokument der NPD Sachsen-Anhalt über die GNM, welches nicht auf der
aktuellen Homepage der Partei auffindbar ist.173
Der vorliegende Text besitzt zwei inhaltliche Ebenen:
Der erste Teil befasst sich mit der Krankheitsentstehungstheorie der
GNM.
Im zweiten Teil werden an Hand von Internetdokumenten die meines
Erachtens antisemitischen Verschwörungstheorien des Ryke Geerd Hamer dargestellt. In diesem Abschnitt wird häufig zitiert, einerseits aus
juristischen Erwägungen, andererseits um die antisemitischen Aussagen
zu verdeutlichen. Sollte sich dies ungünstig auf den Lesefluss auswirken, so bitte ich dies zu entschuldigen.
Die durch Rassenideologie geprägten Theorien der GNM werden zunächst an Hand von drei Themenbereichen (AIDS, Chip, Krebs) dargestellt. Die Dokumente, mit denen ich in diesem Abschnitt gearbeitet
habe, befinden sich auf der offiziellen Seite von Ryke Geerd Hamer 174
und seinem Anhänger Helmut Pilhar 175 oder aber in Internetarchiven176.
Anschließend wird ein weiteres Internetdokument dargestellt, die sogenannten „Rabbinerbriefe“177, dieses befindet sich nicht auf den offiziellen Seiten der GNM, ist aber mit diesen verlinkt.
Auf die Methode der Internetrecherche werde ich später noch einmal
zurückkommen.
172 Dies tue ich aus moralischen Erwägungen, da ich eine Weiterverbreitung solcher Inhalte nicht unterstützen
möchte. Sollten Sie eine eigene Internetrecherche durchführen wollen und/oder rechtliche Schritte gegen die
GNM einleiten, stelle ich Ihnen gerne alle Adressen zur Verfügung.
173 archive (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
174 http://www.dr-rykegeerdhamer.com/index.php (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
175 http://www.pilhar.com/index.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
176 http://web.archive.org/web/*/http://www.pilhar.com (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
http://nsl-archiv.net/Filme/Germanische-Neue-Medizin/ (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
177 www.fuellhornleben.de/Rabbiner%20Briefe%20Hamer.doc (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
82
Im folgenden Teil werden zunächst die Lehre und der Begründer der
GNM vorgestellt.
Der Begründer der GNM: Ryke Geerd Hamer
Um die ideologischen Hintergründe der GNM darzustellen, soll nun im
ersten Teil der Begründer der GNM vorgestellt werden. Daran anknüpfend werden die von Hamer entwickelten „5 Biologischen Naturgesetze“ in verkürzter Form dargelegt.
Man kann die GNM nur verstehen, wenn man sich mit der Persönlichkeit des Ryke Geerd Hamer beschäftigt. In einem Urteil von 1989
wurde ihm eine „psychopathische Persönlichkeitsstruktur“ attestiert.178
Helmut Pilhar stellt auf der Internetseite von Hamer fest, dass die
GNM „nicht nur eine medizinische Revolution“179 darstelle, nein, sie
löse auch eine gesellschaftlich biologische Revolution aus. Ryke Geerd
Hamer versteht die GNM als eine vollkommen neuartige Medizin, sie
sei keine Alternativ- oder Komplementärmedizin, da sie nicht auf der
Basis der „sogenannten Schulmedizin“ operiere.180
Der Begründer der GNM empfindet sich selbst als „politischen Flüchtling“ und bittet um politisches Asyl vor der deutschen Justiz.181
Nachdem er Januar 2010 in Norwegen eine Firma unter dem Namen
„Universität Sandefjord für die Germanische Neue Medizin®, natürliche Kunst und Lebensweise“ gegründet hatte, bezeichnete er sich
selbst als „Universitätsdirektor“182 und Helmut Pilhar wurde zum Dozenten, ohne eine medizinische Ausbildung zu besitzen.183
Hamer studierte Medizin und Theologie und heiratete 1956 seine Mit178 Federspiel, 1998, S. 11.
179 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=304&Itemid=61 (zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
180 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=22&Itemid=33 (zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
181 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/1997/19971121_Hamer_an_DenHaag.htm (zuletzt gesehen am
11.08.2010)
182 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=345&Itemid=22 (zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
183 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2010/20100301_Hamer_an_Pilhar_UnivDoz.htm (zuletzt gesehen
am 11.08.2010)
83
studentin Sigrid Oldenburg. Seine Frau verstarb 1985 an Brustkrebs.184
Ryke Geerd Hamer besaß nie eine Krankenkassenzulassung und konnte nur auf Rechnungsbasis praktizieren. Er selbst behauptet von sich,
dass er kein Geld nehme für die Behandlung und Beratung von Patienten.
Zusammen mit seiner Frau Sigrid Oldenburg hatte Hamer vier Kinder.
Sein ältester Sohn Dirk wurde am 18. Aug. 1978 auf Korsika durch eine Schussverletzung schwer verletzt und verstarb wenige Monate später
an den Folgen der Verletzung.185
Kurze Zeit später erkrankte Ryke Geerd Hamer an Hodenkrebs, welcher erfolgreich operiert wurde.186 Er schreibt in seinem Buch: „Damals
wurde ich operiert, heute würde ich mich mit Sicherheit nicht mehr operieren lassen“.187 In den darauf folgenden Monaten entwickelte Hamer, inspiriert
durch die Träume188, in denen ihm sein Sohn erschienen war, seine
Theorie zur Entstehung von Krebserkrankungen.
Die Hamersche Krankheitsentstehungstheorie wird im späteren Teil
dargestellt werden.
Vor dem Entzug seiner Approbation hat Hamer seine neue „Behandlungsmethode“ in drei Einrichtungen angewandt. Zunächst eröffnete er
1982 das Sanatorium Rosenhof in Bad Krozingen.189 Ein Jahr später
„eröffnete er eine illegale private Klinik namens Haus Dammersmoor im niedersächsischen Gyhum bei Bremen (Dammersmoorerweg 17), die später von den Behörden geschlossen werden musste und heute eine Reha-Klinik ist.“ 190 Im August
1985 eröffnete Hamer eine weitere nicht genehmigte Klinik namens
„Freunde von Dirk“ in Katzenelnbogen bei Koblenz (Rhein-LahnKreis), die aufgrund „haarsträubender skandalöser Zustände“ von den Behörden geschlossen werden musste, nachdem Anzeige erstattet worden
184 Der Krebstod von Fr. Hamer wird auf der Seite von Helmut Pilhar erwähnt:
http://www.pilhar.com/News/Presse/1993/19930623_AerzteWoche_NurOesterreich.htm (zuletzt gesehen am
11.08.2010)
185 http://www.pilhar.com/News/Presse/1991/19911115_KoelnerAnzeiger_VorwurfHamer.htm (zuletzt gesehen
am 11.08.2010)
186 Dr. med. Ryke Geerd Hamer: Krebs - Krankheit der Seele, Kurzschluss im Gehirn, Köln 1994, S. 30f.
187 ebd.
188 Bericht von Hamer-Träumen nachzulesen: Ebd., S.57-60.
189 http://hamer.wordpress.com/08-hamers-erste-schritte-mit-der-neuen-medizin/(zuletzt gesehen am 11.08.2010)
Siehe auch:
http://www.ariplex.com/nmwiki/index.php?title=Ryke_Geerd_Hamer_%28deutsch%29#Die_Zeit_der_.28Ge
rmanischen.29_Neuen_Medizin(zuletzt gesehen am 11.08.2010)
190 ebd.
84
war.191 Ehemalige Mitarbeiterinnen haben über die Zustände in dieser
„Klinik“ in einem Radiointerview berichtet.192 Nachdem er 1985 diese
Klinik eröffnet hatte, wurde ihm dann im April 1986 endgültig die Approbation entzogen, seinen Titel Dr. med. darf er weiter führen. Auch
heute praktiziert Hamer noch und berät hilfesuchende Patienten aus
Norwegen per Telefon, wie Susanne Rehklau, die im Dezember 2009
verstarb.193 Auch in Norwegen ist ihm die Ausübung des ärztlichen Berufes untersagt.194
Woran glauben die Anhänger der GNM?
Hamer behauptet, er habe „5 biologische Naturgesetze“ entdeckt, die
auf alle Lebewesen anwendbar seien. Auf seiner Homepage heißt es:
„Die Germanische Neue Medizin gilt für Mensch, Tier und Pflanze, ja sogar für
das einzellige Lebewesen, für den gesamten belebten Kosmos. Alle Konflikte, bzw.
Sinnvollen Biologischen Sonderprogramme, laufen stets synchron auf 3 Ebenen:
Der Psyche - dem Gehirn - den Organen. Wegen der Synchronizität können wir
erstmals in der Medizin richtig rechnen und berechnen.“ 195
Komplexe körperliche Prozesse werden extrem vereinfacht dargestellt,
was ein Charakteristikum pseudomedizinischer Heilverfahren ist.
Im folgenden Teil sollen die Kernthesen von Hamer dargestellt werden.
191 ebd.
192 http: // www.podcast.de/ episode/ 816980/ Ehemalige_Mitarbeiterinnen_von_Dr._Hamer_berichten
%252C_dass_sie_niemanden_gesehen_haben%252C_derdie_von_Dr._Hamer_geheilt_wurde_Serie_269%253A
_ABSINTH/ (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
193 http://www.br-online.de/das-erste/report-muenchen/report-germanische-medizin-ID1263811034754.xml
(zuletzt gesehen am 11.08.2010)
194 http://www.esowatch.com/ge/index.php?title=Ryke_Geerd_Hamer (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
Siehe auch: ARD: Report MÜNCHEN vom 27.09.2010, siehe unter: http://www.br-online.de/das-erste/reportmuenchen/report-muenchen-germanische-neue-medizin-ID1285582323068.xml (zuletzt gesehen am
28.09.2010)
Siehe auch Mitschrift zur Sendung : http://www.bronline.de/content/cms/Universalseite/2010/07/26/cumulus/BR-online-Publikation-ab-01-2010--22160820100927185743.pdf (zuletzt gesehen am 28.09.2010)
195 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=22&Itemid=33 (zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
85
„Die Eiserne [sic!]Regel des Krebses“
Hamers Theorie zur Krebsentstehung:
Hamer nimmt an, dass eine Krebserkrankung an einem einzigen Tag
entstehen könne. Er schreibt in seinem Buch:
„Ich hatte den Krebs gesucht an der Zelle und habe ihn gefunden als Code-Fehler im
Gehirn.
Zunächst fand ich das HAMER-SYNDROM, benannt nach meinem Sohn
DIRK HAMER. Das HAMER-SYNDROM besagt: Der Krebs entsteht an
einem Tag, wenn die Integralschwelle einer Funktion aus drei Komponenten überschritten wird.
Diese sind:
1. Reduzierte momentane Disposition
2. Momentane Konfliktverdichtung, und
3. Momentane Isolation (räumliche, familiäre, innere Isolation)“ 196
Kern seiner Theorie ist, dass der Auslöser für jede Krebserkrankung/
jede Krankheit allgemein ein „hochakut-dramatisches und isolatives
Schockerlebnis“ ist, wie bei seiner eigenen Krebserkrankung nach dem
Tod seines Sohnes. Daher bezeichnet er diesen Zustand, nach seinem
verstorbenen Sohn Dirk, verkürzt als das DHS, das Dirk-Hamer-Syndrom.
Dieser Theorie zufolge wird der Patient bei einem negativen Ereignis in
eine Art Dauerstress versetzt.197 Auf der Internetseite von Pilhar wird
das DHS folgendermaßen beschrieben:
„Exakt vom DHS an hat der Pat. einen Dauerstreß, d.h. er hat ganz kalte Hände und Füße, er denkt Tag und Nacht über seinen Konflikt nach, und versucht ihn
zu lösen. Er kann nachts nicht mehr schlafen, und wenn, dann nur in der ersten
Hälfte der Nacht, halbstundenweise, er hat keinen Appetit mehr, er nimmt an Gewicht ab.“ 198
Die Krankheitsentstehungstheorie der GNM ist durch Analogiedenken
geprägt:
Diese Theorie besagt, dass sich dieser psychische Schock auf drei ver196 Hamer, 1994, S. 34.
197 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/DHS.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
198 ebd. (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
86
schiedenen Ebenen (Gehirn, Psyche, Organ) manifestieren würde.
Im Gehirn werde das DHS als Hamerscher Herd199 sichtbar.
Im Organ äußere sich das DHS als Krebs.
Und in der Psyche manifestiere sich das DHS als Konflikt.
Diese Krankheitsentstehungstheorie suggeriert, dass körperliche, also
physische Prozesse durch die Psyche verursacht werden und durch diese gelenkt und kontrolliert werden können.
Besonders bei todbringenden Krankheiten wie Krebs neigen Menschen
zum magischen Denken. Durch den Glauben, die eigene Krankheit
psychisch beeinflussen zu können, entzieht sich der Mensch der Hilflosigkeit und fühlt sich wieder mächtig gegenüber dem eigenen Schicksal,
das er nun angeblich psychisch beeinflussen kann.
Zurück zu Hamers Krebsentstehungstheorie:
Dieses Schockerlebnis hinterlässt nach Hamer augenblicklich Spuren
im Gehirn, die sogenannten Hamerschen Herde, die man anhand einer
Computer-Tomographie erkennen könne.200
Die GNM-Lehre geht davon aus, dass man an diesen Kreisen ablesen
könne:
1. wo der Krebs entsteht, d. h. welche Organe vom Krebs befallen sind oder werden und
2. behauptet Hamer, er könne an Hand von Bildern einer Computer-Tomographie (auf denen die sogenannten Hamerschen
Herde abgebildet seien) über die Lokalisation der Hamerschen
Herde201 ableiten, was für ein psychischer Konflikt bei dem Patienten vorliege. Hamer behauptet: „Mit fortschreitendem Konflikt
schreitet auch der HH im Gehirn fort, d.h. es wird ein immer größeres
Areal betroffen oder das einmal betroffene Areal intensiver alteriert.
Gleichzeitig schreitet auch der Krebs am Organ fort.“ 202 Die Diagnose
199 Die sog. Hamerschen Herde gibt es in der Schuldmedizin nicht.
200 Es gibt keine Hamerschen Herde, siehe hierzu: http://www.aerztekammer-
mainz.de/ak_aktuelles_det.php?lfd=850 (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
201 Fortan auch verkürzt HH genannt.
202 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=25&Itemid=36 (zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
87
des krankheitsursächlichen Konflikts ist nicht so aufwendig
und schmerzhaft wie eine herkömmliche Krebstherapie. Diese
einfache, aber medizinisch wirkungslose Therapie verzögert die
schulmedizinische Behandlung der Erkrankung und führt so zu
mehr Todesfällen.
Um zu verdeutlichen, was Hamer sich unter einem „Konflikt“ vorstellt,
werden im folgenden Teil einige dieser sogenannten „Konflikte“, die
laut der GNM-Lehre den Krebs auslösen, aufgeführt.203 Im Internet
kann in Tabellen nachgelesen werden, was für Konflikte für die unterschiedlichen Krebsarten angenommen werden und wo die sogenannten
Hamerschen Herde bei einem CT liegen müssten.204
Bei der Untersuchung dieser Materialien wird deutlich, dass es sich bei
den einzelnen Konflikten um kein nachvollziehbares System handelt.
Es wirkt alles sehr wirr und konstruiert.
Hamer bezeichnet diese Konflikte als archaische Konflikte, wobei er
meines Erachtens nicht verständlich ausführt, was er darunter eigentlich versteht.205 Auf Pilhars Seite kann folgendes nachgelesen werden:
„Genial ist daher auch ganz besonders die Entdeckung Hamers, daß der seelische
Inhalt eines Schockerlebnisses bestimmte archaische Entwicklungsstufen der
Menschheit betreffen kann und damit die Gehirnteile sowie die damit verbundenen
Organteile, die aus ältester Entwicklungszeit stammen und uns mit ihr in Verbindung halten. (…) Das rückt das ‚Erberinnern‘, das in der Psychologie und Philosophie Mathilde Ludendorffs beschrieben und in seiner Gewichtigkeit hervorgehoben ist, nun in ein neues helles Licht. Wie so oft schon werden auch hier wieder Erkenntnisse Mathilde Ludendorffs durch nachfolgende Entdeckungen bestätigt.“ 206
In diesem Textabschnitt wird die gedankliche Nähe zu anderen völkisch
rechten Gruppierungen deutlich.
Der sogenannte Wasserkonflikt207, an dem im Übrigen auch Olivia Pil203 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Kurzeinf/Ausloser/HH.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
204 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Tabelle/tabelle.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Tabelle/Markl/marklage.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
205 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/Leber.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
206 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2005/20050808_Beisswenger_GlaubeWissenWeisheit.htm (zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
207 Bsp.: Wasserkonflikt-Erklärung: http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/19950727_Nierentu-
mor.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
Olivia Pilhar, Wasserkonflikt: http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/19950727_Nierentumor.htm
(zuletzt gesehen am 11.08.2010)
88
har gelitten haben soll, wird auf der Seite pilhar beispielsweise folgendermaßen erklärt:
„Wir wissen, daß nicht Vorniere oder Urniere sondern erst die Nachniere sich zu
unseren heutigen Nieren entwickelt haben. Wasser-Konflikte konnte es also erst geben, als sich unsere biologischen Vorfahren ‚aus dem Wasser auf das Land bewegt
haben‘ (‚aus dem Wasser gestiegen sind‘). Die meisten Wasserkonflikte haben einen
ganz handfesten Grund für das DHS, z.B. eine Überschwemmung, ein ‚BeinaheErtrinken‘, eine Infusion im Krankenhaus, Wasserrohrbruch oder ähnliches. Zumeist ist das Problem samt Folgen nach einigen Monaten gegenstandslos geworden
und damit der Konflikt meist auch wieder gelöst.“ 208
Bei dieser Krankheitsentstehungstheorie können Begriffe wie z. B. Ur-,
Vorniere und ihre Erläuterung von Außenstehenden nicht verstanden
und logisch nachvollzogen werden!
Was man sich unter diesen einzelnen Konflikten vorstellen kann, wird
nur für einige wenige Konflikte weiter ausgeführt. Diese zusätzlichen
Erklärungen tragen bei GNM-fremden Personen jedoch nicht zum
besseren Verständnis bei, wie am Beispiel des Wasser-Konflikts dargestellt wurde.
Bei der Diagnostik (falls man das überhaupt so nennen kann) der
GNM wird zusätzlich danach entschieden, ob der Patient männlich
oder weiblich ist, Hormone nimmt, welches Alter er hat und vor allem
welche die dominante Hand ist.209 Hierfür gibt es innerhalb der GNM
einen Klatschtest, welcher ebenfalls unwissenschaftlich ist.210
Die GNM ignoriert die Theorien der psychosomatischen Medizin und
der Psychologie. Innerhalb der Psychologie gibt es z. B. Tests, um die
dominante Hand einer Person festzustellen; diese wissenschaftlichen
Theorien werden von Hamer an keiner Stelle erwähnt oder beachtet.
Im folgenden Teil werde ich anhand des „Mutter-Kind-Sorge-Konflikts“, der laut GNM Auslöser für Brustkrebs ist, versuchen Ihnen die
Krebsdiagnostik der GNM vorzustellen. Dies tue ich, um zu verdeutlichen, dass es sich bei dieser Theorie um eine willkürliche und konstruierte Form der Pseudomedizin handelt, welche zutiefst irrational und
unlogisch ist. Sie fördert das magische Denken und ist für betroffene
208 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/Niere.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
209 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/nm.htm (zuletzt gesehen am 11.08.2010)
210 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=18&Itemid=29(zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
89
Patienten eher schädlich und gefährlich, als dass sie hilfreich für die
Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung ist.
Bei einem „Mutter-Kind-Sorge-Konflikt“ würde der Hamersche Herd
bei einer Rechtshänderin immer rechts lateral im Kleinhirn sichtbar
werden, vom Krebs würden dann die Brustdrüsen der linken Brust betroffen sein. Bei Rechtshändern haben (laut GNM) alle Muskeln der
linken Körperseite mit Partnern und die Muskeln der rechten Körperseite mit den eigenen Kindern oder der eigenen Mutter zu tun.211
„Der Biologische Sinn bei einem Mutter/Kind-Konflikt ist z.B. der, dass der
Organismus zusätzliches Brustdrüsengewebe baut, um dem Kind, das durch einen
Unfall z.B. gerade eine Entwicklungsstörung durchmacht, Hilfestellung zu geben,
indem es … mehr Muttermilch bekommt. Bei den Frauen in den sog. zivilisierten
Ländern spielen sich diese Vorgänge meistens außerhalb der Stillzeit ab. Bekommt
also eine Frau in der Zivilisation einen Mutter/Kind-Konflikt während sie nicht
(mehr) stillt, dann wächst ein solcher Brustdrüsentumor und imitiert den Zweck des
mehr-Milch-geben-wollens an den Säugling, der zwar als Kind, meist aber nicht
mehr als Säugling vorhanden ist.“ 212
Brustkrebs wird somit zu einer positiven Krankheit, zu einem „sinnvollen
biologischen Sonderprogramm“, wie es die GNM bezeichnet, uminterpretiert: „Wie gesagt wir hatten früher immer gedacht, das [Brustkrebs] sei etwas
bösartiges. Genau das Gegenteil ist der Fall. Es ist etwas biologisch sinnvolles.“ 213
Nach Hamer ergibt sich der Konflikt („Mutter-Kind-Sorge-Konflikt“,
„Wasser-Konflikt“, „Revier-Konflikt“) assoziativ beim Patienten.214
Dies könnte erklären, warum der Patient den Konflikt selbst nicht
kennt und durch Hamer oder einen anderen GNM-Arzt von seinem
Konflikt erfahren muss.
Die Lösung ist dann auch denkbar einfach.
Dem Patienten wird gesagt, welcher Konflikt angeblich vorliegt, und er
kann nun selbst aktiv werden, indem er mit der psychischen Lösung des
Konflikts beginnt.
211 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=24&Itemid=35(zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
212 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=3&Itemid=4(zuletzt gesehen
am 11.08.2010)
213 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=22&Itemid=33(zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
214 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/Asthma.htm (zuletzt gesehen am 11.08.20 10)
90
Die Therapie jeder Erkrankung besteht aus der „Konfliktolyse“. Bei diesem Wort handelt es sich um eine Eigenkreation von Hamer.215„Mit
Beginn der Konfliktlösung schaltet der Organismus wieder um, von der Stressphase
in die Ruhephase = Vagotonie genannt.“ 216 Nach Hamer stoppt der Krebs
und die Heilungsphase beginnt.
Die Zweiphasigkeit aller Sinnvollen Biologischen Sonderprogramme: bei Lösung des
Konflikts
„Jede Erkrankung, die eine Konfliktlösung hat, hat auch eine konflikt-aktive Phase und eine Heilungsphase.“ 217 In dieser angeblichen Heilungsphase bildet
sich der Krebs laut Hamer zurück. Die sogenannten Hamerschen Herde im Gehirn verschwinden, wenn der Konflikt vollständig gelöst ist.
In dieser Heilungsphase treten die Krankheitssymptome auf, welche
laut der GNM positiv und sinnvoll für die Heilung von Krankheiten
sind. Auf Helmut Pilhars Seite kann nachgelesen werden:
„Gegen die Heilungsschmerzen, die im Prinzip etwas Positives sind, kann man nur
dadurch wirksam angehen, daß der Patient die Zusammenhänge versteht, und sich
auf die Schmerzen einstellt wie auf eine echte große Arbeit die er zu leisten hat.
Grundsätzlich haben die Schmerzen ja bei Mensch und Tier einen biologischen
Sinn. Nämlich den, daß der ganze Organismus und das Organ ruhig gestellt wird,
damit die Heilung optimal erfolgen kann.“ 218
In der GNM ist es verpönt, Medikamente, insbesondere schmerzstillende Mittel, einzunehmen. Hamer äußert sich zu Medikamenten folgendermaßen:
„Aber die diagnostischen Methoden der GNM sind perfekt im Takt mit der
Therapie, haben zu 98% Erfolg. Nicht 100%, das gibt es nur bei Gott. Klar, ohne
Patienten mit Chemo, Operationen und Morphium zu behandeln. Wenn die Personen, um es so zu sagen, ‚medikamentös jungfräulich‘ sind, dann haben sie die
215 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Kurzeinf/Ausloser/2Ges.htm(zuletzt gesehen am 11.08.2010)
216 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=17&Itemid=28(zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
217 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=18&Itemid=29(zuletzt
gesehen am 11.08.2010)
218 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/Schmerzen.htm (zuletzt gesehen am 01.09.2010)
91
Möglichkeit zu 98% zu gesunden.“ 219
Trotz dieser angeblich sehr hohen Heilungsrate sterben immer wieder
Menschen, die sich der GNM zuwenden. Innerhalb der GNM wird
propagiert, dass diese Menschen durch die Schulmedizin, durch Medikamente wie Morphium und andere Präparate, vergiftet wurden. Als
weitere Todesursache wird häufig ein ungelöster Konflikt propagiert
(dadurch findet eine Verschiebung der Verantwortung vom Therapeuten auf den Patienten statt, die Therapie muss keine medizinische
Wirksamkeit nachweisen). Eine weitere Begründung innerhalb der
GNM ist, dass der Patient den Konflikt seines Erstkrebses gelöst habe,
aber an seinem Zweitkrebs verendet sei, dessen Konflikt nicht erkannt
und/oder behandelt wurde. Innerhalb der GNM ist häufig von einem
„Mutter-Kind-Konflikt“ die Rede, oder es liegt beispielsweise ein „Partnerkonflikt“ vor, der als Ursache für die Erkrankung angenommen
wird. Somit ist nicht nur der Patient selbst verantwortlich für den Heilungserfolg, sondern auch sein persönliches Umfeld.
Eine betroffene Anhängerin der GNM schrieb: „Es ist schlimm, dass es
mir nicht gelungen ist, mit ihm zusammen eine Lösung zu finden, aber durch die
GNM ist es mir gelungen ihm die Panik so weit zu nehmen, dass er keine
Schmerzen hatte.“ 220
Wie werden Metastasen von der GNM erklärt?
Metastasen sind Hamer zufolge das Resultat eines „Diagnoseschocks“
und sind demnach nicht existent, da es sich laut Hamer um einen neuen
Konflikt handelt.
„Wird heute einem Patienten in der sog. Schulmedizin die Diagnose ‚Krebs‘ mitgeteilt, dann empfinden das die meisten Patienten ebenfalls als niederschmetternden
Schock, der dann sofort weitere Panikkonflikte und damit neue Krebse auslösen
kann, die dann schulmedizinisch als sog. Metastasen gelten.“ 221
219 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2007/20070923_Hamer_Interview.htm (zuletzt gesehen am
01.09.2010)
220 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Sonderpr/20090924_Darmkrebs_TotDurchPanik.htm (zuletzt
gesehen am 01.09.2010)
221 http://www.pilhar.com/Hamer/NeuMed/Kurzeinf/Ausloser/Ausloser.htm (zuletzt gesehen am 19.09.2010)
92
Metastasen sind nach der GNM „Zweit- oder Dritt-Krebse“222, die
ebenfalls gestoppt oder gelöst werden können durch die sogenannte
„Carzinolyse“.
„Weiß nun aber der Patient in Zukunft, dass es gar keine Metastasen im herkömmlichen Sinne gibt, sondern dass man für Zweit-Krebse eine genaue Ursache
braucht – und viel wichtiger noch – dass man die Zweit-Krebse genauso zurückdrehen, stoppen [,] lösen kann (Carzynolyse), dann braucht ja der Patient keine
Angst mehr zu haben vor diesem Furchtbaren, dem Lebensbedrohenden, Undurchschaubaren, das der Krebs bisher darstellte.“ 223
Daher ist eine weitere Begründung bei dem Tod eines Patienten häufig,
dass der Erstkonflikt zwar gelöst wurde, der Mensch aber an seinem
Zweit-Konflikt verstorben ist, der unerkannt und damit unbehandelt
geblieben war.
Was sind Bakterien, Mikroben und Viren nach der GNM?
Das vierte biologische Naturgesetz besagt, dass Mikroben, Bakterien
und Viren keine Infektionskrankheiten auslösen. Der GNM zufolge
haben alle Infektionskrankheiten psychische Ursachen. Hamer behauptet, den Infektionskrankheiten gehe immer eine „konfliktaktive Phase
voraus“ und erst mit der Konfliktlösung in der Heilungsphase werden
Mikroben, Bakterien und Viren aktiv. Diese Aktivierung erfolgt laut
Hamer durch das Gehirn.
„Die Vorstellung von dem Immunsystem als der Armee, die gegen die bösen Mikroben kämpft, war schlichtweg falsch gewesen. Denn die Mikroben sind nicht Verursacher von ‚Krankheiten‘, sondern sind Optimierer der Herstellungsphase.“ 224
Jede Krankheit ist laut GNM als Teil eines „sinnvollen biologischen
Sonderprogrammes“ zu verstehen. Diese Theorie reichte Hamer 1982
als Habilitationsschrift an der Universität Tübingen ein, sie wurde jedoch aus Mangel an Wissenschaftlichkeit abgewiesen.
In dem Gutachten von Prof. Dr. Schrage an den Dekan Prof. Voigt
222 http://www.pilhar.com/Fragen/NeuMed/Medi/Metastasen.htm (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
223 Hamer, 1994, S. 63f.
224 http://www.pilhar.com/Fragen/NeuMed/Medi/Metastasen.htm (zuletzt gesehen am 02.09.201 0)
93
heißt es:
„Es ist festzustellen, dass Form und Methodik der Arbeit den Grundregeln einer
Habilitationsschrift nicht entsprechen. Der Stil der Arbeit ist geprägt durch zahlreiche persönlich-emotionale Momente, die es dem Autor nicht erlauben, seine Ansicht
sachlich und prägnant zu entwickeln und zu belegen. Auf die umfangreiche Literatur zur Genese und Manifestation der Krebserkrankung wird keinerlei Bezug genommen … Es werden einige Anschauungen vorgetragen, die auch als Spekulation
nicht zu akzeptieren sind.“ 225
Antisemitismus der GNM
In diesem Teil des Aufsatzes werden Sie, liebe Leser, mich bei meiner
Internetrecherche zu dem Thema antisemitische Verschwörungstheorien der GNM begleiten:
Die antisemitischen Ansichten der GNM sollen am Beispiel von drei
Themen (Aids, Chip und Krebs) verdeutlicht werden.
AIDS
Ursächlich für alle Erkrankungen sind nach Vorstellung der GNM psychische Schockerlebnisse. Diese Annahme wird auf alle erdenklichen
Krankheiten angewandt, unter anderem auch auf AIDS. Erinnern wir
uns daran, was Hamer über Bakterien, Viren und Mikroben schreibt.
Diese können nur nach einem psychischen Schock in der Heilungsphase aktiviert werden. Dies bedeutet gerade bei AIDS, dass die Krankheit bei einem Ausbruch nicht behandelt wird. Laut der GNM beginnt
die Heilungsphase, wenn die ersten Krankheitssymptome auftreten.
Hamers Thesen zufolge sind die Juden, dadurch, dass sie beschnitten
sind, nicht nur immun gegen den HI-Virus, nein, sie sind ihm zufolge
auch ursächlich für die weltweite Verbreitung dieses Virus.226 Auf der
Seite pilhar kann folgende Auffassung nachgelesen werden:
225 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/1982/19820202_Schrage_Gutachten.htm (zuletzt gesehen am
02.09.2010)
226 Es ist nicht nachvollziehbar, wie eine Krankheit, die eigentlich nicht existiert, Menschen töten kann.
94
„Ja, wir Juden haben natürlich von Anfang an gewußt, daß wir da einen riesigen
Smegma-Betrug gegen die Nichtbeschnittenen inszeniert haben, bei dem wir mit Erfolg Millionen, besonders Afrikaner, damit umgebracht haben.“ 227
Hamer geht davon aus, dass das, was wir unter AIDS kennen, eine
Smegma-Allergie ist.228
Diese Allergie sei „Vergleichbar einer Heu- oder Apfelsinen-Allergie, bei der
dann eben Heu oder Apfelsinen eine Rolle gespielt haben.“ 229
Weiter schreibt er zur „Heilung“ der Krankheit, die es „eigentlich“
nicht gibt:
„Lösen können wir die Konflikte nur dadurch, dass der Patient … lernt und begreift, dass das alles Schwindel einer religiösen Mafia ist, deren Ziele es offenbar
sind, Menschen zu quälen und zu eliminieren.“ 230
Daher sind laut Hamer auch keine Juden und Mohammedaner von dieser Krankheit betroffen, wenn sie unter sich bleiben, da sie beschnitten
sind und kein Smegma entwickeln.231
Im Januar 2010 war der Fall der elf Monate alten Muriel Sebald in
Österreich in den Medien.
Beide Eltern sind Anhänger der GNM und tragen das HI-Virus in sich.
Zur Geburt ihres Kindes hatten sie keine Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Ansteckung des Kindes eingeleitet. Beim Ausbruch der
Krankheit verweigerten sie die medizinische Behandlung ihrer Tochter.
Muriel hatte eine Lungenentzündung und kam ins Krankenhaus. Letztendlich lief es ähnlich wie im Fall von Olivia Pilhar, den Eltern wurde
zeitweilig das Sorgerecht entzogen und das Kind medizinisch behandelt.
CHIP
Bei dieser Theorie handelt es sich meiner Auffassung nach um eine
227 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2010/20100104_Hamer_DasBuchAids.htm (zuletzt gesehen am
02.09.2010)
228 Smegma ist eine weiße Flüssigkeit, die sich am Genital bildet, bei ungenügender Hygiene.
229 http://www.pilhar.com/News/Faltblatt_AIDS.pdf (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
230 ebd.
231 ebd.
95
antisemitische Verschwörungstheorie des Ryke Geerd Hamer. Hamer
ist von der Existenz eines sogenannten Todeschips überzeugt, der ihm
zufolge bei allen Menschen weltweit eingesetzt werden soll und auch
schon wird. Dieser Chip sei schon flächendeckend zum Einsatz gekommen während der Schweinegrippeimpfungen.232 Hamer zufolge dient
dieser Chip der Manipulation und zwangsweisen Reduktion der nichtjüdischen Bevölkerung, der „Bevölkerungskontrolle“.233 Mit diesen Chips
können Menschen per Satellitenfernsteuerung kontrolliert und durch
Knopfdruck getötet werden, was Hamer als „ausknipsen“ bezeichnet.
Seiner Theorie zufolge enthält dieser Chip eine Giftkammer, die per
Fernsteuerung entleert wird oder sich beim Versuch, sie zu entfernen,
aktiviert und den Menschen augenblicklich tötet.234 Hamer gemäß gibt
es also einen solchen Chip, aber es ist nicht möglich, ihn mit unserer
heutigen Technologie zu orten und zu entfernen.
„Kritiker wie mich gibt es nur noch wenige und diese sollen demnächst auch noch
mit dem Todeschip ausgeknipst werden. Die restlichen paar Milliarden kann man
dann in kürzester Zeit nach Belieben mit dem Todeschip ausknipsen. Denn man
kann ja den Todeschip mit unseren derzeitigen Apparaturen nicht orten oder wieder
heraus operieren. Man bleibt seinen Mördern bis an sein von ihnen bestimmtes Lebensende (sprich Mord) zur absolut willkürlichen Disposition.“ 235
In dem Interview vom 13.08.2009 zwischen Hamer und Pilhar heißt es
weiter:
„Das ist eine riesige weltweite Bevölkerungsdezimierungsaktion, kriminellster Art,
bei der am Ende nur die Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft überleben sollen.“ 236
In einem späteren Interview vom 4.11.2009 237 behauptete Hamer, er
habe den Chip-Betrug endgültig durchschaut, und stellt folgende Theorie auf:
Hamer erklärt, er habe sich über den Spritzenmechanismus informiert.
232 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2009/20091007_Hamer_Todeschip.htm (zuletzt gesehen am
02.09.2010)
233 http://www.pilhar.com/Fragen/SM/Kontrolle.htm (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
234 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2009/20091104_Hamer_Pilhar.htm (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
235 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2009/20090813_Hamer_Pilhar.htm (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
236 ebd.
237 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2009/20091104_Hamer_Pilhar.htm (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
96
Dabei habe er herausgefunden, dass es drei verschiedene Sorten von
Spritzen gebe:
1. Spritzentyp: Eine, wie er sie nennt, „koschere“ Spritze für
Politiker, diese enthält laut Hamer keinen Chip.
2. Spritzentyp: Eine Einmalspritze mit Injektionsnadel, in dieser Spritze sitzt der Chip.
3. Bei diesem Spritzentyp soll angeblich die Spritzenflüssigkeit
aufgezogen werden und die Nadel in dem Deckel der Ampulle
bleiben! Dann würden die Ärzte die Spritze ohne Nadel abdrehen und eine im Vorfeld markierte Nadel aufstecken, welche
den Chip enthalte.
„Die ‚ausgesuchten‘ Assistenten achten nicht nur auf die Reihenfolge der ‚Impflinge‘
sondern kontrollieren und notieren alles ganz genau, denn nur so ist die Identifikation gegeben. Jeder Arglose, Ahnungslose, Dumme bekommt nun ‚seinen Chip‘.
Von da ab ist er nur noch Sklave, und selbst über seinen Tod – wann und wo,
kann per Computer (in Tel Aviv ?) entschieden werden.“ 238
Hamer vertritt die Auffassung, dass nur Nicht-Juden gegen die Schweinegrippe geimpft und „gechipt“ werden. Da bei dieser Impfung das
Wort Schwein enthalten sei, würden sich Juden nicht dagegen impfen
lassen.239
Hamer vermischt seine wunderlichen medizinischen Ansichten mit antisemitischen Verschwörungstheorien. Dies hat zur Folge, dass sich
nicht nur hoffnungslos Erkrankte von dieser „Lehre“ angezogen fühlen, sondern zusätzlich Sympathisanten rechter Theorien im Umfeld
der GNM zu finden sind.
Hamers antisemitische Krebstheorie
Hamer und seine Anhänger vertreten unterschiedliche antisemitische
Ideen, sie gehen unter anderem davon aus, dass nur Nicht-Juden mit
Chemo und Bestrahlung behandelt und durch diese Behandlung getötet
werden. Die Schulmedizin, und vor allem die Onkologie, sei fest in jü238 ebd.
239 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2010/20100207_Hamer_an_BayerischerRundf.htm (zuletzt gesehen
am 02.09.2010)
97
discher Hand. Die Juden ihrerseits würden nur mit der GNM behandelt
werden.
Hamer beschreibt auf der Seite pilhar, wie er sich eine jüdische Behandlung mit der GNM vorstellt:
„Nach meiner Erfahrung werden fast alle diese Patienten im Krankenhaus umgebracht, mit dem Tode bestraft, weil sie nicht gewillt waren, dem Diktat der offiziellen Medizin zu gehorchen. Aber wenn ein Jude kommt, dann machen sie genau
das Gegenteil, auch wenn die Juden nicht ins Krankenhaus gehen! Die gehen direkt
zu jüdischen Ärzten, die ihnen dann sagen: ‚Bleib ruhig, da ist nichts Schlimmes,
das ist kein Krebs, das ist nur eine kleine Entzündung. (…) Geh zu deinem Rabbiner, erzähl ihm was passiert ist, spreche mit ihm über deinen Konflikt, vertraue
ihm, frag ihn wie du den Konflikt endgültig lösen kannst, komme dann nach 3-6
Monaten zu mir und alles ist vorbei‘ (…) Die Juden gehen zu ihrem Rabbiner, der
die GNM perfekt beherrscht und kennt und sagen kann: ‚Du hast einen Konflikt
gehabt, von diesem Typ, wollen wir darüber sprechen?‘ Wenn zum Beispiel ein Jude
einen Konflikt wegen Geld gehabt hat, dann telefoniert der Rabbiner gleich mit dem
Bankdirektor, wahrscheinlich sein Freund oder Bekannter, und sagt ihm: „Der Patient wurde auf Grund des Problems mit der Bank krank‘, und der Bankdirektor
antwortet dann: ‚Oh entschuldige, da kann er zu mir persönlich kommen, ich helfe
ihm gleich‘. Der Konflikt ist dann sofort gelöst und in Kürze ist der Patient wie
zuvor.“ 240
Dieses Zitat verdeutlicht in erschreckender Weise die antisemitischen
Stereotypen, derer die GNM sich bedient, um ihre eigene abartige Verschwörungstheorie zu untermauern.
Ähnliche Äußerungen finden sich zahlreich auf den Webseiten von Hamer und Pilhar.
Immer wieder behauptet Hamer, dass in Israel nur 152 Menschen jährlich an Krebs sterben, und sieht dies als einen Beweis für die wirksame
Behandlung der Israelis durch die GNM. Ein Brief zu diesem Thema
mit dem Titel „Krebstote Israel“ kann nur noch auf der Seite von Hamer eingesehen werden.241 Hamer bezieht sich dabei auf eine Falschmeldung des Haaretz und nutzt diese für seine Propaganda aus.
240 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2007/20070923_Hamer_Interview.htm (zuletzt gesehen am
02.09.2010)
241 http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=301&Itemid=22 (zuletzt
gesehen am 02.09.2010)
98
Dies ist typisch für das Vorgehen der GNM, sie sucht gezielt nach antijüdischen Pressemeldungen und integriert diese in ihre eigene antisemitische Verschwörungstheorie.
Nachdem vom Haaretz versehentlich falsche Todeszahlen veröffentlicht wurden, reagierte die israelische Regierung. In dem Newsletter der
Botschaft Israels in Berlin heißt es:
„Zur Zahl der Krebstoten in Israel – Richtigstellung /Im Oktober 2008 wurde an
dieser Stelle über einen Rückgang der Zahl von Krebstoten in Israel berichtet. Bei
der Zusammenfassung eines Artikels aus der Zeitung Haaretz unterlief dabei ein
Fehler. Wo es hieß: ‚So starben etwa im Jahr 2004 152 Menschen in Israel an
Krebs; 2003 waren es 160 Tote‘, wurde versehentlich die Angabe ‚pro 100 000
Menschen‘ weggelassen (Krebsraten werden üblicherweise in Form der absoluten
Zahl pro 100 000 angegeben). (…)
Aufmerksame Leser und zuletzt der Bayerische Rundfunk wiesen uns darauf hin,
dass mit der falschen Zahlenangabe schlimmer Missbrauch betrieben wurde und
wird, und zwar von Seiten der obskuren Bewegung „Neue Germanische Medizin“
des früheren Arztes Ryke Geerd Hamer (dem inzwischen in Deutschland seine
Approbation entzogen wurde). Hamer verbreitet primitive und gefährliche Anschauungen zur Krebstherapie, die zudem von kruden antisemitischen Wahnvorstellungen begleitet sind.“ 242
Nach dieser Richtigstellung der israelischen Botschaft in Berlin wurde
dieses Dokument von der Seite pilhar gelöscht.243
In einer Konferenzniederschrift aus dem Jahr 2008 sind alle antisemitischen Theorien Hamers in Bezug auf die Krebserkrankung und ihre
Therapie enthalten. Dieses Dokument kann auf der Seite von Pilhar
und auf Hamers Website, in verschiedenen Sprachen244, eingesehen
werden.245
An dieser Konferenz nahmen folgende Personen teil: Fr. Erika Pilhar,
Fr. Olivia Pilhar, Herr Helmut Pilhar, Fr. Vera Rechenberg, Fr. Arina
242 http://newsletter.cti-newmedia.de/index.php?site=newsletter&id=623&sid=NA==#n3 (zuletzt gesehen am
02.09.2010)
243 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2009/20090706_Hamer_Krebstote_Israel.htm (zuletzt gesehen am
02.09.2010)
244 Das Dokument kann in folgenden Sprachen eingesehen und heruntergeladen werden: deutsch, englisch,
norwegisch, italienisch, französisch, spanisch, holländisch, polnisch, tschechisch, bulgarisch, arabisch.
245 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2008/20081217_Oberrabbiner_Goetz_WirDistanzierenUns.htm
(zuletzt gesehen am 02.09.2010)
http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=8&Itemid=48 (zuletzt
gesehen am 02.09.2010)
99
Lohse, Hr. Oberrabbiner Dr. Esra Iwan Götz (der eigentlich keinen
Dr.-Titel hat246) und Hr. Dr. Geerd Ryke Hamer.
Nun zum Tagungsdokument:
In dem Tagungsdokument heißt es, die „Konferenzteilnehmer haben
festgestellt“:
1. „Seit 27 Jahren ist die Germanische Neue Medizin entdeckt und
bekannt. Und etwa seit dieser Zeit sind aufgrund eines Artikels von
Weltoberrabbiner 247 Menachem Mendel Schneerson im Talmud alle
Rabbiner der Welt verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass alle Patienten jüdischen Glaubens mit dieser früher bezeichnet ‚Neue Medizin‘ jetzt genannt ‚Germanische Neue Medizin‘ therapiert werden.
Diese Therapie hat eine 98% Überlebensrate.
2. Das schlimmste war, was auch Oberrabbiner Dr. Esra Götz bestätigt, dass nach dem gleichen Artikel im Talmud den Patienten nichtjüdischen Glaubens eine Therapie nach der Germanischen Neuen
Medizin unmöglich gemacht werden sollte. (…)
3. Der Boykott der Germanischen Neuen Medizin ist, auch das kann
der Oberrabbiner Dr. Götz bestätigen, nicht etwa eine Sache der Unkenntnis, des Versehens oder der mangelnden Information, sondern
ein gezielt weltweiter Genozid.
4. (…) auch unter den Juden gibt es Strömungen, wie die ‚World Union
For Progressive Judaism‘, der Oberrabbiner Dr. Esra Iwan Götz angehört, die sich mit diesem Verbrechen nicht identifizieren möchten.
Aus diesem Grund rufen wir alle redlichen Menschen auf, sich dafür einzusetzen,
dass dieses Verbrechen beendet wird, und alle auch nichtjüdischen Patienten in den
Genuss der Behandlung der Germanischen Neuen Medizin kommen.
Mit Dr. Esra Iwan Götz fordern wir alle Rabbiner und auf dem medizinischen
Gebiet insbesondere die Onkologen auf, ‚Stoppt dieses Verbrechen und diesen weltweiten Genozid an den nichtjüdischen Patienten.‘ “ 248
246 http://www.new-focus.ch/cgi-
bin/Tabellen/GNM%20Oberrabbiner%20Dr%20G%F6tz%20kl%E4rt%20auf%202000%20Millionen%20Tote
.pdf (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
247 Einen Weltoberrabbiner gibt es nicht!
248 Siehe: Fußnote 78.
100
In diesem Dokument wird der Antisemitismus Hamers besonders deutlich.
Typisch für rechte Verschwörungstheorien ist eine Umdeutung und
Leugnung der Tatsachen. Hamer benutzt hier bewusst das Wort Genozid, wobei er dieses Wort mit neuem Wert belegt und dem Leser
vermittelt, dass nicht die Juden OPFER waren, sondern in der Gegenwart die TÄTER sind.
Dem (religiös) gebildeten Leser wird auffallen, dass Hamer in diesem
Tagungsdokument von einer Veränderung des Talmuds berichtet. Dieses Schriftstück ist seit vielen Jahrhunderten abgeschlossen und wird
keiner Umgestaltung unterzogen; diese Tatsache scheint Hamer und
den anderen Tagungsteilnehmern fremd zu sein.
Angesichts dieser Tagungsdokumentation fragt man sich, wer dieser
angebliche Rabbi Iwan Götz ist.
Im Internet wurde veröffentlicht, dass Götz schon wegen verschiedener Delikte verurteilt wurde, unter anderem wegen Titelmissbrauch,
illegalem Waffenbesitz und Urkundenfälschung (er hat Reichsausweise
erstellt).249
Iwan Götz vertritt eindeutig antisemitische Theorien, die sich mit unlogischen Weltverschwörungstheorien mischen. Zudem pflegt er Kontakte zu Jo Conrad, dem Autor von „Entwirrungen“, und dem Betreiber des Internetportals Secret.tv.
In einem Interview des Deutschlandfunks behauptet Götz, dass die
Reichspogromnacht von den Juden organisiert und finanziert wurde.
Im weiteren Teil des Gespräches sagte er: „Naja, den Holocaust gab´s ja
nicht! Das ist ja irgendwas, sozusagen, das sie ausgedacht haben…“ 250
In einem Brief von Götz an die UN-Menschenrechtskonvention, der
im Internet eingesehen werden kann, heißt es:
„Um den Rechtsholocaust am Deutschen Volk zu beenden, bitte und fordere ich die
UN-Menschenrechtskommission auf:
1. internationale Konferenz über die Geschichtsfälschung einzuberufen; zu
den Themen könnten gehören: Regierungskontakte mit den Außerirdischen, die Wahrheit über die UFO`s, die Wahrheit über Herrn J. Chris249 http://www.esowatch.com/ge/index.php?title=Iwan_Wanja_G%C3%B6tz (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
Siehe auch: http://www.transgallaxys.com/~kanzlerzwo/OPEN_ARCHIVE_OF_FORUM_TG_1_04941.htm
(zuletzt gesehen am 02.09.2010)
250 http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/725327/ (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
101
tus, die Wahrheit über die Pyramiden etc.;
2. eine Holocaust-Konferenz nach Berlin einzuberufen, in der von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern, die nicht auf der Gehaltsliste der
Juden stehen, endgültig die Wahrheit über den s. g. Holocaust im III.
Reich ein für allemal klären sollen; (…)“ 251
Dieses Dokument endet mit den Worten: „Als Sonderbotschafter des
Reichslandes Freistaat Preußen erkläre ich mich hiermit bereit, als Ansprechpartner für die genannten Kommissionen zu gelten. Mit freundlichem Geleit
Dr. Iwan Götz“.252
Wie zu erwarten, distanzierte sich die Union der progressiven Juden. In
einer Stellungnahme heißt es:
„1. Dr. Esra Iwan Götz gehört der World Union for progressive Judaism nicht an.
Er ist nicht berechtigt, das Logo der Europäischen Region der WUPJ in seinem
Briefkopf zu führen. Die rechtlichen Schritte, ihm dies wirksam zu untersagen,
werden eingeleitet.
2. Dr. Esra Iwan Götz gehört keiner rabbinischen Institution … an oder ist von
einer solchen als ‚Oberrabbiner‘ anerkannt worden. Der … Union progressiver
Juden ist auch keine andere jüdische Institution oder Autorität bekannt, die Dr.
Esra Iwan Götz den Rabbinertitel verliehen oder ihn als Oberrabbiner in ein Amt
eingesetzt hat. Da die Titel ‚Rabbiner‘ oder ‚Oberrabbiner‘ in Deutschland nicht
gesetzlich geschützt sind, gibt es keine rechtliche Handhabe, Götz die irreführende
Verwendung dieser Titel zu untersagen.
3. Die Synagogengemeinde zu Halle, (…) erklärt: ‚Herr Dr. Götz war einige
Male Gast in unseren Gottesdiensten, die auch gemeindefremden Personen, die sich
anmelden, offen stehen. Herr Dr. Götz ist nicht Mitglied der Synagogengemeinde
Halle und ist dies auch niemals gewesen. Der Ausweis ist irreführend. Er wurde
offensichtlich auf einem Blankoformular am 14.04.2004 ausgestellt.‘
4. … die Union progressiver Juden in Deutschland distanzieren sich von der
antisemitischen und antizionistischen Propaganda von Herrn Götz. Sie erwarten
von deutschen Behörden, diese Veröffentlichungen auf die Straftatbestände der
Volksverhetzung bzw. der Holocaustleugnung zu prüfen und entsprechende Maßnahmen gegen ihre Verbreitung zu unternehmen.“ 253
251 http://www.kirchenlehre.com/goetz.htm (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
252 ebd.
253 http://reichling.wordpress.com/2009/01/10/erklarung-der-union-progessiver-juden-in-deutschland-zu-gotz/
(zuletzt gesehen am 02.09.2010)
102
Hamer stellt dieses Tagungsdokument als Beweis für seine Weltverschwörungstheorie dar!
Das verdeutlicht die kriminelle Energie von Hamer und seinen Anhängern, die durchaus bereit sind, mit einem unechten Rabbi ihre Verschwörungstheorie zu untermauern. Diese Taktik wurde auch bei allen
offiziellen Anerkennungen der GNM durch angeblich wissenschaftliche
Institute und Einrichtungen angewandt. Die Unterlagen sind zur Erbringung eines wissenschaftlichen Beweises wertlos.
„Bevölkerungsdezimierung“
Laut Hamer dient seine juristische Verfolgung - und damit verbunden
die „Unterdrückung der GNM“ - der gezielten „Bevölkerungsdezimierung“.
Ich werde im Folgenden einige Webinhalte darstellen, die man nur bei
Eingabe bestimmter Suchbegriffe auf der Seite pilhar finden kann. Wird
auf der Seite pilhar in die Suchmaske das Wort Bevölkerungsdezimierung eingegeben, wird unter anderem auf diesen Link verwiesen:
„Häufige Fragen zur Schulmedizin – betreffend Bevölkerungskontrolle“. Hier sind verschiedene Zitate aufgeführt, unter anderem heißt es
dort:
„Die Regulierung des Bevölkerungswachstums ist das signifikanteste Kennzeichen
des neuzeitlichen, absolutistischen Staates. Die Ärzteschaft sah in diesem Zusammenhang eine einmalige Möglichkeit, der Obrigkeit zuzuarbeiten und sich damit
Prestige zu erkämpfen.“ 254
Weiter wird zitiert:
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Entweder
muß die Geburtenrate auf den Stand der gesenkten Todesrate herabgedrückt oder
aber die Sterberate erhöht werden.“ 255
An den Leser gerichtet steht auf der Seite:
„Anmerkung: Es geht hier um Dich und Deine Zukunft, verehrter Leser!
Keine Gattung lässt sich freiwillig regulieren. Diese Seite soll aufzeigen, wie dieses
254
http://www.pilhar.com/Fragen/SM/Kontrolle.htm (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
255 ebd.
103
Ziel dennoch erreicht wird. Es versteht sich von selbst, dass jene, die ‚regulieren‘ sich
aus diesen Maßnahmen ausklammern.“ 256
Darunter steht geschrieben: Viel klarer kann nicht mehr geschrieben
werden, und es wird auf die Seite igeawagu verwiesen.257 Dort befindet
sich ein Artikel, der sich auf den sogenannten Markstein von Georgia
bezieht.258 Ein Monument aus Granitstein, das sich in Elbert County
im US-Bundesstaat Georgia befindet – wegen seines Aussehens wird es
als amerikanisches Stonehenge bezeichnet. Das Bauwerk wurde 1978
von einem Mann unter dem Psyeudonym R. C. Christian bei der Elberton Granite Finishing Company in Auftrag gegeben.259 Der Stein ist in
verschiedenen Sprachen beschriftet. Auf diesem steinernen Monument
steht:
„Reduktion der menschlichen Bevölkerung des Planeten Erde auf 500 Millionen
Menschen, um ein Leben in Eintracht mit der Natur zu ermöglichen.“ 260 Durch
wen die Weltbevölkerung so dramatisch reduziert werden soll, wird
nicht gesagt! Weiter heißt es: „Überlegte Reproduktion der menschlichen Rasse. Entwicklung von Fitness … Vereinigung der menschlichen
Spezies mittels einer neuen, universellen Sprache.“261 Der sogenannte
Markstein von Georgia wird von verschiedenen Verschwörungstheoretikern als ein Beweis für einen nahenden Weltumbruch gedeutet.
Die GNM instrumentalisiert verschiedene Inhalte, um ihre antisemitische Verschwörungstheorie zu untermauern. Auf dem Markstein von
Georgia steht nicht geschrieben, dass die menschliche Rasse durch die
Juden reduziert oder eliminiert werden soll. Dennoch wird dieses Webdokument auf der Seite pilhar als Beweis für eine jüdische Weltverschwörung präsentiert.
256 ebd.
257 http://www.igeawagu.com/news/corruption/1199237261.html
258 Dieser Markstein von Georgia wird ausschließlich auf verschwörungstheoretischen Seiten dargestellt, ich konnte
keinen wissenschaftlichen Artikel zu diesem Bauwerk finden.
259 http://de.wikipedia.org/wiki/Georgia_Guidestones
260 http://www.igeawagu.com/news/corruption/1199237261.html (zuletzt gesehen am 05.09.2010)
261 ebd.
104
Die sogenannten „Rabbinerbriefe“
Diese Dokumente befinden sich aus gutem Grund nicht auf den offiziellen Seiten von Pilhar und Hamer. Sie verdeutlichen die sozialdarwinistische Rassenideologie der GNM.
Die „Rabbinerbriefe“ können unter fuellhorn eingesehen werden.262 Diese Dokumente können auch bei einer Google-Suche über den Begriff
Rabbinerbriefe gefunden werden. Sie liegen als PDF- und Html- Version vor. Die Html-Version dieses Schreibens wird regelmäßig durch
Links und Verweise auf die Seiten von Pilhar und Hamer aktualisiert.
Dies lässt den Schluss zu, dass diese Seite weiter von Anhängern der
GNM gepflegt wird.
Dieses Internetdokument besitzt zwei inhaltliche Ebenen:
Im ersten Teil des Dokuments sind Briefe von Hamer an den Zentralrat der Juden in Deutschland abgebildet.
Der zweite Abschnitt des Dokuments setzt sich aus einer Vielzahl von
Zitaten zusammen, die antisemitischen und rassistischen Inhalts sind
und verschiedenste Verschwörungstheorien aufgreifen. Dieser zweite
Teil des Dokuments ist sehr unübersichtlich und lässt thematisch keinen Zusammenhang erkennen, bis auf den durchgängigen Antisemitismus.
Hier werden zunächst die Briefe Hamers an den Zentralrat der Juden in
Deutschland vorgestellt.
In diesem Teil des Webdokuments behauptet Hamer folgende Dinge:
80% aller Rabbiner weltweit hätten an seinen Seminaren zur
GNM in Frankreich teilgenommen.263
Hamer behauptet, dass schon vier Attentate durch israelische
Ärzte und Rabbis auf ihn verübt wurden.264
Zudem gäbe es in Israel ein Krankenhaus, in dem nur nach den
Methoden der GNM behandelt werde.
Der Krebstod der Nicht-Juden werde weltweit von Juden zen-
262 http://www.fuellhornleben.de/Rabbiner%20Briefe%20Hamer.doc (zuletzt gesehen am 03.09.2010)
263 ebd.
264 ebd.
105
tral gesteuert, da ihnen alle Medien und Banken gehören.265
Hamer schreibt weiter:
„Auch wenn die Israelis sich inzwischen daran gewöhnt haben, durch ihre weltweite
Macht – gesteuert durch Beherrschung aller Logen dieser Welt alle Nicht-Israelis
für dumm und feige zu halten, weil alle kuschen und korrumpierbar sind, bin ich
davon überzeugt, dass die Menschen allmählich begreifen.(…) Denn das Globalmassaker an einem Viertel der nicht-israelischen Menschheit, das kann und wird
niemand mehr verzeihen“.266
In dem darauf folgenden Brief droht Hamer dem damaligen Vorsitzenden Paul Spiegel:
„Denn wenn sie (Spiegel) und ihre Oberrabiner-Kollegen die Erkenntnisunterdrückung der Neuen Medizin für Nicht Israelis aufheben wieder gutzumachen versuchen, was noch gutzumachen ist, dann müssen Sie von jetzt ab gewärtig sein, dass
eine Katastrophe über ihre Glaubensgemeinschaft hinwegrollt.“ 267
Damit endet der Teil, in dem Hamer als Person schreibt.
Ab der Mitte des Dokuments werden unter der Überschrift „Weitere
Texte zum Thema“ unterschiedliche Links aufgeführt. Im nachstehenden Teil werde ich kurz die Inhalte dieser Links vorstellen und anschließend gesondert auf drei dieser Links eingehen.
Es werden folgende Themen behandelt:
Die Kindesentführung durch einen Bezirkshauptmann und seine Komplizen (bei diesem Link handelt es sich um einen Artikel über Muriel Seebald).268
Der zweite Link ist fett gedruckt: „So arbeitet die jüdische Presse“; hier wird der Leser weitergeleitet zu antisemitischen Filmen bei youtube und auf die Seite NeuSchwabenLand, die
viele Filme und Webdokumente der GNM in ihrem Archiv zur
Verfügung stellt.
Weiter ist hier das Dokument „Der religiöse Wahnsinn“, ein
Brief Ryke Geerd Hamers, der auch auf beiden Internetseiten
265 ebd.
266 ebd.
267 ebd.
268 ebd.
106
(Pilhar und Hamer) auffindbar ist, verlinkt. In diesem Schreiben vom 01.01.2010 heißt es in Bezug auf AIDS: „Für die Leute
ist Aids- oder Chemo-Leugnen fast genauso schlimm wie das Leugnen
konstruierter, imaginärer Ereignisse der Geschichte.“ 269
Das bereits im oberen Teil auszugsweise vorgestellte Tagungsdokument ist hier auch noch einmal verlinkt.
Darauf folgend wird ein Artikel über durch Juden organisierten
Organhandel nach der Erdbebenkatastrophe in Haiti vorgestellt. Organhandel ist ein real existierendes gesellschaftliches
Problem. Besonders in den Industrienationen (Deutschland,
USA, Frankreich, Italien, etc.) wird mit Organen aus Drittweltländern gehandelt. Daher handelt es sich nicht um ein spezifisch israelisches oder gar jüdisches Problem.270 Auch in diesem
Fall handelt es sich um eine selektive Auswahl von Pressemeldungen, die zur Untermauerung der eigenen antisemitischen
Weltverschwörungstheorie eingesetzt werden.
In einem weiteren Link wird Helena Blavatsky zitiert. An dieser
Stelle des Textes wird die These aufgestellt, dass die Jesuiten
die Weltherrschaft erlangen wollen. Erstaunlicherweise werden
hier nicht die Teile aus Blavatskys Schriften zitiert, die sich mit
den sogenannten Wurzelrassen befassen.
Zusätzlich gibt es Zitate von Texten aus der Zeit des Kulturkampfes, die Otto von Bismarck als einen Okkultisten und Sensitiven darstellen.
Darauf folgend werden eine Reihe von Texten angegeben und
verlinkt, die die Menschenrechtsverletzungen in den kommunistischen Ländern als Verbrechen des angeblich „weltweit
operierenden“ Judentums an der Menschheit darstellen.
Daran anknüpfend werden die Protokolle der Weisen von Zion
als wissenschaftliche Tatsache dargestellt. Dieser Artikel hat
eine Verlinkung zu einem angeblich wissenschaftlichen Gutachten zu den Protokollen, welches 1935 von Ulrich Fleischhauer
269 http://www.pilhar.com/Hamer/Korrespo/2010/20100109_Hamer_DerReligioeseWahnsinn.htm (zuletzt
gesehen am 03.09.2010)
Siehe auch: http://dr-rykegeerdhamer.com/index.php?option=com_content&task=view&id=350&Itemid=76
(zuletzt gesehen am 03.09.2010)
270 http://www.hagalil.com/archiv/2010/02/15/organraub/#footnote_3_9291 (zuletzt gesehen am 03.09.2010)
Sieh auch: Studie über Organhandel: http://www.publicanthropology.org/TimesPast/Scheper-Hughes.htm
(zuletzt gesehen am 03.09.2010)
107
verfasst wurde. Zu diesem Gutachten heißt es:
o „Das Gutachten stellt die umfangreichste Untersuchung dar, die
bislang zu den Protokollen erstellt wurde. In minutiöser Arbeit
beweist Fleischhauer, daß die Protokolle echteste und unverfälschteste Äußerungen des die Weltherrschaft erstrebenden Judentums
darstellen … . Fleischhauer hat es geschafft, ein 416-seitiges
Gutachten zu erstellen, in welchem er … die Echtheit der Protokolle beweist … . Ein Sieg des arischen schaffenden Geistes
über die jüdische Kabbala!“
Dies war die Zusammenfassung der Links. Im folgenden Abschnitt
wird eine Auswahl von drei Links ausführlicher dargestellt.
Zu dem Link: Israel, Juden, Hebräer
Hier wird behauptet, dass die Hebräer sich diesen Namen unrechtmäßig angeeignet hätten.
„Der Name Israel ist ein Urgermanischer Name“ steht hier geschrieben;
wenn man den Link aktiviert, wird man zu einem Zitat aus einem Buch
von Hermann Wieland, aus dem Jahr 1925, auf der Seite Unglaublichkeiten weitergeleitet, wo es heißt:
„Der Name Israel ist ein urgermanischer Name für germanische Stämme und
findet sich schon lange vor den Juden in Palästina (Gebirge Palästina), von ausgewanderten Germanenstämmen dorthin gebracht. Die Hebräer haben diesen Namen
sich angeeignet, um als Höherrassige, als Heilige Gottes und Träger der Verheißung
zu gelten. Die zwölf Geschlechter Israels waren zwölf Germanenstämme, keine
Hebräer. (…) die atlantischen Eindringlinge [müssen] Scheusale gewesen sein. Sie
mischten sich geschlechtlich sogar mit Tieren, so mit Hunden, Schafen und Schweinen, weshalb sie den Namen Schweine = Eberer = Ebräer = Hebräer erhielten.
Den Namen Juden kommt vom ‚Guten‘‚ ‚Goten‘ “ 271
Am Ende des Zitats ist ein Link eingefügt.
Hier kann man am Ende des Dokuments das Buch „Atlantis, Edda und
Bibel“ als PDF und Hörbuch herunterladen.272
271 http://unglaublichkeiten.com/unglaublichkeiten/u3/u3_2738Israel.html (zuletzt gesehen am 03.09.2010)
272 ebd.
Siehe auch: http://nsl-archiv.com/Buecher/heil.php?text=Wieland&submit=+Suche+ (zuletzt gesehen
am 03.09.2010)
108
Zurück zu den Rabbinerbriefen:
Link: „Eine jüdische Rasse hat es nie gegeben“
Hier wird der Antisemit Wilhelm Prothmann, der als „Anwalt“ in Erscheinung tritt und Verbindungen zu Mathilde Ludendorf hat, angeführt:
In dem Link heißt es:
„Eine ‚jüdische Rasse‘ hat es nie gegeben! 1979 wurde das Gutachten ergänzt durch
einen ‚Epilog‘ eines unbekannten Verfassers mit dem Inhalt, daß 95% des heutigen
Welt‚judentums‘ nur Khasaren sind. Die restlichen 5% sind teilhamitisch-teilsemitisch-levantische Araber-Euro-Atlantide, romanisiert-hispanisierte Mischmasch-Typen … Eine ‚jüdische Rasse‘ hat es nie gegeben! “ 273
Eine jüdische Rasse hat es nie gegeben kann man anklicken und wird dann
wieder auf die Seite Unglaublichkeiten weitergeleitet.274 Auf dieser Seite
kann nun S. 1 angeklickt werden, und es erfolgt eine Weiterleitung zur
Einleitung dieses Dokuments, wo Folgendes zu lesen ist:
„Predigt die … heute in den Synagogen und Schulen gelehrte Religion Rache, Völkerhass und Blutdurst gegenüber den Nichtjuden, sowie Enteignung und wirtschaftliche Entmachtung aller nichtjüdischen Völker?“275
Unter Epilog 2 kann Folgendes nachgelesen werden:
„Nach allem Gesagten, was bewiesen und unwiderlegbar ist, gibt es de facto keine
‚Juden‘, entfällt ebenso der irreführen sollende polit-‚religiöse‘ Hetzbegriff ‚Antisemitismus‘. Ergo dringende Empfehlung, um für die Zukunft das Schlimmste zu
verhüten: ab sofort und in allen Fällen nur noch ausschließlich von Khasaren zu
reden und zu schreiben. (…) Nur so kann man ihnen den Wind aus den Segeln
(ihre Hoffnung auf Weltbeherrschung) nehmen.“ 276
Wieder zurück zu den Rabbinerbriefen:
In diesem Webdokument wird zudem ein Text von Rudolf John Gorsleben mit dem Titel Hoch-Zeit der Menschheit, aus dem Jahr 1930, zitiert.
273 http: // webcache.googleusercontent.com / search? q=cache: l3PtjYOMoycJ:www.fuellhornleben.de/
Rabbiner%2520Briefe%2520Hamer.doc+rabbinerbriefe&cd=3&hl=de&ct=clnk&gl=de&client=firefox-a
(zuletzt gesehen am 03.09.2010)
274 http://unglaublichkeiten.com/unglaublichkeiten/u3/u3_2402Khasaren.html (zuletzt gesehen am 03.09.2010)
275 http://unglaublichkeiten.com/unglaublichkeiten/u3/u3_2402/Bild2.png (zuletzt gesehen am 03.09.2010)
276 http://unglaublichkeiten.com/unglaublichkeiten/u3/u3_2402/Bild4.png (zuletzt gesehen am 03.09.2010)
109
Ein Kapitel daraus, die „Imprägnation des Weibes“, behandelt das Thema Rasse und deren Mischung. Dieser Text verdeutlicht Hamers Neigung zu sozialdarwinistisch rassistischem Denken und rechtem Gedankengut. Es stellt sich die Frage, wie eine Person, die Medizin studiert
hat, solchen biologisch unsinnigen Theorien anhängen kann! In diesem
Text wird die These vertreten, dass ein Mann beim Geschlechtsverkehr
mit einer Frau seine biologische Spur hinterlassen würde.
„Eine Frau wird wesentlich durch den Mann bestimmt, dem sie sich in jungfräulichem Zustande hingibt. Diese körperliche, seelische und geistige Vermischung hat
nun bei der Vererbung zur Folge, daß Kinder aus einer Vereinigung der Frau mit
einem zweiten Manne Keimanlagen des ersten Mannes, selbst wenn auch keine
Empfängnis stattfand, übernehmen, denn schon der Samen wirkt durch bloße Aufnahme wesensverändernd.“ 277
Daraus wird dann die Schlussfolgerung gezogen:
„Der Hochrassige kann sich darum mehr erlauben, ohne Schaden anzurichten.
Schwängert er eine Jungfrau arischer Herkunft, so zeugt er wenigstens echt, das
heißt nicht nur fort, sondern hinauf, schwängert er ein Mädchen minderrassiger Art,
so handelt er zwar nicht klug, aber er ‚schändet‘ das Mädchen nicht, eher sich selber
in einer ‚unebenbürtigen‘ Nachkommenschaft.“ 278
Dieses Zitat schließt mit dem Resultat:
„Was die ‚Juden‘ heute sind, das waren sie von jeher, ein über die ganze Erde
verbreitetes, nicht auserwähltes, aber ausgestoßenes Volk, dessen Angehörige schon
vor 5000 Jahren in Babylon große Bankhäuser leiteten. (…) Sie sind … das
kränkste, körperlich und geistig das entartetste Volk der Erde, weil es, seit Jahrtausenden aus kastenlos, rasselos Gewordenen, aus irgendwelchen körperlichen und
sittlichen Mängeln Ausgestoßenen sich zusammensetzend, keine Verbindung mehr
zur Mutter Erde … [hat].“ 279
Am Ende des Zitates wird die Quelle angegeben, und der interessierte
Leser kann sich dieses und weitere verfassungsfeindliche Bücher als
PDF-Datei herunterladen.280 Auf der Seite Unglaublichkeiten befindet
277 http://unglaublichkeiten.com/unglaublichkeiten/u3/u3_2402/Bild4.png (zuletzt gesehen am 02.09.2010)
278 ebd.
279 ebd.
280 http://unglaublichkeiten.com/unglaublichkeiten/htmlphp2/u2_08967Gorsleben.html (zuletzt gesehen am
02.09.2010)
110
sich zusätzlich der Hinweis, dass dieses Buch seit 1993 in der Bundesrepublik verboten ist.
Fazit
Es wurde deutlich, dass die Krankheitsentstehungstheorie der GNM
durch antisemitische Weltverschwörungstheorien geprägt ist.
Hamer und Pilhar leugnen öffentlich den Holocaust und verbreiten
rassistische, antijüdische Propaganda. Wobei diese „neue Art“ des Antisemitismus von sich behauptet, kein Antisemitismus zu sein, was man
durch verschiedene historische und anthropologische Umdeutungen zu
belegen versucht. Unter anderem wird behauptet, dass Juden eigentlich
Khasaren seien. Aus dieser Theorie, Juden wären eigentlich Khasaren,
wird dann abgeleitet, dass es daher auch keinen Antisemitismus geben
könne.281
Eine derartige Deutung ist typisch für Weltverschwörungstheorien.
„Weltverschwörungstheorien sind komplexe psychologisch-politisch-soziale Denkstrukturen, die auf dem Freund-Feind-Schema basieren, sie dienen als politischideologisches Instrument für Gesellschaftliche Gruppierungen, die die Macht behalten oder erringen wollen.
Anfangs wird eine Weltverschwörung behauptet, die von bestimmten Feinden organisiert wird. Diese höchst unterschiedlichen Feinde 282 werden mit Hilfe der ‚Verschwörungstheorie zu einer einheitlichen Feindgruppe 283 vereint‘, gegen die dann
gekämpft werden muss.284 ‚Der deutsche Politologe Armin Pfahl-Traughber (1993)
hat Ansätze zu einer Theorie über die Wirkung der Weltverschwörungsmythen
entwickelt. Er zeigt auf, dass diese Mythen meist in Krisen- und Umbruchszeiten
entstehen, wenn alte Konfliktlinien sich auflösen, entwickeln sich neue. Verschwörungstheoretiker denken in einer Welt aus schwarz-weissen Feinbildern [sic!],
Freunde und Feinde sollen klar unterscheidbar sein. (…) Manche arbeiten dabei
281 Sieh hierzu: Eduard Gugenberger, Franko Petri, Roman Schweidlenka: Weltverschwörungstheorien. Die neue
Gefahr von rechts, Wien 1998, S. 178ff.
282 Wie bei unserem Bsp.: Schulmedizin, Ärzte, Onkologen, Rabbis, Freimaurer, Zionisten, Israelis
283 In diesem Fall die Juden.
284 Petri: Strategien gegen den Weltverschwörungswahn, Bern 1999, S. 3.
Text erhältlich unter: http://www.infosekta.ch/media/pdf/E_Eso_Petri_StrategienWeltverschwörungswahn.pdf
111
mit Tricks, andere überzeugen durch ihre wissenschaftliche Form.‘ “ 285
Eine Gemeinsamkeit haben aber alle Weltverschwörungstheorien, sie
sind unlogisch und ihre vorgebrachten Argumente sind nicht nachvollziehbar.286
„Historische Fakten werden verschwiegen oder umgedreht“, es werden
historische Traditionen konstruiert, um die eigene Weltdeutung zu bestätigen.287 Diese Art des Denkens ist zudem absolut und lässt keine
Kritik zu, denn jeder Widerspruch wird systemimmanent als Teil der
Verschwörung interpretiert.288
„Verschwörungstheorien sind eine Herausforderung für die Demokratie, die Vernunft, Menschlichkeit und Toleranz.“ 289 Ihre Absurdität bewahrt viele Menschen nicht davor, an sie zu glauben. Sie bestechen besonders durch
ihre scheinbare Logik. Daher ist es nach Petri notwendig, bei allen Verschwörungstheorien die innere Unlogik zu enthüllen, um sie erfolgreich
zu dekonstruieren.290
285 ebd.
286 ebd., S.3.
287 Petri, 1999, S. 4.
288 ebd. , S. 3.
289 ebd.
290 ebd.
112
HEUSCHRECKEN, GIER UND WELTVERSCHWÖRUNG:
REGRESSIVER ANTIKAPITALISMUS UND DAS ANTISEMITISCHE
RESSENTIMENT
Lothar Galow-Bergemann
Wer in den 60er oder 70er Jahren in Westdeutschland überhaupt nur
das Wort „Kapitalismus“ in den Mund genommen hat, war sofort entlarvt als von Moskau und Ostberlin ferngesteuerter Kommunist, der
unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung untergraben wollte.
Denn „bei uns“ gab es keinen Kapitalismus, das war ein Kampfbegriff
der SED-Propaganda, bei uns gab es nämlich eine „soziale Marktwirtschaft“ und die war etwas völlig anderes. Nach dem unrühmlichen und
verdienten Ende des sowjetischen Imperiums war man in den 90er Jahren sogar davon überzeugt, dass nunmehr das Reich der Glückseligkeit
anbreche. Von blühenden Landschaften war die Rede, gar vom Ende
der Geschichte. Nun, spätestens seit der Krise, die 2008 mit dem Zusammenbruch des traditionsreichen Bankhauses Lehmann Brothers begann und die seitdem nicht mehr enden will, hat sich da ein bisschen
was verändert. „Kapitalismuskritik“ ist in aller Munde. Schlagen Sie irgendeine Zeitung auf, machen Sie den Fernseher an, hören sie Politikern zu oder den Leuten in der Straßenbahn: Irgendwie haben fast alle
was gegen den Kapitalismus. Als alter Kapitalismuskritiker könnte man
sich darüber freuen. Doch das Lachen bleibt einem im Halse stecken.
Denn das, was da im Allgemeinen unter „Kapitalismuskritik“ firmiert,
hat kaum mit Kapitalismus und kaum mit Kritik zu tun, dafür aber umso mehr mit Oberflächlichkeit und Ressentiment.
Das Alltagsbewusstsein reagiert leider höchst ressentimentgeladen auf
die Krise. Und Ressentiments sind äußerst faktenresistent. Da gibt es
z. B. das Bild von den „faulen Griechen“, das in vielen Köpfen herumspukt. Obwohl die tatsächliche Wochenarbeitszeit der Griechen 44,3
Std. beträgt (in Deutschland sind es 42), ihr Jahresurlaub bei 23 Tagen
liegt, ihre Rente ganze 55% des europäischen Durchschnitts ausmacht,
ihr Lohnniveau 73% der Eurozone beträgt, 25% der Griechen weniger
113
als 750 € verdienen, 20% von Armut bedroht sind und 25% in überbelegten Wohnungen leben. Und das alles sind Angaben aus der Zeit vor
Ausbruch der so genannten Griechenlandkrise, heute sieht es noch
deutlich schlechter aus!291 Genauso hartnäckig hält sich die Vorstellung
„Wir sind die Zahlmeister“. Doch die Bundesregierung nimmt das
Geld weder aus dem Staatshaushalt noch aus dem Steueraufkommen.
Sie leiht es für 1 % bis 3 % und verleiht es weiter - an Griechenland für
4,2% - an Irland für 5,8% - an Portugal für 5,5 bis 6%. Die Angaben
stammen von Oktober 2011, aber im Prinzip verhält es sich auch jetzt
noch so.292 Ein gutes Geschäft für die deutschen Steuerzahler. Per Saldo zahlt nämlich Griechenland an Deutschland. Wenn die ganze Blase
nicht platzt, wäre allerdings hinzuzufügen, aber da sind wir schon bei
einem ganz grundsätzlichen Problem des modernen Kapitalismus, auf
das wir später noch zu sprechen kommen.
Die Menschen an den Werkbänken und Schreibtischen - und die an den
Stammtischen sowieso - spüren, dass etwas schiefläuft. Sie bekommen
tagtäglich mit, dass es immer mehr Verlierer gibt und sie möchten nicht
dazugehören. Wenn also Thilo Sarrazin zur Begründung seiner rassistischen Thesen von Menschen spricht, die „keine produktive Funktion“ haben293, so sagt er durchaus die Wahrheit. Bitte denken Sie jetzt nicht in
Maßstäben der Humanität. Denken Sie in der Logik des kapitalistischen Systems. Die macht nämlich in der Tat immer mehr Menschen
„überflüssig“. Dazu später mehr. Und wie reagiert nun das Alltagsbewusstsein auf Sarrazins Thesen? Mit erschreckenden 56% Zustimmung.294
Es gibt also das verbreitete rassistische oder auch nationalistische Ressentiment gegen „die Faulen, die uns auf der Tasche liegen“. Das „Wir“ der
Guten, zu dem sich die Ressentimentgeladenen ganz selbstverständlich
dazurechnen, ist dabei immer das Kollektiv der „Ehrlich Arbeitenden
und Betrogenen“. Es existiert aber noch ein anderes Ressentiment und
es ist sogar noch weit stärker verbreitet als das rassistisch /nationalistische. Ja selbst viele, die dieses Ressentiment kritisieren, teilen jenes an291 RLS, 20 beliebte Irrtümer in der Schuldenkrise, Oktober 2011
292 dto.
293 Th. Sarrazin, Lettre International, 01.10.2009
294 http://wahltool.zdf.de/Politbarometer/mediathekflash.shtml?2010_09_10
114
dere selbst. Es ist dies das Ressentiment gegen „die Gierigen, die uns
an den Geldbeutel wollen“. Gegen „die da oben, die uns belügen und
betrügen“. Auch in diesem Fall rechnet sich das „Wir“ der Guten wiederum dem Kollektiv der „Ehrlich Arbeitenden und Betrogenen“ zu.
Dieses Ressentiment nenne ich das regressiv-antikapitalistische.
Was ist regressiver Antikapitalismus?
Um dieser Frage mehr auf den Grund zu gehen, empfehle ich Ihnen,
sich den Film „Jud Süß“ von 1940 anzusehen. Der Film ist ja bekanntlich nicht verboten, er ist ein so genannter „Vorbehaltsfilm“, der bei gewissen Gelegenheiten immer mal wieder zu sehen ist. Damals sind über
20 Millionen Menschen in die Kinos geströmt - so viele wie nie zuvor und nicht etwa weil sie der Blockwart hineingetrieben hätte, sondern
weil sie dort genau das sahen, was sie dachten und fühlten. Wovon handelt der Film? Am Hofe eines Fürsten, der von chronischer Geldnot
geplagt ist, gewinnt ein intelligenter und mit allen Wassern gewaschener
Jude zunehmend an Einfluss, weil er dem Herrscher immer wieder mit
raffinierten Finanztricks aus der Klemme hilft. Natürlich muss das
Geld irgendwoher kommen und natürlich wird es dem Volke weggenommen. Während nun die gierigen und raffenden Hintermänner des
Juden am Hofe immer mehr Reichtümer beiseiteschaffen, verarmt das
Volk zusehends. Der Film arbeitet mit sehr einprägsamen Bildern: Hie
die Raffgierigen, da die ehrlich Arbeitenden. Die Unzufriedenheit
wächst, es kommt zu Protesten, Fensterscheiben gehen zu Bruch und
der Widerstand der „ehrlich Arbeitenden und Betrogenen“ formiert
sich. In der Schlüsselszene mobilisiert der positive Held seine Mannen
zum Kampf gegen die Juden mit dem Ausruf: „Wie die Heuschrecken
fallen sie über uns her!“ Das ist der zündende Funke, der überspringt.
Von da an wehrt man sich gegen die Gierigen. Am Ende wird der Jude
zur großen Zufriedenheit des Volkes erhängt.
Nun hat meine Gewerkschaft ver.di vor einiger Zeit eine Broschüre
herausgebracht, die den Anspruch erhebt, den so genannten „Finanzkapitalismus“ zu erklären. Darauf ist ein großer Heuschreckenschwarm
115
zu sehen, der sich dem Betrachter bedrohlich nähert. Darüber steht:
„Finanzkapitalismus Geldgier in Reinkultur!“ Im Innenteil sieht man
jede Menge Karikaturen, die mal Heuschrecken, mal Menschen zeigen der Unterschied spielt da keine große Rolle mehr - die gierig über
Mietshäuser, Fabriken und Banken herfallen und sie ausquetschen und
aussaugen. Willige Helfer, unschwer als Politiker der Bundesregierung
auszumachen, rollen den von außen, aus Übersee kommenden Heuschrecken den roten Teppich aus und reißen für sie die Deiche ein.
Schon sieht man die ins Land einfallenden Gierigen sich angesichts der
im Hintergrund ehrlich-friedlich vor sich hin arbeitenden deutschen
Fabrik die Hände reiben: „Auf zu neuen Betätigungsfeldern“ Erst
wenn die große Heuschrecke am Schluss gefesselt ist, geht es den Menschen wieder gut und sie können feiern.
Den KollegInnen von ver.di, die diese Broschüre gemacht haben, zu
unterstellen, sie seien Nazis, wäre nicht nur persönlich absolut unter der
Gürtellinie, es wäre auch sachlich völlig falsch. Natürlich sind sie das
nicht. Und trotzdem, ja gerade deswegen muss man hellhörig werden.
Da gibt es nämlich offensichtlich bestimmte Bilder und Erklärungsmuster für die kapitalistische Krise, die sich konsistent durch die gesamte Gesellschaft ziehen, ob rechts, links, Mitte, oben oder unten.
Gerade die Heuschreckenmetapher erfreut sich im Zuge der vermeintlich kapitalismuskritischen Debatte seit einigen Jahren großer Beliebtheit quer durch die ganze Gesellschaft. Ob im gutbürgerlichen Diskurs
in den Leitmedien oder in martialischen Kampfaufrufen Autonomer:
„Heuschreckenalarm - Mieten rauf ? Nicht mit uns, ihr Schweine!“
Wie sehr etwa die gefühlte Bedrohung durch das, in der Regel als
„ausländisch“ imaginierte, Finanzkapital die ganze Gesellschaft durchzieht, machen auch folgende Zitate deutlich, die von drei höchst unterschiedlichen Leuten stammen, die selbstredend nicht in einen Topf zu
werfen sind. Umso frappierender:
„Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle Formen des Kapitals ...
bedeutet die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht‘ besitzen.“
„Der Kampf gegen das internationale Finanz- und Leihkapital ist zum
wichtigsten Programmpunkt des Kampfes der deutschen Nation um ihre
116
wirtschaftliche Unabhängigkeit und Freiheit geworden.”
„Die Deutsche Bank ist keine deutsche Bank mehr ... Es ist nicht gut,
dass deutsche Weltfirmen hinsichtlich der Finanzierung von großen Vorhaben und Investitionen von ausländischen Finanzinstituten abhängen.“
Hätten Sie gewusst, dass das erste Zitat von Lenin stammt, das zweite
von Hitler und das dritte von Helmut Schmidt?295
In einem „Kalender gegen Stuttgart 21“ sehen wir zwei Landkarten
von Baden-Württemberg: einmal ein trüber verdorrter Landstrich, wo
ein zylindertragender Dunkelmann einen hässlichen Kaktus namens
Stuttgart 21 gießt und das andere Mal ein blühendes und grünendes
Ländle, wo glückliche Menschen in saftigen Wiesen ihre Blümlein gießen - weil nämlich das vermeintliche Alternativkonzept „Kopfbahnhof
21“ verwirklicht wurde. Darunter lesen wir: „Möge dieser Kalender den
Menschen ... die Augen öffnen helfen, woran Fortschritt zu erkennen ist: Daran, ob
ein Projekt einer Mehrheit oder nur einer gierigen Minderheit dient.“
Eine weitere oberflächliche und ressentimentgeladene „Erklärung“ für
die Zumutungen, die der Kapitalismus für die Menschen mit sich
bringt, ist die so genannte „Zinskritik“. Gerade diese Pseudokritk verzeichnet leider, je länger die Krise dauert, umso mehr AnhängerInnen.
Sie stellt nichts am Kapitalismus infrage, außer den Umstand, dass es
Zinsen gibt. Gäbe es die nämlich nicht, so hätten wir gar keinen „Kapitalismus“ mehr, sondern eine „natürliche Wirtschaftsordnung“, die
wunderbar funktionieren würde. Wie nun aber die bösen Zinsen in die
Welt kommen, wo es doch auch ganz ohne sie funktionieren könne das erklären sich ZinskritikerInnen womit? Dreimal dürfen Sie raten.
Mit ganz besonders Gierigen natürlich, die mithilfe der bösartigen Erfindung „Zins“ ihre Mitmenschen ausbeuten. „Was hör ich da? Geld
ohne Zinsen? Da müsste ich ja arbeiten wie Sie?“ kanzelt schon auf
einer Karikatur des 19. Jahrhunderts ein fetter Vielfraß einen armen
Hungerleider ab, während Ihnen heute passieren kann, dass in Ihrer
Stammkneipe Bierdeckel mit der vermeintlich subversiven Aufschrift
„Dieses Bier hat 30% Zinsanteil“ auftauchen oder Sie sich im Internet
295 LW 22, 242; Mein Kampf, 233; Die Zeit 15.7.2011
117
ein Dreiminutenfilmchen mit dem großspurigen Titel „Wie funktioniert Geld?“ ansehen können: Da fesselt ein raffinierter Bösewicht einen armen Arbeitssklaven mittels Zinsketten an eine Bank und in der
Schlußszene streckt eine Riesenkrake ihre Arme über den Erdball aus:
„Er regiert das Geld und Geld regiert die Welt“.
Überhaupt ist die Frage „Geld regiert die Welt. Und wer regiert eigentlich das Geld?“ geradezu die klassische Pseudofrage des regressiven
Antikapitalismus, die hinter systemischen Zwängen das Handeln böser
Mächte vermutet. Diese Frage begegnet einem auf occupy-Demonstrationen ebenso wie auf dem Cover des „Spiegel“.296 Die „Frankfurter
Rundschau“ vom 25.10.11 zeigt auf der Titelseite zwei große Hände,
die den Erdball mittels langer Marionettenfäden dirigieren und titelt:
„In der Hand der Konzerne. 147 Firmen dominieren die Welt.“ Auch
das natürlich eine Personalisierung, denn die Konzerne sind bekanntlich hierarchisch strukturiert und man kann sich ja schon denken, wie
die heißen, die da die ganze Welt manipulieren...
„Wir“ aber sind die Guten. Und wenn etwas nicht so läuft, wie wir das
wollen, steckt natürlich nichts als Manipulation dahinter. Exemplarisch
sei auf ein Plakat verwiesen, das auf der ersten Demonstration gegen
Stuttgart 21 nach dem für die GegnerInnen verlorenen Volksentscheid
mitgeführt wurde:
„Herr Kretschmann, Verstecken Sie sich nicht hinter dem sog. Volksentscheid.
Denn: entschieden hat nicht das Volk, entschieden haben Kapital, Spekulanten und
Heuschrecken mit ihren Millionen - und irregeführte, belogene und betrogene Bürger!“ Auf einem anderen, für die Stuttgarter Wutbürgerproteste ebenso
typischem Bild halten DemonstrantInnen Schilder mit den Konterfeis
von Merkel, Kretschmann und (dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im
Stuttgarter Landtag) Schmiedel, - quer über deren Stirn steht jeweils in
einem schwarzen Balken: „Verantwortlich“. Diese Sorte „Kapitalismuskritik“ zeigt sich besonders anschaulich auch bei den Aktionen von
occupy: „We are the 99%“ lautet der Slogan, der da zu begeistern vermag, und die Dame, die sich gleich „I am the 99%“ auf die Wange
gemalt hat oder der Herr, der auf sein Pappschild schreibt „Ich bin
99% und ich bin wütend“, zeigen sehr anschaulich, wie innig sie von
296 Der Spiegel 12.12. 2011
118
dem Wunsch beseelt sind, zum großen und guten Kollektiv der „Ehrlichen und Betrogenen“ zu gehören. Aber es gibt auch differenziertere
Menschen, die sind der Meinung, dass die Guten nicht 99%, sondern
nur 98% der Menschheit ausmachen: „Ich teile die Menschheit deshalb gern
in drei Kategorien ein. Die erste Kategorie, das sind die normalen Menschen. Wir
alle haben sicher als Jungs mal Äpfel geklaut, aber dann sind wir doch anständige
Kerle geworden. Normale Menschen also, das sind vielleicht 98 Prozent. Zweite Kategorie, das sind die mit einer kriminellen Ader. Die gehören vor Gericht, und wenn
sie schuldig gesprochen sind, dann gehören sie ins Gefängnis. Und die dritte Kategorie sind Investmentbanker und Fondsmanager. Dabei ist das Wort Investmentbanker nur ein Synonym für den Typus Finanzmanager, der uns alle, fast die ganze
Welt, in die Scheiße geritten hat...“ schreibt Helmut Schmidt, der beliebteste
Politiker der Deutschen, der von vielen wie ein Säulenheiliger verehrt
wird.297
In einer Karikatur des „Stürmer“ aus der Nazizeit sitzt ein fetter Jude
mit Hakennase auf einem prallen Geldsack, darunter steht: „Der Gott
des Juden ist das Geld. Und um Geld zu verdienen, begeht er die größten Verbrechen. Er ruht nicht eher, bis er auf einem großen Geldsack
sitzen kann, bis er zum König des Geldes geworden ist.“ Dieses Bild
funktioniert auch ohne Juden. Auch in modernen Karikaturen, noch
mehr in vielen modernen Köpfen, findet sich das Bild des fetten gierigen Finanzkapitalisten, der sich die Hände nach dem Profit reibt und
nicht eher ruht, bis er König des Geldes ist. Ist das schon Antisemitismus? Es gibt den Versuch, diese Frage mit dem Verweis auf einen
„strukturellen Antisemitismus“ zu beantworten. Der strukturelle Antisemitismus reproduziere sämtliche antisemitischen Muster ohne „Juden“ ausdrücklich zu nennen, er sei folglich ein „Antisemitismus ohne
Juden“. Der so qualifizierte „strukturelle Antisemit“ reagiert darauf regelmäßig mit größter Empörung: „Ich habe etwas gegen die Gierigen,
die uns alle aussaugen. Aber ich sage (und denke) nicht, dass diese Gierigen die Juden sind. Nur in diesem Fall wäre ich Antisemit.“ Wie weit
der Begriff des strukturellen Antisemitismus trägt, kann hier nicht abschließend geklärt werden.
Fest stehen aber auf jeden Fall die ausgeprägte Anschlussfähigkeit und
297 Das Geldhaus, Die Zeit 15.7.2011
119
die große Nähe zwischen regressiv-antikapitalistischem Ressentiment
und Antisemitismus sowie die fließenden Übergänge zwischen beiden.
Im Stuttgarter Stadtarchiv findet sich ein Flugblatt der NSDAP von
1931. Es folgt dem Muster: Verzweiflung und Not auf der einen Seite,
Millionen-Verschwendungen und superreiche Minister, Konzernchefs
und Bankiers auf der anderen Seite. Über vier Seiten hinweg werden
akribisch deren Bezüge und Einkommen aufgelistet. Die Agitation endet mit den Sätzen: „Magst Du links, in der Mitte oder rechts gestanden haben,
kehre um und stärke die Partei, die derartige Zustände abschafft, damit es endlich
besser wird. ... Damit diese Ausbeutung garantiert aufhört, entscheide Dich für die
Partei Adolf Hitlers Werde Mitglied der National-sozialistischen Deutschen
Arbeiter-Partei“. (Schreibweise im Original.) Der positive Bezug der Nationalsozialisten auf die „ehrliche Arbeit“ hat sich in nichts von demjenigen der allermeisten Deutschen unterschieden. „Arbeiter der Stirn und
der Faust Wählt den Frontsoldaten Hitler!“ heißt es auf einem NSDAPPlakat aus dieser Zeit, und bekanntlich haben demokratische Wahlen
dem nationalsozialistischen Deutschland den Weg geebnet. Viele können bis heute nichts damit anfangen, dass ausgerechnet die Worte
„Arbeit macht frei“ über dem Tor von Auschwitz stehen. Aber das hat
seine innere Logik: „Dort die Gier - hier die ehrliche Arbeit. Jetzt sollen
die Gierigen endlich auch mal arbeiten.“ - „Die sollen erst mal arbeiten
lernen“ war noch in den 60er und 70er Jahren eine äußerst beliebte
Hassparole gegen demonstrierende junge Leute und auch heute - gerade in der Krise - ist der fast schon wahnhafte Bezug auf die Arbeit
noch weitgehend ungebrochen. „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ - „Sozial ist,
was Arbeit schafft“ - „Die schönsten Plätze sind Arbeitsplätze“ - so
lauten Wahlplakate verschiedener Parteien aus den letzten Jahren. Unterscheiden tun sie sich nicht.
An dieser Stelle einige Anmerkungen zu einer anderen Variante der
Nähe zu antisemitischen Denkmustern, die zwar hier nicht im Mittelpunkt steht, aber gleichfalls sehr aktuell ist. So tief verwurzelt das „Nie
wieder“ auch nach 1945 ist und so sehr es auch geradezu ritualisiert
wurde, so haben doch bis heute die meisten nicht verstanden, dass es
auch welche gibt, die aus den Ereignissen den Schluss gezogen haben,
nie wieder Opfer sein zu wollen. Und wenn man schon den Spruch auf
dem Eingangstor von Auschwitz nicht versteht, so kann man schon gar
120
nichts mit einem Foto anfangen, auf dem eine Besuchergruppe zu sehen ist, die die Staatsflagge Israels durch dieses Tor trägt. Dieses Unverständnis ist unter denjenigen, die sich als links verstehen, leider ganz
besonders ausgeprägt. Wenn Günter Grass behauptet, „Israel gefährdet
den Weltfrieden“ und will „allesvernichtende Sprengköpfe“ in den Iran
lenken, so erinnert einen diese irre Verdrehung der Realität an ein deutsches Plakat aus den 40er Jahren: „Der ist schuld am Kriege“ heißt es
da und ein ausgestreckter Finger zeigt anklagend auf „den Juden“ mit
dem Davidstern. Die Deutschen haben Auschwitz bekanntlich tatsächlich damit begründet, dass die Juden ja „uns“ vernichten wollten. In
irrer Umkehrung der Realität unterstellt der Antisemit den Juden das,
was ihnen droht.
Und man darf sich nicht täuschen: Im Gegensatz zu den meisten Medien hat ein sehr großer Teil der Bevölkerung Grass unterstützt. Die
Blindheit gegenüber Antisemitismus ist weit verbreitet. Er wird auch
und ganz besonders im Falle des iranischen Regimes kaum zur Kenntnis genommen. Dabei könnte man ohne Scheuklappen durchaus wissen, was Sache ist. Beispielhaft zwei Zitate von Ahmadinedschad. Während der UN-Vollversammlung am 24.09.2008 sprach er von „einer
kleinen, aber hinterlistigen Zahl von Leuten namens Zionisten“: „Obwohl sie eine unbedeutende Minderheit sind, beherrschen sie einen wichtigen Teil der
finanziellen Zentren sowie der politischen Entscheidungszentren einiger europäischer
Länder und der USA in einer tückischen, komplexen und verstohlenen Art und
Weise“. Auf der UN-Vollversammlung am 23.09.2009 verkündete er:
„Es ist nicht länger akzeptabel, dass eine kleine Minderheit die Politik, Wirtschaft
und Kultur großer Teile der Welt durch ihre komplizierten Netzwerke beherrscht
und eine neue Form der Sklaverei betreibt.“ Solcherlei Tiraden könnten um
ein Vielfaches ergänzt werden, auch um Aussagen von Khamenei und
anderen Führern des iranischen Gottesstaates. Sie offenbaren ein komplett antisemitisches Weltbild - kombiniert mit der Leugnung des Holocaust, der Parole, Israel müsse ausradiert werden, und dem Streben
nach Atomwaffen. Wo bleibt die Empörung der deutschen Öffentlichkeit, wo bleiben die Kundgebungen der Friedensbewegung für den bedrohten Judenstaat? Man will es einfach nicht wahrhaben und schaut
weg. Nicht wenige sympathisieren gar klammheimlich mit der Politik
des iranischen Regimes, leider wiederum vor allem Leute, die sich als
links verstehen.
121
Antisemitismus tritt heute in erster Linie in Form des Antizionismus
auf. Der Antisemit unterstellt „dem Juden“, er sei gierig und bösartig
und beherrsche und bedrohe, obwohl zahlenmäßig so klein, die ganze
Welt. Der Antizionist unterstellt dem jüdischen Staat genau dasselbe.
Aber man hat ja heute nichts mehr gegen Juden. Man will ja „nur Israel
kritisieren“. Mit verdächtiger Obsession allerdings. Die macht sich
schon daran fest, dass man eigens dafür ein Wort erfunden hat: „Israelkritik“. Obwohl die Zeitungen jeden Tag voll davon sind und obwohl
kein Mensch jemals verlangt hat, dass man israelische Politik nicht kritisieren dürfe, scheint „Israelkritik“ für viele so etwas wie ein unveräußerliches Menschenrecht zu sein. Haben Sie schon mal von Frankreich-, Russland- oder Türkeikritik gehört? Auch der Umgang mit Israel
zeigt, welch große Barrieren es in sehr vielen Köpfen gegen die Wahrnehmung von Antisemitismus gibt.
Wenn wir also die Frage beantworten wollen, was Antisemitismus und
was regressiver Antikapitalismus sei, so müssen wir zunächst einmal
festhalten, was Antisemitismus - entgegen weitverbreiteter Vorstellung alles nicht ist. Antisemitismus hat Schnittmengen mit Rassismus, aber er
ist kein „antijüdischer Rassismus“. Antisemitismus beinhaltet auch Vorurteile, aber er ist nicht „eines von vielen Vorurteilen“. Antisemitismus
wird auch zu taktischen Zwecken mobilisiert, aber er ist keine „Sündenbock-Propaganda der Herrschenden”. Und Antisemitismus ist nicht „in
der Linken und in der Mitte undenkbar“.
Antisemitismus ist der unreflektierte Aufschrei gegen die Verhältnisse,
der im Vernichtungswahn gegen die vermeintlich Schuldigen kulminiert. Man kann ihn auch als das voll entfaltete regressiv-antikapitalistische Ressentiment bezeichnen.
Regressiver Antikapitalismus hält „die Gierigen“ für „die Schuldigen“,
imaginiert das Kollektiv der „Ehrlich Arbeitenden und Betrogenen“,
erklärt sich die Welt mit Manipulation und Verschwörung und personalisiert unpersonale Herrschaft. Kurz, er versteht nicht, was Kapitalismus ist. Regressiver Antikapitalismus ist noch kein Antisemitismus, aber
Antisemitismus ist immer auch regressiver Antikapitalismus. Dabei ist
wichtig zu verstehen, dass es fließende Übergänge mit vielen Abstufungen zwischen regressivem Antikapitalismus und Antisemitismus
122
gibt.
Bei weitem nicht jeder, der regressiv-antikapitalistisch denkt, ist deswegen auch schon ein Antisemit. Um noch einmal auf die Sache mit der
ver.di-Heuschreckenbroschüre zurückzukommen. Erwähnt werden
muss hier fairerweise auch, dass ver.di in letzter Zeit kaum noch die
Heuschreckenmetapher verwendet hat, nachdem einige KollegInnen eine Gegenbroschüre mit dem Titel „Mensch denk weiter – Heuschrecken sind keine Erklärung“ verfasst hatten, die innergewerkschaftlich
auf viel Resonanz stieß.298 Das macht Hoffnung, wenn auch noch nicht
genug. Denn man kann auch ohne Heuschreckenkarikaturen noch jede
Menge regressiven Antikapitalismus transportieren. Auch damit befasst
sich übrigens besagte Gegenbroschüre. Trotzdem zeigt der Vorgang,
dass regressiver Antikapitalismus nicht 1:1 gleichgesetzt werden darf
mit Antisemitismus. Es handelt sich vielmehr um eine schiefe Ebene,
an deren unterem Ende sich der antisemitische Sumpf befindet. Wer
einmal auf die schiefe Ebene geraten ist, läuft durchaus Gefahr, irgendwann in diesen Sumpf abzurutschen, aber es gibt glücklicherweise keinen entsprechenden Automatismus. Wer innehält und reflektiert, wer
sich dessen bewusst wird, dass er sich auf der schiefen Ebene befindet,
der kann auch umsteuern.
298 http://www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/real/insekten.pdf
123
Schiefe Ebene
Regressiver
Antikapitalismus
Antisemitismus
Was ist reflektierter Antikapitalismus?
Nun bliebe meine Kritik seltsam halbseiden, wenn ich Ihnen nicht ein
Angebot machen würde, wie denn Kapitalismus richtig oder wenigstens
richtiger zu kritisieren wäre. Denn dass Kapitalismuskritik notwendig
ist, ist heute unbestrittener denn je und zum Glück kann man ihn auch
auf eine völlig andere und wesentlich treffendere Art kritisieren, als
dies der regressive Antikapitalismus des spontanen Alltagsbewusstseins
tut.
Reflektierter Antikapitalismus hat viele Verbündete. Sein stärkstes Argument ist die Wirklichkeit selbst. Denn wir leben heute in herrlichen
Zeiten. Und das meine ich überhaupt nicht ironisch, sondern ganz
ernst. Wir sind erstmals in der Geschichte so weit, dass ein jahrtausendealter Traum der Menschen Wirklichkeit werden kann. Das ist der
Traum davon, dass man nicht sein ganzes Leben mit Mühe und Plage
und Arbeit verbringen muss, sondern dass alle Menschen die Möglichkeit haben, ihr Leben zu genießen, sich all dem im Leben zu widmen,
124
was wirklich Freude macht. Dieser Traum von Generationen ist immer
wieder nur für eine kleine Schicht von Reichen und Begüterten in Erfüllung gegangen. Für die große Masse der Menschheit blieb er immer
unerfüllbar. Die Menschen haben sich schon lange Gedanken darüber
gemacht, wie man diesen Traum eigentlich verwirklichen könnte. Wir
finden schon in alten Dokumenten Hinweise darauf. Aristoteles
schreibt: „Wenn das Weberschiffchen [also das Teilchen, das im Webstuhl
hin- und herbewegt werden muss] von selbst webte und der Zitterschläger von
selbst spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen, und die Herren
keine Knechte.“ 299 Andere übersetzen das auch mit: „so bräuchten wir keine
Sklaven mehr“.
Heute leben wir in der Zeit, wo das Weberschiffchen sich von selbst
bewegt. Die enorme wissenschaftlich-technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte befähigt uns heute, mit sehr viel weniger Arbeit als jemals zuvor so viel stofflichen Reichtum, so viele Güter wie noch nie zu
produzieren. In den 20er Jahren hat die Produktion von Henry Ford´s
berühmtem „Modell T“ 800 Arbeitsstunden pro Stück benötigt. Heute
läuft ein Auto nach insgesamt 18 Stunden Arbeit vom Fließband und
dieses Auto hat eigentlich kaum noch etwas mit dem „Modell T“ zu
tun, außer dass es vier Räder und ein Lenkrad hat, es ist wesentlich
komplexer, komplizierter, differenzierter. 800 Stunden vor 90 Jahren 18 Stunden heute. Mit 20 Leuten kann man in einem Jahr 10.000 PC
herstellen. Die Produktion eines einzigen PC erfordert nur drei ganze
Arbeitsstunden. Wo sich noch vor gar nicht langer Zeit hunderte, ja
tausende Menschen im Schweiße ihres Angesichts abmühten, da machen wir heute ein paar Klicks mit der Maus und elektronische Systeme
und Maschinen erledigen das für uns. Herrliche Zustände! Nicht nur
Aristoteles hätte auf den Straßen getanzt, wenn er das noch hätte erleben dürfen.
Wie kann es da sein, dass wir ausgerechnet heute immer länger arbeiten
müssen? Wie kann es sein, dass die Anzahl der geleisteten Überstunden
wächst und wächst? Wie kann es sein, dass immer mehr Menschen von
ihrem Arbeitsstress systematisch fertig gemacht werden, das BurnoutSyndrom um sich greift, immer mehr ArbeitnehmerInnen und Selbst299 Pol. A4, 1253b 33ff.
125
ständige psychisch krank werden und am ständig steigenden Leistungsdruck scheitern? Wie kann es sein, dass schon unter Dreißigjährige unter dem Wahnsinnsdruck zusammenbrechen? Und wie kann es sein,
dass gleichzeitig ein immer größerer Teil der Menschen arbeitslos wird?
Dass immer mehr Menschen die kaltschnäuzige Botschaft verspüren:
ihr seid überflüssig, ihr fungiert nur noch als Kostenfaktoren für die
Staats- und Sozial-Kassen? Und die anderen, diejenigen, die noch das
zweifelhafte Glück haben, im Arbeitsprozess verwurstet zu werden, die
dürfen dann bis 67 arbeiten. Rente mit 67, weil es nicht geht, dass immer weniger Jüngere immer mehr Ältere versorgen? Mit Verlaub - was
für ein Unsinn! Bei einer dermaßen explodierenden Produktivität, die
es erlaubt, mit so viel weniger Arbeit so viel mehr gesellschaftlichen
Reichtum zu produzieren, versteht doch jedes Kind, dass wir alle nur
noch 20 oder 10 Stunden in der Woche arbeiten müssten und mit 40
Jahren ganz damit aufhören könnten. Wo soll das Problem eigentlich
liegen? In Zeiten, in denen alle Menschen - jung oder alt, Frau oder
Mann, Nord oder Süd - mit weniger Arbeit denn je gut leben könnten,
erwartet die heute Dreißigjährigen bestenfalls eine mickrige PseudoRente mit 69, 70 oder 75, von der sie nie und nimmer werden leben
können, wenn sie überhaupt die Mühle solange durchhalten. Das ist ein
offenes Geheimnis. Es springt ins Auge, dass da irgendetwas ganz grundsätzlich schief läuft. Was ist das?
Hier soll es nur am Rande über tagesaktuelle Phänomene der gegenwärtigen Krise gehen, Thema der folgenden Zeilen ist die Frage: Warum es überhaupt zu der Krise kommen kann, die wir im Moment erleben? Weil sich, ganz allgemein gesagt, über unsere Möglichkeiten zur
Produktion stofflichen Reichtums ein monströses Geflecht aus Verstrickungen, Fesseln und Widersprüchen spannt, das unglaublich viel Arbeitskraft und Lebensenergie vernutzt - und das zu dem einzigen
Zweck, sich selber am Leben zu halten. Und trotz immer gigantischeren Aufwands wird dieses monströse Geflecht immer krisenanfälliger.
Die Rede ist von der abstrakten Reichtumsproduktion.
Wie kann die Produktion von Reichtum schädlich sein, fragen Sie vielleicht, und warum abstrakt? Weil Reichtum nicht gleich Reichtum ist. Reflektierte Kapitalismuskritik beginnt mit dem Hinterfragen scheinbar
selbstverständlicher Begriffe aus der Alltagssprache. Es gibt stofflichen
126
Reichtum - ein Tisch, ein Laptop, Kleidung, Software, Literatur, Wissenschaft... Das ist notwendig zum Leben; das sind Güter. Und es gibt abstrakten Reichtum - Wert, Geld, Kapital, Fiktives Kapital. Das sind Waren.
Und Waren sind im Unterschied zu Gütern nur im Kapitalismus notwendig oder - ein treffenderer Begriff - in der warenproduzierenden Gesellschaft. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass es diese zwei grundverschiedenen Arten von Reichtum gibt, wird man die Ursache der Krise
nicht verstehen. Die Verwechslung dieser beiden Reichtumsformen
und der Glaube, dass es den stofflichen Reichtum ohne den abstrakten
Reichtum gar nicht geben könne, machen es unmöglich, über den Tellerrand von Kapitalismus und Marktwirtschaft hinaus zu blicken.
Genau das wollen wir im Folgenden aber mal tun. Dass wir nämlich
Waren und keine Güter produzieren, hat seine Ursache darin, dass es
nicht nur zweierlei Arten von Reichtum, sondern auch zweierlei Arten
von Arbeit gibt. Im Englischen ist das etwas einfacher zu verstehen, da
gibt es die Unterscheidung zwischen work und labour; das trifft wenigstens ein kleines Stück den Unterschied, um den es geht. Im Deutschen
muss man sich mit einem Hilfswort wie Tätigkeit an die Sache herantasten. Menschliche Tätigkeit zur Produktion stofflichen Reichtums ist
notwendig zum Leben. Aber abstrakte, warenproduzierende Arbeit (vgl. labour)
ist lediglich im Kapitalismus erforderlich. Der vereinzelte Produzent von
Waren produziert diese nicht für den stofflichen Bedarf, sondern für einen
anonymen Markt, auf dem er sie erfolgreich absetzen kann oder eben
auch nicht. Ist es nicht eine ganz natürliche Sache, dass Menschen untereinander tauschen? Ja und nein, denn auch hier ist zu beachten - es
gibt zweierlei Tausch: überall, wo Menschen zusammenleben, gibt es Austausch zwischen ihnen - Austausch von Geschenken, von Gedanken, von
Zärtlichkeiten, soziale Interaktivitäten eben. Aber der Äquivalententausch
- also die Frage: „Was gibst du mir? Was geb' ich dir? Wie viel ist das
wert, was du mir gibst und wie viel muss ich dir dafür geben?“ - macht
nur in der warenproduzierenden Gesellschaft Sinn. Weswegen schlussendlich
auch zu beachten ist, dass es zweierlei Wert gibt. Wert und Wertschätzung
sind nämlich nicht dasselbe, obwohl sie vom Alltagsbewusstsein in der
Alltagssprache ständig miteinander verwechselt werden. Menschen
messen bestimmten Beziehungen, Verhältnissen, Verhaltensweisen und
Dingen ideellen Wert bei: „dies und jenes ist mir etwas wert“. Überall, wo
Menschen zusammenleben, ist das so. Der Wert als Grundlage des
127
Äquivalententauschs ist etwas ganz anderes. Er ist das Abstraktum, das die
Wirtschaftsweise, in der wir leben, beherrscht. Dieser Wert ist definiert
durch das Maß der zur Produktion einer Ware erforderlichen abstrakten Arbeit.
Abstrakt deswegen, weil sie keine Eigenschaft hat, außer der, menschliche Arbeitskraft zu sein.
Waren tauschen sich untereinander zu ihrem Wert aus. Das gilt selbstverständlich auch für die Ware Arbeitskraft. Was aber, wenn die keinen
Wert mehr hat? Hier stoßen wir auf das Problem mit der Gerechtigkeit.
Umgangssprachlich verwenden wir gerecht meist im Sinne von fair, human, menschenwürdig. In der warenproduzierenden Gesellschaft aber heißt
gerecht: „Ich gebe dir für deine Ware genau den Wert, den sie hat. Wenn
deine Arbeitskraft aber keinen Wert mehr hat (z. B. weil sie ein Computer besser und billiger macht), dann wäre es doch ungerecht, wenn du dafür noch etwas von mir haben wolltest, oder?“ Dieser Wert beherrscht
unser ganzes gesellschaftliches Leben. Ganz nebenbei sind wir damit
übrigens dem Geheimnis des Geldes auf die Spur gekommen. Geld ist
nämlich - entgegen einer weitverbreiteten Meinung - kein „neutrales
Medium, das der Verteilung von Gütern dient“, es ist nichts anderes als
die handhabbare Oberfläche des Werts. Wenn wir also tagein, tagaus mit
Geld hantieren müssen, um leben zu können, so ist das der Ausdruck
dafür, dass der Wert unser gesellschaftliches Leben beherrscht. Natürlich ist Geld, wie alles in der warenproduzierenden Gesellschaft, selbst
eine Ware, die gekauft und verkauft werden will. Es ist die „Königsware“ schlechthin, denn als allgemeines Äquivalent ist es universell tauschbar.
Was hat das alles mit der Krise zu tun? Nun, in der hier beschriebenen
grundlegenden Konstruktion der warenproduzierenden Gesellschaft oder
auch Marktwirtschaft ist im Kern die Krise bereits angelegt. Unser ganzer stofflicher Reichtum wird durch den Flaschenhals von Äquivalententausch, Wert, Ware, Geld, Arbeit, Kaufen und Verkaufen, durch dieses „Arbeiten
- gehen - müssen - um - Geld - zu - verdienen - weil - wir - sonst - nicht - leben können“ hindurchgepresst. Es scheint uns, als sei ein Leben ohne dieses
Monster überhaupt nicht möglich. Und das ist das Dogma, das uns
heute beherrscht. Genauso, wie der mittelalterliche Mensch nicht den
geringsten Zweifel an der Existenz und Allmacht Gottes hegte und ihm
nicht im Traum einfiel, dass es vielleicht auch eine Welt ohne Fürsten
128
und Leibeigene geben könne, genauso glaubt das marktwirtschaftlich
zugerichtete Subjekt heute an den Flaschenhals des abstrakten Reichtums.
An die Allmacht von Ware, Geld und Kapital. Und es befürchtet ganz
ernsthaft den Untergang der Welt, sollten diese einmal verschwinden.
Doch es gilt zu erkennen, dass der uns beherrschende Wert eine ganz
eigenartige und in letzter Konsequenz zerstörerische Eigendynamik entwickelt. Seine Funktionsweise lässt sich ganz gut mit der Formel G-W-G´
beschreiben. Dabei steht G für Geld, W für Ware und G´ für mehr
Geld. Sinn und Zweck dieser Produktionsweise ist nicht der stoffliche
Reichtum, der sich in W verbirgt, sondern G´. Am Anfang steht G und
am Ende, als eigentliches Ziel des Prozesses, muss G' herauskommen.
Damit dies gelingt, muss der stoffliche Reichtum in der Form des abstrakten
Reichtums, der Ware also, auftreten. Der stoffliche Reichtum ist vom
Standpunkt dieser Produktionsweise nichts als ein notwendiges Übel,
das dem eigentlichen Sinn und Ziel des Ganzen vollkommen untergeordnet ist. Und der lautet: Unendliche Verwertung des Werts. Denn natürlich kann es mit G' kein Ende haben. Es kann nur der Ausgangspunkt
für einen neuen Zyklus der Verwertung sein: G'-W-G''. Und G'' ist wiederum der Ausgangspunkt für G''-W-G'''. Und so weiter. Bis in alle
Ewigkeit. Als Besitzer von G oder Kapitalbesitzer kann in der unendlichen Spirale der Konkurrenz nur bestehen, wer es schafft, sein G immer wieder erfolgreich zu verwerten. Das ist die innere Logik des warenproduzierenden Systems. Eine innere Logik, die natürlich an äußere Grenzen stoßen muss und die sich außerdem heillos in eigene Widersprüche
verwickelt.
Denn diese Grundkonstruktion hat vier entscheidende Geburtsfehler, die
nicht zu beheben sind, ohne das System selbst zu entsorgen. Zum ersten
treten sich die Menschen untereinander als voneinander isolierte Warenproduzenten und -verkäufer gegenüber. Sie regeln ihr gesellschaftliches Zusammenleben nicht unmittelbar und bewusst, sondern unterliegen der Herrschaft eines anonymen Prinzips: des Werts, der seine Gesetzmäßigkeiten und Zwänge hinter ihrem Rücken durchsetzt. Nur wer
in der gnadenlosen Konkurrenz um gelingende Verwertung erfolgreich
ist, kann überleben. Hier ist das homo homini lupus (der Mensch ist dem
Menschen ein Wolf) des Kapitalismus bereits angelegt. Zweitens ist diesem System von Geburt an der Drang nach grenzenlosem Wachstum einge129
pflanzt. Es kann überhaupt nicht anders. Wo Wachstum aufhört, beginnt Krise. Alle kriegen Angst. Unternehmer um ihre Gewinne, Politiker um ihre Steuern, Arbeiter und Angestellte um ihre Löhne und Arbeitsplätze. Doch Wachstum kann selbstverständlich nicht grenzenlos
sein. In der Medizin nennt man etwas, das nicht aufhören will zu wachsen, einen Tumor. Drittens: Es ist ein Gerücht, dass Kapital nach Profit
strebt, Kapital strebt nach Maximalprofit. Und das ist ein großer Unterschied. Es gibt hie und da Nischen, wo es aufgrund besonderer Marktkonstellationen, z. B. wenn keine ernsthafte Konkurrenz zu befürchten
ist, auch ohne Maximalprofit geht. Doch das sind Randerscheinungen,
die für das Funktionieren des Systems der Wertverwertung nicht relevant
sind. Im Prinzip gilt: Kapital, das in der nächsten Runde des Konkurrenzkampfes bestehen will, muss möglichst viel G´ reinvestieren. Und
das kann nur, wer maximalen Profit herausholt. Der vierte Geburtsfehler
dieses Systems ist seine absolute Gleichgültigkeit gegenüber jedem Inhalt. Hauptsache, aus G wird G´. Egal, womit. Ob mit Schokoladentörtchen, Brandbomben oder Abermillionen von Automobilen - völlig
uninteressant, Hauptsache Maximalprofit. Daraus folgt nun eine ganze
Menge: z. B., dass es so etwas wie eine „ökologische Marktwirtschaft“
nicht geben kann, das wäre ein Widerspruch in sich. Auch eine Welt mit
Milliarden voller Öko-Autos wäre nicht öko. Wirklich öko wäre es, den
Wachstumswahn zu überwinden. Öko wäre es, Daimler, BMW und VW
auf die Größe mittelständischer Unternehmen herunterzufahren. Das
Geschrei, allein schon der Gewerkschaften - und nicht nur der - kann
man sich lebhaft vorstellen: „All die schönen Arbeitsplätze!“ Können
Sie sich noch an den Erdgipfel von Rio 1992 erinnern? Seitdem klebt
auf ganz vielen Waren ein schöner Aufkleber, dem man entnehmen
kann, wie nachhaltig sie produziert sind. Aber die Umweltkatastrophe
ist die ganzen 20 Jahre über weiter vorangeschritten. Öko als Verkaufsschlager. „Telefonieren Sie nachhaltig mit dem und dem Anbieter, je
öfter Sie telefonieren, desto mehr tun Sie für die Umwelt.“ Windräder
mögen sympathischer sein als AKWs, aber wo das grenzenlose Wachstum des Energiebedarfs nicht in Frage gestellt wird, werden die formschönen Stücke irgendwann noch in jedem Stadtpark herumstehen.
Windräder und Elektrofahrzeuge brauchen Stahl und Kupfer, einige
seltene Erden wie Lithium, Aluminium und andere. Bei deren Abbau
entstehen ganze Seen giftiger Nebenprodukte, Schlamm voller Schwermetalle, Säuren, radioaktives Thorium und Uran. Wollte man wirklich
130
menschen- und naturverträglich produzieren, müsste man die gesamte
Rohstoff- und Produktionskette strengen ökologischen und sozialen
Kriterien unterwerfen. Das aber würde die Waren so teuer machen, dass
sie sich am Markt überhaupt nicht behaupten könnten. Erst jüngst forderte die Industrie-Gewerkschaft Metall eine drastische Ausweitung der
deutschen Rüstungsexporte. Es gelte, die Entwicklung neuer Produkte
für neue Märkte zu beschleunigen. Wollte man dem IG-Metall-Vorstand eine besonders militaristische und kriegsgeile Haltung unterstellen, täte man ihm sicher Unrecht. Aber die Aufgabe einer Gewerkschaft ist es nun halt mal, für Arbeitsplätze zu sorgen. Hauptsache
Wachstum - da unterscheiden sich Kapital und Arbeit kein Jota.
Wenn wir uns die vier grundlegenden Geburtsfehler des Kapitalismus
ansehen, so haben wir auch die Frage beantwortet, was denn das eigentlich ist - das Kapital. Ist ja nicht ganz uninteressant, die Frage.
Jedenfalls sollte, wer den Kapitalismus kritisieren will, eine Vorstellung
davon haben. Kapital ist weder eine „Sache“ noch ein „Produktionsfaktor“, sondern es ist Ziel und Ausgangspunkt der warenproduzierenden
(oder kapitalistischen) Produktionsweise. Als sich selbst verwertender Wert und
damit letztendlich als ein gesellschaftliches Austauschverhältnis zwischen
voneinander isolierten einzelnen Warenproduzenten, die seinen inneren
Zwängen unterworfen sind, konstituiert sich das Kapital als eine abstrakte
Herrschaftsform. Die Menschen haben die Dinge zwar gemacht, aber sie beherrschen sie nicht, sondern sie werden von ihnen beherrscht.
An dieser Stelle eine kleine Anmerkung am Rande: Kluge Menschen
haben natürlich schon lange gemerkt, dass das alles nicht auf dem Mist
des Referenten, sondern auf dem eines gewissen Karl Marx gewachsen
ist. Aber das Spannende ist, dass das gerade diejenigen Gedanken von
Marx sind, die fast alle Marxisten bis heute geflissentlich übersehen
bzw. nicht wirklich verstanden haben. Vieles von Marx können Sie
vergessen. Der größte Unfug, den er in die Welt gesetzt hat, war sicher
die „Diktatur des Proletariats“. Man darf also auch ihn nicht zum Säulenheiligen machen. Aber es finden sich bei Marx frappierend aktuelle
Gedanken, die wie keine anderen die gegenwärtige Krise erklären können. Und das alles vor 150 Jahren schon gedacht!
Zurück zur Herrschaft des Werts. Damit wird auch klar, dass eine personalisierende Erklärung für die Zustände, so wie wir sie im ersten Teil
131
kritisiert haben, überhaupt nicht begriffen hat, um was es wirklich geht.
Natürlich gibt es welche, die wesentlich mehr Macht und Einfluss haben als andere, aber deswegen können „die da oben“ noch lange nicht
machen, was sie wollen. Das sieht man am besten daran, wie sie weltweit von einer Krisenkonferenz zur nächsten jetten und den ganzen
Schlamassel trotzdem nicht in den Griff kriegen.
Und auf dieser Grundlage kann man jetzt endlich auch vernünftig über
die gegenwärtige Finanz- und Währungskrise, über Banken, Spekulation, Hedgefonds, Derivate, Euro, Staatsbankrott usw. reden. Denn eigentlich sind wir ja schon mittendrin im Thema. Wie kann ich als Kapitalbesitzer möglichst viel G in den nächsten Durchgang der gnadenlosen Konkurrenz investieren, wenn doch der Investitionsaufwand, je
komplexer die Produktion wird, umso mehr wächst? Indem ich versuche, an mehr G zu kommen, als nur an das, was ich selbst erwirtschaftet habe. Diese Frage ist die Geburtsstunde des Kredits und damit diejenige der verselbstständigten Geldsphäre. Kapital, das in der Produktion
steckt, braucht vorgeschossenes Geldkapital. Kapital, das in der Bank
steckt, liefert genau das. Selbstverständlich ist auch Bankkapital nichts
anderes als Kapital, es will sich ganz genauso verwerten und G' realisieren. Deswegen hat Geldkapital wie jede andere Ware auch seinen Preis.
Und der heißt Zins. (Hier wird übrigens klar, wie unsinnig die Vorstellung ist, man könne alles so belassen wie es ist und ausgerechnet die
Zinsen, also den Preis der Ware Geld, abschaffen.) Vergibt die Bank
nun einen Kredit, so geschieht etwas Paradoxes: Geld schafft scheinbar
und tatsächlich mehr Geld. In der Tat sowohl scheinbar als auch tatsächlich. Wie ist das zu verstehen? Wenn Sie eine Million von mir wollen und
ich gebe Ihnen den Kredit, dann sind auf einmal zwei Millionen da. Sie
haben jetzt eine Million, um damit zu investieren. Aber ich habe auch
eine Million, nämlich in Form eines Anspruchs an Sie. Ich kann daraus
ein Wertpapier machen, auf den Markt gehen und sagen: „Hört mal
her, Leute, ich hab hier den verbrieften Anspruch auf eine Million plus
Zinsen von einem sehr seriösen und solventen Geschäftspartner, wollt
ihr mir das Wertpapier nicht abkaufen?“ Wenn der Verkauf zustande
kommt, sind im Handumdrehen aus der einen Million tatsächlich zwei
geworden, ja eigentlich sogar drei, denn der Anspruch lebt ja in den
Händen des neuen Besitzers weiter. Es ist verrückt, aber es ist so.
Dieser Mechanismus, nicht erfunden von irgendwelchen Bösewichtern,
132
sondern ganz zwangsläufig aus der kapitalistischen Produktion erwachsend, führt logischerweise dazu, dass es eine relativ selbstständige Geldsphäre in diesem System geben muss. Es gibt keine Marktwirtschaft
ohne solch eine Sphäre und deswegen sind die Banken natürlich auch
systemrelevant, diesen Begriff haben wir ja alle in den letzten Jahren gelernt. Egal, wer an der Regierung ist, jeder rettet die Banken, weil er
weiß, dass es im Rahmen dieses Systems anders nicht geht.
Weiter. Was passiert nun aber, wenn Sie die eine Million, die ich Ihnen
als Kredit gegeben habe, nicht erfolgreich in den Verwertungsprozess
Ihres Kapitals investieren können, Sie folglich pleitegehen? Dann ist
Ihr Kapital vernichtet. Aber meines auch. Und so ist aus der einen Million, die vorhin auf so wundersame Weise zu zwei Millionen wurde, auf
einmal - Null geworden. Alles ist futsch, das Geld hat sich in Luft aufgelöst. Und dieser Zustand hat einen Namen: Die Krise ist da. Die Krise
ist also ebenfalls kein Werk finsterer Mächte, sondern sie ist dem System von Anfang an inhärent. Es gibt keine warenproduzierende Gesellschaft ohne Krise.
Aber da ist noch eine andere ganz wesentliche Ursache dafür, dass dieses System grundsätzlich krisenhaft ist. Kapital hat nämlich ein großes
Problem: es ist abhängig von Arbeit. Zur Erinnerung: abstrakte, warenproduzierende Arbeit. Diese Arbeit ist nämlich die einzige Ware, die mehr
Wert - also das Lebenselixier des Kapitals - schaffen kann. Gleichzeitig
ist Arbeit aber auch ein Kostenfaktor, der den Profit schmälert. Je höher
die Kosten für Arbeit, also in erster Linie Lohn und sogenannte Lohnnebenkosten, umso schmaler ist das, was von G´ noch übrigbleibt, um
es im Konkurrenzkampf zu reinvestieren. Das Kapital ist in der Zwickmühle. Man spricht auch von der immanenten Schranke der kapitalistischen
Produktion: Es kann nicht ohne die Vernutzung von Arbeit existieren,
muss aber gleichzeitig Arbeit fortwährend überflüssig machen. Die abstrakte Reichtumsproduktion sägt folglich am Ast, auf dem sie sitzt. Dieses
Problem hatte der Kapitalismus von Anfang an, es kommt aber erst
heute mit voller Wucht zum Tragen. In der Vergangenheit konnte es
gewissermaßen „überspielt“ werden: Zwar ermöglichte Rationalisierung die immer billiger werdende Produktion von Automobilen, Haushaltsgeräten usw., aber gleichzeitig waren zu deren massenweiser Herstellung auch Massen von Arbeitskräften notwendig, die wiederum all
133
die Warenmassen auch gekauft haben. Seit Mitte der 70er Jahre haben
wir es allerdings mit einer völlig neuen, bisher nie dagewesenen Qualität
der Produktivitätssteigerung zu tun: mit der mikroelektronischen Produktivkraftrevolution. Arbeit (NB: abstrakte Arbeit) wird damit in weitaus größerem Ausmaß überflüssig als jemals zuvor. Erstmals gibt es ein
universelles Rationalisierungspotential, das zunehmend in allen Lebensbereichen Anwendung findet. Und es ist kein Ende der Entwicklung
absehbar: Schon morgen - ja wirklich, schon morgen früh - wird mit
noch weniger Arbeit noch mehr Reichtum zu produzieren sein. Und
aus diesem herrlichen Zustand resultiert unter kapitalistischen Bedingungen eine Katastrophe: Aus endlich überflüssiger Arbeit werden überflüssige
Menschen! Das ist der eigentliche und größte Skandal des Kapitalismus.
Die warenproduzierende Gesellschaft ist in der Tat und ganz im wörtlichen
Sinne: menschenfeindlich.
Wie hat nun der Kapitalismus auf die mikroelektronische Produktivkraftrevolution reagiert, die ihm sein Lebenselixier - die Arbeit - förmlich unter dem Hintern wegzieht? Mit einer enormen Aufblähung des
Fiktiven Kapitals. Was ist darunter zu verstehen? Eben weil sich Kapital
unter den gegebenen Umständen immer weniger auf herkömmliche
Weise verwerten kann, erleben wir seit Mitte der 70er Jahre eine enorme Aufblähung des Finanzsektors, die alles seither Dagewesene in den
Schatten stellt. Das Kapital flieht förmlich in die Finanzsphäre. Jetzt
spielt der Kapitalismus vollends verrückt. Es ist kein Zufall, dass insbesondere seit den 80er Jahren und seither in immer schwindelerregenderer Geschwindigkeit immer verschachteltere und waghalsigere Finanzprodukte das Licht der Welt erblicken. Eben weil Kapital sich selbst
verwertender Wert ist, bleibt ihm nun gar nichts anderes mehr übrig, als zu
hoffen, dass die Hoffnung anderer Kapitalien auf die Hoffnung dritter
Kapitalien und wiederum deren Hoffnung auf die Hoffnung vierter
und fünfter Kapitalien auf irgendwann einmal gelingende Verwertung in
Erfüllung gehen möge. Anders ausgedrückt: Der sich selbst verwertende
Wert saugt immer mehr Zukunft ein, um in der Gegenwart überhaupt
noch leben zu können. Was einmal mit dem Kredit angefangen hat,
nämlich die Herausbildung einer relativ selbstständigen Geldsphäre, mit
der die Krise dem System von Beginn an inhärent war, treibt nun mit
der gleichen Systemnotwendigkeit die verrücktesten Blüten. Steigende
Kurse, fallende Kurse, Zusammenbrüche von Betrieben, Banken und
134
Staaten - auf alles Erdenkliche und Unerdenkliche wird spekuliert, damit die automatische Maschine der Wertverwertung trotz alledem noch
weiterläuft.
In diesem Zusammenhang ein Wort zur viel gescholtenen Spekulation.
Sie muss einem ja nicht sympathisch sein, aber es sollte einem klar sein,
dass sie in der Marktwirtschaft unentbehrlich und total normal ist.
Wenn Sie Ihr Geld auf die Bank bringen, eine Lebensversicherung abschließen, Aktien kaufen, dann wollen Sie, dass Sie Ihr Geld später mit
Gewinn zurückbekommen. Wie machen die Banken und Versicherungen das für Sie? Sie spekulieren auf Gewinn am Kapitalmarkt, was
denn sonst? Immer mehr Renten hängen vom Kapitalmarkt ab, immer
mehr Arbeitsplätze genauso. Von Siemens sagte man bereits in den
80er Jahren nicht zu Unrecht, es sei eigentlich eine große Bank, die sich
noch eine kleine Elektroabteilung leistet. Spekulation kann Krisen und
Börsenzusammenbrüche auslösen, sie kann aber auch Risiken und
Preisschwankungen ausgleichen und die Liquidität von Kapitalien sichern. Spekulation lebt bekanntlich davon, dass man sich auch verspekulieren kann. Wenn sich wer verspekuliert, dann heißt das nichts anderes als: Es kommt zu großen Umschichtungen von Reichtum, und
die Spekulation des einen kann mitunter auch für andere Akteure auf
dem Markt eine Risikominimierung zur Folge haben. Im Übrigen: Wenn
jemand, weil er auf Gewinn hofft, auf Finanzmärkten spekuliert, unterscheidet ihn sein Motiv von keinem anderen Marktwirtschaftsinsassen
auch. Was tue ich, wenn ich Preise vergleiche, bevor ich einkaufen gehe? Ich spekuliere darauf, mit möglichst geringem Einsatz möglichst
viel herauszuholen. Aus gutem Grund wurde der Spruch „Geiz ist geil“
mit Blick auf die „ganz normalen“ Konsumentenmassen erfunden.
Hier wird noch einmal deutlich: Das Problem heißt nicht der gierige Bösewicht, sondern das Kapital, denn dieses ist, wie oben ausgeführt, im
Grunde nichts anderes als das gesellschaftliche Austauschverhältnis voneinander isolierter Warenproduzenten.
Dieses Kapital also flieht in die verrücktesten Finanzprodukte. Knickt
nun in diesem immer gigantischer werdenden Kartenhaus eine Karte
ein, so fällt der ganze Haufen in sich zusammen. So geschehen 2008:
Ein einziges Bankhaus, Lehmann Brothers, bricht zusammen, weil es
die Kredite nicht mehr bedienen kann, und die ganze Welt stürzt in die
135
Krise. Der Retter aus der Not, das Fiktive Kapital, erweist sich als ein
äußerst unzuverlässiger Geselle. Und das Entscheidende ist: Es gibt keinen Ausweg für das System der Warenproduktion aus dieser Falle. Von seinen
inneren Zwängen getrieben, muss es angesichts der gigantischen Produktivitätssteigerung unerbittlich immer schneller an dem Ast sägen,
auf dem es sitzt. Es ist deswegen auch kein Zufall, dass wir seit Mitte
der 70er Jahre weltweit zwei explosive Prozesse erleben, die sehr viel miteinander zu tun haben: die Explosion der Arbeitsproduktivität durch
die Mikroelektronik und die Explosion der Finanzmärkte. Leider hat
bisher kaum jemand diesen Zusammenhang thematisiert, aber er liegt
auf der Hand. Die gigantische Aufblähung der Finanzmärkte ist die
notwendige Antwort des Kapitals auf die Computerisierung unseres
Lebens. Auch deswegen macht es keinen Sinn, zwischen einem besonders bösartigen und gierigen „Finanzkapital“ und einem weniger gierigen, irgendwie „normalen“ Kapital zu unterscheiden. Viele vermeintliche KritikerInnen glauben: „Das Finanzkapital erdrückt die Realökonomie“. Tatsache ist jedoch, dass es ohne Fiktives Kapital die so genannte
Realökonomie schon längst nicht mehr gäbe. Was wir gegenwärtig erleben, ist nichts anderes als die Dynamik des Kapitals selbst.
Das Alltagsbewusstsein sträubt sich gegen diese Einsicht. Es versteht
den Kapitalismus genauso wenig wie die schwäbische Hausfrau. Die
denkt sich „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ und glaubt tatsächlich, wenn
man nur fleißig ist und ordentlich spart, dann „wird's scho was
Recht's“. Doch so funktioniert Kapitalismus nicht. Noch nicht einmal
dann, wenn es die Bundeskanzlerin behauptet. Zitat Merkel: „Man hätte einfach nur die schwäbische Hausfrau fragen sollen, sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt, man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“ Das sei der Kern der internationalen Krise, so Merkel.
Doch mal ganz davon abgesehen, dass wir nicht über unseren Verhältnissen leben, sondern weit unter ihnen, schließlich könnten bei vernünftiger Organisation der Gesellschaft schon längst alle Menschen mit sehr
viel weniger Arbeit gut leben - auch die Erklärung der Krise mit den
Kategorien „Sparen“ und „Verschwenden“ blamiert sich an den Tatsachen. Der Kapitalismus kann nur noch mittels ausufernder Verschuldung aufrechterhalten werden. Vermutlich weiß Frau Merkel das sogar
besser als die schwäbische Hausfrau oder sie ahnt es zumindest ein
bisschen.
136
Je mehr die Krise voranschreitet, desto mehr werden Billigrezepte aus
dem Schnellkochtopf angeboten, die allesamt nicht verstanden haben,
was Kapitalismus ist und einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Da gibt es z. B. die Schnapsidee von „demokratischen Banken“.
Mit diesem Vorschlag macht derzeit das Konzept einer so genannten
„Gemeinwohlökonomie“ von sich reden. Diese Banken sollen so funktionieren: Eine Versammlung von guten Menschen beschließt mit
Mehrheit, zu welchem guten Zweck die Bank etwas macht bzw. nicht
macht. Nun, es gibt tatsächlich ein paar kleine Banken dieser Art. Doch
die können nur Nischenprojekte bleiben, denn sie selbst leben natürlich
von den Spareinlagen gutverdienender Leute, die sich das bisschen Philanthropie noch leisten können. Nichts dagegen. Nur - die Leute, die
ihr Geld zu diesen Banken bringen, beziehen ihre Geldeinkommen natürlich aus dem knallharten Verwertungsprozess, entweder unmittelbar oder
über eine öffentliche Hand, die noch eine gewisse Menge Steuergeld
daraus abschöpfen kann. Folglich haben auch diese Banken ihre Spareinlagen nur genauso lange, wie der Prozess der abstrakten Reichtumsproduktion noch irgendwie funktioniert. Es ist also völlig abwegig zu glauben, man könne die ganze Gesellschaft nach diesem Muster umkrempeln. Als ob sich die Zwänge der Kapitalverwertung nach Mehrheitsentscheidungen richten würden. Grundlage dieses gut gemeinten, aber
eben absurden Vorschlags ist die bereits oben kritisierte Annahme,
Geld sei ein „neutrales Medium“, das man ganz nach Gutdünken entweder für „Gutes“ oder für „Böses“ einsetzen könne. Sie sehen, auf
der Grundlage vorschneller Antworten lassen sich keine wirklichen Lösungen finden. Ohne kritische Analyse, ohne reflektierten Antikapitalismus geht es nicht.
Und weil wir gerade bei Frau Merkel waren: Welche Rolle spielen eigentlich die Politik und der Staat? Nun, der Staat ist leider - auch wenn
sich viele das so vorstellen - kein neutraler Wächter über das Geschehen, er ist nicht der unerschütterliche Souverän, der über allem thront
und Politik machen kann, wie er will. Auch viele gutgemeinte Alternativvorschläge und -forderungen gehen ja davon aus, dass die Staaten,
wenn sie denn endlich nur die richtige Politik machen würden, die Krise schon wieder in den Griff bekämen. Das sind die berühmten und
scheinbar so einleuchtenden Fragen wie diejenige, „was man denn mit
100 Milliarden Euro alles Gutes anfangen könnte“. Beispielsweise so
137
und so viele Schulen oder Krankenhäuser bauen usw. Doch dass man
die Billionen Fiktiven Kapitals einfach so mal eben ins reale Leben hinein
verpflanzen könne, dass man aus dem abstrakten Reichtum stofflichen
zaubern könne, wenn man nur will - das vermag nur zu glauben, wer
die Dynamik des Kapitals nicht verstanden hat, wem der Unterschied
zwischen abstraktem und stofflichem Reichtum nicht bewusst ist. Kein
Motor läuft ohne Treibstoff. Das Fiktive Kapital ist der Treibstoff der
warenproduzierenden Gesellschaft. Es kann nicht „sinnvoller“ verwendet
werden. Und weil dessen Systemrelevanz natürlich auch vom Staat in
Rechnung gestellt werden muss, kann dieser bei weitem nicht machen,
was er will. Ja, er wird selbst zum Teil des Problems. Zwar hat er ein
paar Mittel in der Hand, die Sie und ich leider nicht haben. So lässt er
z. B. Milliarden buntbedruckter Papierzettelchen kursieren, die, vernünftig betrachtet, ganz anders als beispielsweise Wasser, Legosteine
oder Brausebonbons, zu kaum etwas zu gebrauchen sind. Jedenfalls
verstehen das kleine Kinder noch recht gut. Wer nun aber erzwingen
kann, dass man sich ausgerechnet mit solch unnützem Papierkram - er
heißt im allgemeinen Sprachgebrauch Geld - etwas kaufen kann, der
muss schon ziemlich viel Macht haben. Diese Macht haben gemeinhin
nur Staaten. Deswegen stehen hinter jeder Währung ein oder mehrere
Staaten mit ihren Zentralbanken, die den Geldwert garantieren. Manchen
erscheint nun die Macht dieser Staaten unendlich groß. Doch die Krise
offenbart, dass dem nicht so ist. Die paar Trümpfe, die Staaten noch in
der Hand haben und die sie in der Krise ausspielen, verlieren zusehends
an Durchsetzungskraft. Staaten können, anders als Sie und ich, die besagten Papierzettelchen legalerweise drucken - beziehungsweise heute
auch am Bildschirm herbeiklicken - und damit riesige Konjunktur- und
Bankenrettungsprogramme finanzieren. Doch je mehr sie das tun, umso mehr gefährden sie die Geldwertstabilität selbst. Staaten können, auf
den ersten Blick jedenfalls, auch ganz anders als Sie und ich exorbitante
Schulden anhäufen. Aber auch dieser Krug geht nur so lang zum Brunnen, bis er bricht. Denn das funktioniert nur, solange das eigentliche
Macht- und Regelzentrum der warenproduzierenden Gesellschaft, der Markt
nämlich, den Staaten zutraut, dass sie ihre Schulden auch zurückzahlen
können. Und keinen Moment länger. Ist jedoch der Punkt erreicht, wo
das Vertrauen der Märkte schwindet, dann ergeht es jedem Staat eben
doch so wie Ihnen und mir: er geht pleite. Weswegen wir es weltweit
mit Staatsbankrott und Inflationsgefahr zu tun haben. Vielleicht ist
138
Griechenland ja noch zu retten. Aber was ist, wenn erst einmal die
USA, China, Deutschland am Ende sind? Es wäre der Supergau, denn
dann wird es niemand mehr geben, der Rettungspakete schnüren kann.
Noch vor kurzem haben die meisten so ein Szenario für absolut unmöglich gehalten. Aber vor vier Jahren hätte auch niemand geglaubt,
dass der Zusammenbruch einer einzigen Bank die ganze Weltwirtschaft
in den Strudel reißen kann. Damals konnten die Staaten mit einer riesigen Kraftanstrengung und gigantischen Milliarden-Paketen das Bankensystem und die Konjunktur noch einmal kurzzeitig retten. Um den
Preis, dass sie ihre eigenen Schulden in immer schwindelerregendere
Höhen treiben und ihre eigene Kreditwürdigkeit immer mehr untergraben mussten.
Zur Illustration der Falle, in die uns der Kapitalismus geführt hat, seien
die Zwänge anhand eines Beispiels verdeutlicht, das nicht nur einzelne
Staaten, sondern die ganze internationale Politik umtreibt: Was müssen
Staaten in der Krise machen? Sparprogramme natürlich. Was machen
Sparprogramme? Sie drosseln die Konjunktur. Wie leiert man die Konjunktur wieder an? Mit Konjunkturprogrammen. Wohin führen Konjunkturprogramme? Zur Staatsverschuldung. Was macht Staatsverschuldung? Sie gefährdet die Kreditwürdigkeit des Staates. Wie wirkt man
dieser Gefahr entgegen? Mit Sparprogrammen. Was machen Sparprogramme?
Das ist das Gefängnis jeder Politik - ob Merkel, Steinbrück, Rösler oder
Lafontaine. Letzterer hat ja nur den Vorteil, dass er lang genug in der
Opposition ist und sich niemand mehr so recht daran erinnern kann,
was er mal gemacht hat, als er regierte. Deswegen ist es auch genauso
oberflächlich und falsch, auf „bösartige, durchtriebene und verräterische“ PolitikerInnen zu schimpfen. Ja, unter denen gibt es, so wie anderswo, auch schlechte Menschen. Aber ernsthafte Kapitalismuskritik
unterstellt, dass die meisten von ihnen in ehrlicher Anstrengung ihren
Job machen. Und gerade diese Annahme fördert das eigentlich Erschreckende zutage: Obwohl sie weder bösartig noch dumm sind, kriegen sie die Krise nicht in den Griff. Das liegt daran, dass es ganz objektiv kein Entrinnen aus ihr gibt. Staaten müssten eigentlich gleichzeitig
sowohl Sparprogramme als auch Konjunkturprogramme auflegen. Ein
Ding der Unmöglichkeit. Die Krise ist nicht zu überwinden ohne Über139
windung des Systems der abstrakten Reichtumsproduktion.
Ein garantiert unverdächtiger Zeuge, die Financial Times Deutschland,
schreibt über die „Sieben Rätsel der Krise“ folgendes: „Je mehr Länder
wir retten, desto mehr Länder müssen gerettet werden. Am Anfang der Krise stand
mal ein zu teures Haus. Nun kauft man am besten wieder ein Haus. Die Ursache
der Krise: sehr viel billiges Geld; die Lösung: sehr viel billiges Geld. Wir erschaffen
immer mehr Geld für die Rettung, trotzdem ist nie genug da. Ein Problem der Krise: die Banken waren viel zu groß; die Folge der Krise? Sie werden noch größer!“ 300
Diese Sätze stammen nicht etwa von Karl Marx oder sonst einem Verdächtigen, sie stehen in einem Blatt, das sicher zu den eifrigsten Verfechtern der Marktwirtschaft gehört. Selbst dort häufen sich die Zweifel. Ein untrügliches Krisensymptom.
Fassen wir zusammen:
1. Die Krise gibt es nicht, weil sich irgend jemand falsch verhalten
hätte, die Krise ist da, weil sich alle richtig verhalten haben. Die
Griechen, die Banker, die Hedgefonds, die Spekulanten, die
Gewerkschaften, die Politiker, die Verbraucher - sie alle haben
sich im Prinzip und aufs Ganze gesehen durchaus genauso verhalten, wie es das System der abstrakten Reichtumsproduktion von
ihnen verlangt. Und genau damit haben sie die Krise gemacht.
2. Es gibt nicht das „gute Produktivkapital“ und das „schlechte
Finanzkapital“, sondern die systemnotwendige Entfaltung der
destruktiven Dynamik des Kapitals. Es gibt keine Bösewichter,
die Wert, Ware, Arbeit, Geld und Kapital und Fiktives Kapital
in ihrem Interesse manipulieren. Das Problem sind Wert, Ware,
Arbeit, Geld und Kapital selbst.
3. Warum waren all die Begriffsklärungen zu Beginn des Referats
so wichtig? Weil das Alltagsbewusstsein glaubt, Wert, Ware, Arbeit, Geld und Kapital seien ganz natürliche Dinge, - also so etwas
wie Luft und Wasser. Wir haben jedoch gesehen, dass sie alles
300 FTD, 15.07.2011
140
andere als das sind. Unser Problem ist die Verwechslung von stofflichem Reichtum mit abstraktem Reichtum.
4. Das System der abstrakten Reichtumsproduktion findet nicht aus
seiner Krise. Es kann höchstens noch weiterwursteln bis zum
nächsten Crash, entweder mit Hilfe krisenschwangerer Generierung von noch mehr Fiktivem Kapital oder mit Hilfe radikaler
Schnitte wie Staatsbankrott oder Inflation. Der Preis, den die
Masse der Bevölkerung dafür zu zahlen haben wird, wird in jedem Fall ein brutaler sozialer Kahlschlag sein, der alles bisher
Dagewesene in den Schatten stellt.
Ja, die Frage der Alternativen ist dringend und es ist gut, dass viele
danach suchen. Aber denken Sie an das Beispiel mit den „demokratischen Banken“. Vorschnelle Antworten machen keine wirklichen Lösungen. Bevor man den Kapitalismus abschaffen will, sollte man ihn
zuerst einmal verstanden haben. Wenn schon Krise, dann wenigstens
eine ordentliche Kritik. Und weil leider so viel dafür spricht, dass auf
die Menschen, auch hierzulande, noch ganz brutale Zumutungen zukommen werden, ist es so wichtig, dass der spontan aus dem Bauch
kommenden Pseudokritik, die wir am Anfang untersucht haben, eine
reflektierte Kritik gegenübergestellt wird.
Zweierlei spricht für reflektierte Kapitalismuskritik: sie ist dringend nötig und sie kommt ohne Ressentiment aus. Den spontanen Aufschrei
gegen die Verhältnisse, der sich zuerst Bösewichte zusammenphantasierte und sie für die Krise verantwortlich machte und der zuletzt im
Vernichtungswahn gegen die vermeintlich „Schuldigen“ endete, hatten
wir schon einmal. Schon tauchen auf Demonstrationen Plakate auf
wie: „Eine Welt ohne 1% ist nötig und längst überfällig!“ oder es werden
gierige aktienfressende Heuschrecken gemalt, die eine starke Hand mit
Gas totsprüht, darunter steht: „Gegen Börsenungeziefer - extra sozialverträglich“. Es ist unsere Verantwortung, es nicht noch einmal dazu
kommen zu lassen.
141
Literaturempfehlungen:
Ernst Lohoff / Norbert Trenkle
Die große Entwertung
Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind, Münster 2012,
ISBN 978-3-89771-495-3
Was ist regressiver Antikapitalismus?
Text der Gruppe Emanzipation&Frieden
http://emanzipationundfrieden.de/was_ist_regressiver_antikapitalismus.pdf
142
„ERLEUCHTUNG AUF DUNKLEN PFADEN“
ZU DEN HINTERGRÜNDEN UND ERSCHEINUNGSFORMEN
BRAUNER ESOTERIK
Dr. Matthias Pöhlmann
Esoterik zwischen Säkularisierung und neuer Religiosität
Die gegenwärtige Situation ist in Deutschland vor allem von zwei Entwicklungen gekennzeichnet: Einmal lässt sich eine zunehmende Säkularisierung feststellen, ein Verschwinden von Religiosität. Seit der Wiedervereinigung hat sich dieser Trend verstärkt. Zum anderen lässt sich
eine Wiederkehr des Religiösen beobachten, die sich in vielen Facetten
widerspiegelt. Das Panorama der neuen Religiosität hat sich beträchtlich erweitert. Diese Entwicklung lässt sich besonders für die so genannte Esoterik-Szene feststellen. Hier zeigt sich die Form einer sehr
stark individualisierten Religiosität. Gleichzeitig versteht die Esoterik
sich als eine universalreligiöse Bewegung: In der esoterischen Religiosität werden unterschiedliche religiöse Vorstellungen miteinander kombiniert. Andererseits weist die Esoterik auch typische säkulare Züge auf.
So wird mancherorts auch die Frage aufgeworfen, ob es sich hierbei
nicht auch um die Form einer atheistischen Religiosität handelt.
Entgegen seiner ursprünglichen Bedeutung als „Insider-Wissen“ hat
sich die „Esoterik“ als Inbegriff eines marktförmigen Angebotes etabliert. Spätestens seit den 1980er Jahren kann man von einer Popularisierung der Esoterik sprechen: Ein ursprünglich elitäres Wissen um
nicht allgemein zugängliche Welthintergründe wird öffentlich gemacht.
Es wird für die breite Masse frei zugänglich, kommerzialisiert und damit marktförmig. Die unüberschaubar gewordene Esoterik-Literatur,
die einschlägigen Messen und Workshop- und Seminarangebote weisen
darauf hin. Esoterik ist Teil der modernen Erlebnisgesellschaft. Jeder
wählt frei aus und geht seinen eigenen religiösen Weg. „Esoterik“ wird
damit zur reinen Worthülse für den eigenen Individualismus, der sich
nicht kümmert um das, was andere sagen oder was die Kirche sagt,
sondern nur noch fragt: „Was hilft mir?“: Individualisierung, Subjekti143
vismus, Eklektizismus. Die Zielgruppe moderner Esoterik ist besonders die gehobene Bildungsschicht, Menschen, die finanziell und hinsichtlich ihres Freizeitverhaltens in der Lage sind, esoterische Bücher zu
lesen oder entsprechende Vorträge, Kurse und Seminare zu besuchen.
Die Rückkehr der Zauberer – Antirationalismus, höhere Erkenntnis und „Erfahrungsfundamentalismus“ im Kontext moderner Esoterik
Die Esoterik wendet sich vor allem gegen die Rationalität der Wissenschaften und erweist sich damit als zivilisationskritisch. Außerdem richtet sie sich gegen die dogmatische und institutionelle Erstarrung der
großen Religionen bzw. der christlichen Kirchen. Ein zentrales Anliegen moderner Esoterik ist die Erfahrung: das optimistische Lebensgefühl des entgrenzten Verbundenseins mit dem „All-Einen“. Es soll höhere Erkenntnis vermitteln. Gefragt sind vor allem erlebnis-orientierte
Ansätze. Im Zentrum gegenwärtiger Esoterik steht die Erfahrung einer
Erleuchtung. Wahrheit begegnet dem Einzelnen dabei nicht als Lehre,
sondern als individuelles Erlebnis. Esoterik intendiert eine Einheitsschau: „Was in der Wissenschaft und in der Alltagswelt auseinander fällt, soll als
Einheit, etwa als einziges energetisches Kraftfeld, angesehen werden.“ 301
In der Esoterik wird bewusst an ein verbreitetes Krisengefühl
angeknüpft.302 Es äußert sich im Misstrauen gegenüber der
Technik, den Institutionen (Politik, Kirche, gesellschaftlichen
Gruppen), so dass man zum Teil von einem anti-institutionellen Affekt sprechen kann.
Stichwort: Unmittelbarkeit. Hier kommt es in der Esoterik zum
Rückgriff auf angeblich „unbelastete“ religiöse Traditionen,
auf angeblich „uraltes“ geoffenbartes Wissen und zu einer
301 Michael Nüchtern, Dauerwelle Esoterik. Erkundungen im religiösen Zeitgeist, in: Klaus Hofmeister / Lothar
Bauerochse (Hg.), Die Zukunft der Religion. Spurensicherung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Stuttgart
1996, 85-95, 86.
302 Vgl. den Überblick von Hans-Jürgen Ruppert, Esoterik zwischen Endzeitfieber und Erlösungshoffnung, in:
Materialdienst der EZW 10/1999, 289-305.
144
Wiederbelebung außerchristlicher, erlebnisintensiver religiöser
Praktiken. Andererseits richtet sich der hoffnungsvolle Blick
auf die Mitteilungen Außerirdischer bzw. übermenschlicher Intelligenzen bzw. „gechannelter“ Botschaften von höheren Wesenheiten, Außerirdischen.
In der Esoterikszene spielt auch das magische Naturbewusstsein eine große Rolle. So begreift der Esoteriker Hans-Dieter Leuenberger die Magie als „esoterische Disziplin“, die von dem
Grundprinzip ausgeht, „dass alles im Kosmos, Energie und Materie,
aus der einen Urenergie kommt.“ 303 In dieser Perspektive gilt der
Mensch als „Ansammlung der verschiedensten Energien“.
Hierzulande sind es vor allem die geistigen Einflüsse der NewAge-Bewegung, die die außerkirchliche Religiosität nachhaltig
prägte. Anfang der 80er Jahre, im Zusammenhang mit der ökologischen Krise, konnte diese facettenreiche neureligiöse Strömung, die ihren Anfang in den USA nahm, auch in Deutschland eine große Breitenwirkung entfalten. Ihre Weltanschauung, in der sich Versatzstücke aus Therapie- und Selbstentfaltungsszene sowie Okkultismus und Esoterik nachweisen lassen,
strebte ein neues Paradigma, ein neues Weltbild an und erwartete, u. a. mit Hilfe astrologischer Spekulationen, den Anbruch
eines neuen Zeitalters („Wassermannzeitalter“), das zur Aussöhnung von Mensch und Natur beitragen würde. Die Autoren
einschlägiger Bücher erwarteten eine allmähliche Vergöttlichung des Menschen durch bewusstseinserweiternde Praktiken
und Techniken. Ausgehend von einer holistisch-monistischen
Einheit von Mensch, Natur und Kosmos fanden in dieser
neuen Spiritualität spiritistische Vorstellungen von Geistwesen,
aber auch schamanistische Gedanken Eingang.
Der Innenbereich des Menschen, seine vielfältigen intuitiven
und spirituellen Möglichkeiten, rückt für die Esoterik in den
Mittelpunkt des Interesses. Selbst wenn heute das Etikett „New
Age“ nur noch selten bzw. überhaupt nicht verwendet wird –
auch in der Szene selbst ist ein Unbehagen an der Bezeichnung
spürbar –, so sind die Themen nach wie vor aktuell. Moderner
Esoterik geht es um die Neuentdeckung verschütteter Quellen
303 Hans-Dieter Leuenberger, Das ist Esoterik, Freiburg 41989, 171.
145
authentischer Spiritualität. Dabei wird an ein „Urwissen“ vergangener Kulturen bzw. archaischer Religionsformen angeknüpft. Magische und schamanistische Traditionen werden wiederbelebt. Fast immer geht es um folgende Themen: Beseitigung innerer Blockaden, Selbstheilung, persönliches Wachstum
und Sinnlichkeit. Der Mensch müsse sich als Teil der Allverbundenheit begreifen. Sein Ich soll vertieft und erweitert werden. Sein Bewusstsein soll auch für unsichtbare Realitätsebenen
sensibilisiert werden. Hiermit soll auch die Möglichkeit zur
Kommunikation mit geheimnisvollen Wesenheiten geschaffen
werden. Sie können Wissen übermitteln oder Schutz und Geborgenheit vermitteln.
In der Esoterikszene begegnet uns eine Gegenreaktion bzw.
eine Protestform gegenüber einer rein rationalen Weltsicht.
Letztlich kommt es zu einer Wiederverzauberung einer erklärbar gewordenen, hochtechnisierten Welt. Für esoterisch Überzeugte ist es offenbar kein Problem, sich einerseits im beruflichen Alltag hochtechnisierter Kommunikationstechnologien
(Computer, Internet) zu bedienen und andererseits in der Freizeit gedanklich und emotional in die Welt des Geheimnisvollen
einzutauchen. Viele sind in sehr unterschiedlichen Szenen zuhause. Der Kosmos sei, wie es häufig heißt, von einer Energie
durchzogen, die der Mensch anzapfen könne. Um wieder ins
seelische Gleichgewicht zu gelangen, könne er über spezielle
Techniken sich die verfügbaren Kräfte aneignen bzw. sie anzapfen.
Der okkulte Über-Mensch
Im Jahr 1998 schrieb die Wochenzeitung „Die Zeit“ (23/1998): „Braune
Esoterik auf dem Vormarsch: Viele Bücher aus der New-Age-Szene zeichnen ein
rassistisches Weltbild“. Damit ist ein Trend gemeint, der in den letzten
Jahren für großen Wirbel gesorgt hat und in einem konkreten Fall auch
zur Beschlagnahmung von zwei Büchern von Jan Udo Holey alias Jan
van Helsing geführt hat, die allerdings weiterhin im Internet zugänglich
146
sind.
Im Mai 1998 wurde der Berliner Reinkarnationstherapeut und esoterische Schriftsteller Tom Hockemeyer (Pseudonym: Trutz Hardo) wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens
Verstorbener zu einer Geldstrafe verurteilt. Außerdem darf sein 1996
veröffentlichtes Werk „Jedem das Seine“ nicht mehr vertrieben werden.304 Hardo geht in seinem Werk von der Überzeugung aus, dass die
gesamte Weltgeschichte „karmisch“ vorherbestimmt sei und der Holocaust aufgrund einer höheren karmischen Gerechtigkeit erfolgt sei. Als
Beweis dienten Hockemeyer Erlebnisschilderungen von Menschen, die
in frühere Leben zurückversetzt wurden. „Der Glaube an die Gültigkeit
eines strengen ‚Karma-Gesetzes‘, wonach jeder das, was er anderen an Leid antut,
in künftigen Existenzen an sich selbst erleben wird, ist nicht nur eine Grundüberzeugung des esoterischen Menschenbilds, sondern eignet sich offenbar gleichzeitig
auch in besonderer Weise zu Verharmlosung oder Rechtfertigung nazistischer Verbrechen!“ 305
In seinem Buch „Rechtsextremismus in der Bundesrepublik“ weist der
Politikwissenschaftler, Soziologe und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, Armin Pfahl-Traughber, auch auf die Esoterik als thematisches Agitationsfeld hin. Freilich – dies räumt er ein – dürfen nicht alle
esoterischen Ansätze in einen Topf geworfen werden.
Die Vorstellung, dass die konkrete, sichtbare Welt von einer immateriellen, feinstofflichen überlagert wird, wird zum Impuls, nach Methoden Ausschau zu halten, um mit dieser Überwelt in Kontakt zu treten.
Oft sind es übersinnliche Methoden, magische und mantische Praktiken, die gefragt sind. Wohlgemerkt: Nicht alle esoterische Richtungen
neigen weltverschwörerischem Denken zu. Es ist eher der esoterischufologische Rand, der sich in problematisches und politisch gefährliches Terrain versteigt. In diesem Segment gibt es inhaltliche Berührungen mit rechtsextremen Überzeugungen, wonach nur der Starke bzw.
der „Erleuchtete“ ein Anrecht auf Überleben hat. Kritiker bezeichnen
diese Richtung als „rechte Esoterik“ (Rüdiger Sünner), als „braune Esote-
304 Vgl. im folgenden Hans-Jürgen Ruppert, Esoterik-Autor verurteilt, in: Materialdienst der EZW 7/1998.
305 Hans-Jürgen Ruppert, a.a.O.
147
rik“ 306 oder als „antisemitische bzw. völkische Esoterik“ 307. Damit wird auf
die inhaltliche Nähe esoterischer Überzeugungen zu Sozialdarwinismus,
Ausleseprozess und ewigem Kampf zwischen Starken und Schwachen
verwiesen. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei ein selbst gestrickter Reinkarnationsglaube. Er führt im Einzelfall dazu, dass den
Opfern die Schuld für ihr Schicksal zugeschrieben wird – mit der Konsequenz, dass die Täter letztendlich entlastet und die Opfer aufgrund
„karmischer Verfehlungen“ an ihrem Schicksal angeblich selbst schuld
seien. Teilweise kommt es in diesem esoterischen Feld auch zu Vermischungen mit ufologischen Elementen. Im Gegensatz zur „orthodoxen“ Ufologie wird in der braunen Esoterik davon ausgegangen, dass
es in der Regel nicht Außerirdische sind, die als Ufo-Besatzungen die
Erde aufsuchen. Vielmehr lautet das Credo in der braunen Esoterik:
Die Ufos sind Produkte der schöpferischen Kraft des sog. Dritten Reiches.308 Das Neue an der braunen Esoterik ist, dass sie die jüngste
deutsche Geschichte mit esoterischen Rastern deutet. Für die Esoterik,
ein ohnehin eher unpolitisches Milieu, hat dies zur Folge, dass undemokratisches Gedankengut Einzug hält.
Esoterik als Neognosis
Es ist die eigentümliche Mischung aus esoterischer und revisionistischer Literatur, die von verschiedenen esoterischen Autoren wie Jo
Conrad, Jan Udo Holey oder Armin Risi referiert und als Tatsache, als
Einblick in tiefere Zusammenhänge präsentiert wird. Gängige esoterische Anliegen – wie neue Spiritualität, die Suche nach einer individuellen Bedürfnissen angepassten Religiosität – sowie die Abgrenzung gegenüber traditionellen Religionen, insbesondere die Kirchen- bzw.
grundlegende Christentumskritik werden als Anknüpfungspunkte ver306 Lutz Lehmhöfer/Kurt-Helmuth Eimuth (Hg.), Braune Flecken in der Esoterik. Der Antisemitismus der
Alternativen, Frankfurt/Main 2001.
307 Vgl. den Artikel: Anton Maegerle, Antisemitische Esoterik. Die Kreise um „Jan van Helsing“, in: Tribüne
38/1999, 124-132 sowie die neuere Veröffentlichung Friedrich Paul Heller/Anton Maegerle, Die Sprache des
Hasses. Rechtsextremismus und völkische Esoterik, Stuttgart 2001.
308 So Andreas Klump, Rechtsextremismus und Esoterik. Verbindungslinien, Erscheinungsformen, offene Fragen;
im Internet abrufbar unter: www.extremismus.com/esorex.htm.
148
wendet, um sie dann in Verbindung mit antimodernistischen und weltverschwörerischen Gedankengängen als neue Weltsicht zu präsentieren.
Dieser Mix erzeugt ein Klima der Bedrohung. Diese Bedrohung kann
jedoch, wie es heißt, nur mit einem esoterischen Überwissen, vermittelt
über esoterische Lehrer, durchschaut werden. Hier zeigt sich auch der
gnostische Grundzug brauner Esoterik. Die Gnosis, wörtlich übersetzt:
„das Wissen“ oder „die höhere Erkenntnis“, bezeichnet einen bereits in
der Antike aufkommenden Typ von Religion, „der einen eigentümlichen Mythos zum höheren Wissen, zur heiligen Erkenntnis und absoluten Wahrheit erklärte.“ Folgende mythologische Elemente lassen sich –
bei aller Differenz – auch in der modernen Esoterik finden309:
Die Gnosis geht davon aus, dass es in der Welt zwei Prinzipien
gibt: das göttliche Licht und die teuflische Finsternis. In der modernen Esoterik wird das Böse ignoriert, bagatellisiert oder
schlicht mit dem Zustand des Nicht-Erleuchtetseins umschrieben.
Oder das Böse wird gar als Geschenk der Schöpfung gepriesen.
Eine neuere Erklärung von der esoterischen Bestsellerautorin Bärbel Mohr lautet – unter Rückgriff auf den amerikanischen Esoteriker Neale Donald Walsch: Alle Seelen sind letztlich Seelen des
reinen Lichts. Um schöne Erfahrungen an sich selbst machen zu
können, „müssen einige besonders starke Seelen ganz tief in die Dunkelheit
gehen und das Gegenteil repräsentieren ... So betrachtet ist auch die Dunkelheit ein Geschenk, das wir uns ständig gegenseitig machen, um uns selbst in
großer Vielfalt erleben zu können.“ 310 Hinzu kommt ein tiefes Misstrauen gegenüber „weltlichen“, irdischen Institutionen wie Parteien, Gesellschaftsordnungen.
Die irdische Welt wird als Ort des Nichtwissens umschrieben. Sie
ist ein dunkler Ort, ein Bereich, dem der Esoteriker durch höhere
Erkenntnis zu entfliehen sucht.
Ziel ist die über Intuition, über außergewöhnliche, übersinnliche
Mitteilungen von Außerirdischen, Erleuchteten, Aufgestiegenen
Meistern diesem Wissen teilhaftig zu werden bzw. es anzuzapfen
(Channeling).
309 Zum Folgenden vgl. Harald Strohm, Die Gnosis und der Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1997, 35f.
310 Bärbel Mohr, Dem Teufel sei Dank! Warum „Dunkelheit“ ein Geschenk der Schöpfung ist, in: Connection
5/2002, 28f, hier 29.
149
Damit bekommen Medien, spirituelle Lehrer/Lehrerinnen eine
zentrale Rolle für die Vermittlung dieses esoterischen Überwissens.
Mit diesem esoterischen Überwissen ereignet sich Gnosis, Erkenntnis des gesamten Weltprozesses und damit auch der gegenwärtigen, als verhängnisvoll empfundenen, „verschatteten“, tragischen Situation. Licht- oder Bewusstseinsebenen sollen Erleuchtung vermitteln. Die esoterische Botschaft soll aus diesen Bereichen stammen. Sie werden damit zu Quellen neuer Erkenntnis.
Grundsätzlich lässt sich die neue esoterische Botschaft mit irdisch-rationalen Mitteln nicht anfechten. Sie ist übermenschliche,
höhere Erkenntnis.
Der Durchbruch zur Erkenntnis vollzieht sich nach gnostischen
Vorstellungen im Inneren des Menschen, in der Seele. Die moderne Esoterik spricht stattdessen vom Bewusstseinswandel, von Erleuchtung. Parallelen zwischen antiker Gnosis und moderner Esoterik zeigen sich auch im Folgenden: Wie der gesamte Kosmos besteht demnach auch die Seele aus einem lichtvoll-hohen und einem finster-niederen Teil: „Zuständig für die gnostische Erleuchtung sei
allein der höhere Seelenteil. Er wird gedacht als lichtweltliche Außenstelle, als
ein im finsteren Erdenkörper eingekerkerter Lichtfunke.“ 311 In der modernen Esoterik wird dieser Seelenteil zum höheren Ich, zum Höheren Selbst.
Bereits in der antiken Gnosis gibt es antijüdische Tendenzen.
Demnach werden alle als seelenlos charakterisiert, die der Welt
verfallen sind, sich nicht der höheren Erkenntnis öffnen: „Betroffen
waren bereits in der Antike die Juden. Dies vor allem, weil nach ihrem
Schöpfungsbericht (1. Mose 1,1) diese Welt keine teuflische Vermischung,
sondern ein Werk ihres Gottes und deshalb gut war. Mehrere gnostische Systeme münzten daher den jüdischen Jahwe zum Herrscher der Finsternis um –
und sein Volk zu dessen Dienern. Als der Finsternis verfallen galten des
Weiteren die Mächtigen der Welt und tendenziell auch die Frauen.“ 312 In
weiten Teilen der modernen Esoterik gelten die jüdische und die
311 Strohm, a.a.O., 36.
312 ebd.
150
christliche Religion als überholte Religionsstufe.
Neuheidnisches in der modernen Esoterik: Rückkehr zu den
alten Göttern?
In Randbereichen der modernen Esoterik zeichnen sich auch Überlappungen zur neuheidnischen Szene ab. Unter Neuheidentum können
moderne religiös-weltanschauliche Strömungen und Gruppen verstanden werden, die sich von christlicher Religion und Kultur durch die
bewusste Rückkehr zu vor- und außerchristlichen Werthaltungen und
Glaubensvorstellungen abzugrenzen versuchen. Gleichzeitig zeigen
sich innerhalb des Neuheidentums (Paganismus) verschiedene Richtungen, die zum Teil miteinander kooperieren, sich zum Teil aber auch
voneinander abgrenzen: Druiden, neugermanisch-heidnische Vereinigungen, neue Hexen bzw. Wicca-Bewegung.
Hier findet sich Kritik an der angeblich naturfeindlichen Grundhaltung
des Christentums bzw. der jüdisch-christlichen Kultur.313 Auf der Suche
nach der Urweisheit und einem Leben im Einklang mit der Natur
kommt es seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Neuentdeckung bzw. Wiederbelebung vorchristlicher heidnischer Glaubensüberzeugungen, die sich – trotz der dort anzutreffenden antimodernistischen Grundhaltung – bei näherem Hinsehen häufig als postmoderne
Glaubenskonstrukte erweisen. Der Rückgriff auf vermeintlich uralte,
vorchristliche Rituale dient angeblich der Etablierung einer naturgemäßen, dezidiert nichtchristlichen und höherwertigen weil ursprünglicheren Religiosität. Gleichwohl stellt die neuheidnische Szene keinen monolithischen Block dar. Hier finden sich u. a. neue Hexen, neugermanische, neokeltische und neuschamanistische Richtungen.314 In dieser
Szene ist ein wachsendes Interesse an lebensbegleitenden Ritualen zu
beobachten, das sich bis in Teile der modernen Esoterik auswirkt.315 In
313 Vgl. hierzu meinen Artikel „Neuheiden, Hexen, Satanisten“, in: R. Hempelmann u.a., Panorama der neuen
Religiosität, Gütersloh 2001, 282-293.
314 Vgl. hierzu die einschlägige Internetseite www.gaia-net.de.
315 1992 entdeckte der Vf. beim Besuch der esoterischen Findhorn-Gemeinschaft in Schottland zufällig ein Buch,
das 1990 im Eigenverlag erschienen ist. Es bietet eine Art esoterische „Agende“ für Geburt, Hochzeit und Beerdigung; vgl. William Bloom, Sacred Times. A New Approach to Festivals, Findhorn 1990.
151
den USA316 und Großbritannien lässt sich diese Entwicklung schon seit
längerem beobachten. Einschlägige Buchtitel, die ins Deutsche übersetzt werden, dokumentieren diese Tendenz. Hinzu kommt eine unübersehbare Zahl einschlägiger Seminar- und Workshopangebote.317
Die darin entfalteten Glaubensüberzeugungen sind oft Ausdruck einer
Diesseitsreligiosität, die sich als kritischer Reflex auf die ökologische
Krise sowie auf die christlich dominierte Gegenwartskultur westlicher
Gesellschaften begreift und sich davon bewusst mit antimodernistischen Vorstellungen abzugrenzen sucht.
Das Christentum bildet sozusagen die Negativfolie für die Entfaltung
eigener neuheidnischer Glaubensüberzeugungen. In diesem Zusammenhang ist eine notwendige Unterscheidung zwischen dem sog. linken
(neues Hexentum) und dem rechten neugermanischen Neuheidentum
vorzunehmen. Was beide Richtungen, die sich v. a. im Blick auf politische und ökologische Grundüberzeugungen voneinander abzugrenzen
suchen, eint, ist ein naturmagisches Bewusstsein. Die Praxis ist bestimmt durch Jahreskreisfeste, die mit magischen Ritualen begangen
werden.
Der Versuch, an angeblich alte germanische Glaubensvorstellungen
und Praktiken anzuknüpfen, ist kein neues Phänomen. Bereits im 19.
Jahrhundert und Anfang dieses Jahrhunderts kam es – insbesondere im
Zusammenhang mit der völkischen Bewegung – zur Gründung neugermanischer Gruppen und Gemeinschaften. Die Religion wurde zur
Kulturkritik, zur Kritik an der Moderne, indem man auf Mythen, Sagen
und Romantik zurückgriff und sie einer von menschlicher Ratio und
Fremdeinflüssen dominierten Gesellschaft gegenüberstellen wollte.
Neuerdings zeichnet sich eine Vernetzung der Szene ab, die sich über
personelle Verflechtungen bis in das politisch-rechtsextremistische La316 Vgl. hierzu etwa Herman Slater, A Book of Pagan Rituals, York Beach 1978.
317 Vgl. www.gaia-net.de. Hier wird zur „Frauen-Schwitzhütte“ im süddeutschen Raum eingeladen: „Eine regel-
mäßige Verbindung zu den Urkräften der Erde durch Rituale und Zeremonien schenkt uns Menschen die
Information, die wir im Wechsel der Jahreszeiten brauchen, um im Einklang mit der Natur zu leben. Durch
schamanische Techniken aus dem alten, archaischen Wissen der Naturvölker öffnen wir uns den besonderen
Qualitäten des Jahreslaufes und feiern sie auf neue, intensive und heilsame Art und Weise. Wir werden uns in
der Schwitzhüttenzeremonie, die wir gemeinsam vorbereiten, reinigen, stärken und uns dort mit dem Geist der
Erde verbinden. Die Schwitzhütte ist die Gebärmutter der Erde – ein magischer Ort von Tod und Wiedergeburt. Wer sie betritt, reinigt sich von den Sorgen des Alltags und erneuert seine Verbindung mit den
Elementen.“
152
ger bzw. über die Musikszene bis hin zum okkult-ideologisch/neosatanistischen Bereich erstreckt. Dies hat auch damit zu tun, dass die politischen Gemeinsamkeiten stärker hervorgehoben werden als die jeweiligen weltanschaulichen Unterschiede. So gibt es im Berliner Second
Sight Books Verlag, der auch die Satanische Bibel und weitere Bücher
von Szandor Anton LaVey verlegt, neuerdings auch Bücher aus dem
neuheidnischen Spektrum: „Die alten Feuer von Midgard“ nennt sich das
Buch der norwegischen Musikerin und bekennenden Heidin Andrea
Haugen. Wie sie im Vorwort schreibt, will sie damit „die Leser ... inspirieren, ihre heidnischen Vorfahren zu suchen und ihre spirituellen Traditionen wieder
zu beleben.“ 318 In ihrem Buch geht es um einen esoterischen Ansatz, den
Durchbruch zur Innenwelt. Sie kritisiert die patriarchalischen Religionen, weil sie Menschen am „natürlichen Denken“ hindern würden.319
Zwischen brauner Esoterik und Neuheidentum: Arun-Verlag
Signifikant für die Überlappung von brauner Esoterik und neuheidnisch-germanischem Gedankengut ist der Arun-Verlag im thüringischen Engerda. In diesem Kleinverlag erscheinen „einerseits programmatische Texte im Sinne der Neuen Rechte, andererseits Bücher mit stark ... spirituellen
Inhalten, die mitunter auch im esoterischen Lager Akzeptanz finden.“ 320 Der
Verlagsleiter, Stefan Björn Ulbrich, der eigentlich Björn Falko heißt,
war früher in der 1994 vom Bundesinnenministerium verbotenen Wiking-Jugend aktiv. Zum Arun-Verlag gab es im Jahr 2000 auch eine Anfrage im Deutschen Bundestag. Zu den umstrittenen Aktivitäten des
Verlages heißt es, dass „der Verlag insbesondere jenen Teil der unpolitischen
Esoterik-Szene zu erreichen (sucht), der für neoheidnische Auffassungen empfänglich ist. Darüber dürfte sich das Verlagsprogramm auch an esoterisch und neoheidnisch orientierte Rechtsextremisten wenden.“ Wie es dort weiter heißt, richte
sich der Verlag mit bestimmten Publikationen „an das Umfeld des intellektuellen Rechtsextremismus und hierbei insbesondere an das der ‚Neuen Rech-
318 Andrea Haugen, Die alten Feuer von Midgard, Berlin 2001, 7.
319 ebd., 15.
320 Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 32001, 49.
153
ten’.“ 321 Der Arun Verlag hat offensichtlich auch „Kontakte zu anderen
rechtsextremistischen Vertriebsdiensten“. Eigenen Angaben zufolge
beliefert der Verlag rund 4000 Kunden im In- und Ausland. Zwei Mal
im Jahr werden rund 200.000 Prospekte verteilt.
Ein Blick in das aktuelle Verlagsprogramm zeigt: Es geht um Keltentum, Neuheidentum und germanische Religiosität. Darüber hinaus finden sich Titel zur indianischen Spiritualität. Von germanischer Magie
über „Die Fahrten des Thor“ und „Das Germanische Götterorakel“
bis hin zu Ratgebern für neuheidnische Rituale und Zeremonien. Ulbrichs Haltung ist antichristlich geprägt: Er hält das Christentum für
rückständig, weil es angeblich durch die ethnischen, räumlichen und
zeitlichen Entstehungsbedingung von den Wüstenvölkern des Morgenlandes geprägt sei.322 An anderer Stelle heißt es: „ ... die heutigen europäischen Christen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie in der prophetischen Schau einer messianischen Endzeit und dem Jenseitsglauben der frühen
Wüstenvölker leben. Und: solche Religion ist naturgemäßer auch viel anfälliger gegen Fanatismus und machtstrategischen Missbrauch...“ 323 Und: „Je weiter sich der
Siegeszug des Christentums ausdehnt, desto mehr Fremdes mischt sich ihm bei.“ 324
Im Heidentum erblickt Ulbrich „die Ur-Religion“, den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Religionen.325 Er setzt voraus, dass es sich bei
Gott oder Göttern um „Archetypen“ handeln würde, „personifizierte und
vereinfachte Symbole für das göttliche Wirken im Menschen selbst wie in jedem
Ding“.326
Im Jahr 2000 erschien ein Buch mit dem Titel „Die Hohe Zeit“. Es
bietet „Rituale und Zeremonien für Hochzeit, Lebensbund und Familie“, darunter nicht nur für „Trennung, Lösung, Scheidung“, sondern
auch Gestaltungsvorschläge für die „Hochzeit unter Thors Hammer“,
eine „Schwitzhüttenhochzeit“ oder für ein angeblich „älteres, reineres,
archaischeres Eheritual“: die „Blutsbande“. Dort heißt es: „Der Bräutigam legt der Braut das Amulett um den Hals, die Braut überreicht dem Bräutigam
321 Drucksache des Deutschen Bundestages 14/3621 vom 16.6.2000.
322 Björn Ulbrich/Holger Gerwin, Der Tag der Sonne. Lebendige Zeremonien und zeitgemäßes Brauchtum zur
Feier der Sommersonnenwende, Engerda 2001, 19.
323 ebd., 21.
324 ebd., 26.
325 ebd.
326 ebd., 27.
154
den Dolch, Braut und Bräutigam entblößen den rechten Arm und schneiden sich,
jeweils den Dolch in der Linken, mit einem beherzten Schnitt eine daumenlange
Wunde in den Unterarm. Dann pressen beide aufrecht stehend die Wunden aneinander und sprechen gemeinsam einen kraftvollen Schwur in der Stille. ‚Bund des
Blutes sei mit Blut geweiht, uns zu tragen in die Ewigkeit!’“ 327 Genannt wird
außerdem das Ritual der Ehe, die so genannte „Eheleite“. Sie soll nach
neuheidnischer Vorstellung Braut und Bräutigam miteinander rituell
„verweben“, „die Sippen zusammenführen“ und vor der versammelten
Gemeinschaft Bekenntnis ablegen.328 Die „Eheleite“ sollte im Frühsommer oder Sommer, freitags, „am Tage Freias, der Gattin Wodans“,
bei Sonnenlicht und im Freien stattfinden. Empfohlen werden Orte wie
eine stimmungsvolle Waldlichtung oder ein Park: „Plätze mit großen
einzelstehenden Laubbäumen, die der Gemeinschaft im Sommer bei zu
starker Sonneneinstrahlung Schatten spenden, sind ideal. Besonders gelungen ist die Eheschließung unter dem ‚Baum der Liebe’, der Linde.“329 Beim Arun-Verlag stellt sich die Frage, ob durch die vermeintliche Naturnähe und die angeblich artgemäße Religiosität nicht auch wieder ein Einfallstor für völkisches Gedankengut geschaffen wird, das
den weltanschaulich-religiösen Bodensatz für rechtsextremistisches Gedankengut bereitstellt.
Einblicke in „tiefere Gesetzmäßigkeiten“? –
Weltverschwörungstheorien in der modernen Esoterik
Gerade die Selbstpositionierung und Rezeption der Esoterik zwischen
Wissenschaft und Religion führt dazu, dass bei den Offerten des esoterischen Buchmarktes immer wieder Bücher zu finden sind, die dem
Genus esoterischer Verschwörungsliteratur zuzurechnen sind und davon ausgehen, dass die „Wahrheit“ von den Mächtigen in Staat und
Kirche „unter Verschluss“ gehalten würde. Nicht zuletzt die Marktförmigkeit der Esoterik und die antirationalistische Grundhaltung vieler
327 Björn Ulbrich/Holger Gerwin, Die Hohe Zeit. Rituale und Zeremonien für Hochzeit, Lebensbund und Familie,
Engerda 2000, 107.
328 ebd., 20.
329 ebd., 25.
155
Esoteriker begünstigt eine kritiklose Übernahme oft recht problematischer Vorstellungen. Zum Teil berufen sich die Autoren bzw. Übermittler auf höhere Erkenntnisse, Eingebungen höherer Geistwesen, oder
sie berichten von der (Wieder-)Entdeckung uralter Weisheiten bzw. unterdrückter Wahrheiten. Die dabei entfalteten okkulten Weltbilder, die
nicht bewiesen sind, fordern vielfach die kritiklose Akzeptanz als höhere Tatsache ein.330 Dies lässt sich besonders an der Interpretation des
11. September in der Esoterikszene beobachten. Hier begegnet der Anspruch, esoterische Einblicke in „tiefere Gesetzmäßigkeiten“ zu liefern.
Teilweise spielen eigenwillige Nostradamus-Rezeptionen und krude
Weltverschwörungstheorien auch in der Esoterik eine wichtige Rolle.
Sie geistern vor allem durch das Internet. Auch die Esoterik-Szene reagiert mit eigenwilligen Deutungen.331 Im „Magazin 2000plus“, das sich
mit „ungeklärten Phänomenen, Zukunftstechnologien und Kosmologie“ beschäftigt, heißt es auf dem Titelblatt der Novemberausgabe:
„11.9.2001 D-Day – Gibt es Verheimlichungen? Wer sind die wahren Drahtzieher?“ Für manche Verschwörungstheoretiker ist klar: Bin Laden kann
nicht der eigentliche Urheber sein. Man sucht nach „tieferen Ursachen“. „Viele Dinge deuten darauf hin, dass gewisse Kreise in Amerika eingeweiht sein müssen“, behauptet der Ufo- und Esoterikanhänger Jo Conrad
auf seiner Homepage. Was hier bereits anklingt, sind typische Aussagen
sog. Weltverschwörungstheorien. Sie „sind ... immer bewusst verbreitete Darstellungen, dass es eine böse Kraft oder mehrere Kräfte in der Geschichte gibt, die seit
Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden bestrebt sind, sich die ganze
Welt einzuverleiben, sie zu erobern und zu versklaven.“ 332 Diese Theorien lassen sich lange zurückverfolgen. Immer ging es darum, Aggressionen
gegen bestimmte Gruppen zu schüren, ob Juden oder Freimaurer. Sie
waren die Hauptzielscheibe solcher säkularer, mit politischen Mythen
durchsetzter Verschwörungstheorien. Sie sind Reaktionen auf Zeiten
gesellschaftlicher Verunsicherung. Ängste und Orientierungsprobleme
stellen die wichtigsten Antriebskräfte dar. Vor allem bieten sie dem Einzelnen einfache Antworten auf scheinbar komplizierte politische Sach330 Eduard Gugenberger/Franko Petri/Roman Schweidlenka, Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von
rechts, Wien/München 1998, 22.
331 Vgl. hierzu meinen Artikel: „Spirituelle Bewältigung“ des September-Terrors? Ein Blick auf die Esoterik-Szene,
in: Materialdienst der EZW 11/2001.
332 Eduard Gugenberger/Franko Petri/Roman Schweidlenka, Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von
rechts, Wien/München 1998, 22
156
verhalte. In einer Verschwörungstheorie gibt es, ähnlich wie in einem
individuellen Verfolgungswahn, letztlich keine Zufälle mehr: Alles hat
einen geheimen („esoterischen“) Sinn, und dieser wiederum ist ausschließlich auf das eigene Ich – bzw. auf die Wir-Gruppe – bezogen.
Somit können Verschwörungstheorien „in Regie genommene Ängste innerhalb einer Gesellschaft oder einer bestimmten Bezugsgruppe“ darstellen.333 Im
Gegensatz zum individuellen Verfolgungswahn ist die Verschwörungstheorie von Anfang an immer auf Plausibilität, Vermittlung und Kommunikation angewiesen, will sie denn erfolgreich und rezipierbar sein.
In sie sind schon immer potentielle oder tatsächliche Mitwisser und
Gesinnungsgenossen eingebunden: „Verschwörungstheorien wollen Vorhandenes, aber Geheimgehaltenes ans Tageslicht befördern und richten. Verschwörungstheoretiker treten insofern als Anwälte einer hinters Licht geführten Öffentlichkeit
auf. Sie versprechen, die fraglichen Verschwörer bzw. die ganzen Verschwörerkoalitionen, die verdeckt ihre eigennützigen Machtinteressen verfolgen und sich damit der
öffentlichen Kontrolle entziehen, vor aller Welt bloßzustellen. Sie entzünden sich
vorzugsweise an Personengruppen und an Vereinigungen, von deren Innenleben die
Allgemeinheit – einschließlich die Verschwörungstheoretiker – keine genauen Vorstellungen besitzt: Minderheiten wie die Juden, Orden wie die Templer und Jesuiten,
Geheimbünde wie die Freimaurer. Kaderparteien wie die Kommunisten und Geheimdienste wie der KGB und die CIA geben aufgrund undurchsichtiger Organisationsformen, unverständlicher Rituale und Symbole Anlass zu den wildesten Spekulationen.“ 334
Religiös motivierte Verschwörungstheorien lassen sich bei Neuoffenbarungsgruppen entdecken. Beim „Orden Fiat Lux“ findet sich in der
Zeitschrift „Der reinste Urquell“ die Vorstellung, dass die Endzeit angeblich „von der dunklen Macht mit den arglistigen Tricks hinausgeschoben“
werde, „damit noch viele von jenen, die bereits zum geretteten Drittel der Auserwählten zählen, wieder in seine ausgeworfenen Fangnetze geraten“.335 Der Vatikan, so heißt es in einer angeblich göttlichen Offenbarung, werde heute
„von Freimaurern, Marxisten und zahlreichen Antichristen regiert, so dass dadurch viel unterschlagen, gefälscht, verstümmelt und zum Verschwinden gebracht
333 Rudolf Jaworski, Verschwörungstheorien aus psychologischer und aus historischer Sicht, in: Ute Caumanns /
Mathias Niendorf (Hg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – historische Varianten,
Osnabrück 2001, 11-30, hier 18.
334 ebd., 27.
335 Der reinste Urquell. Monatszeitschrift des Ordens Fiat Lux, Nr. 110, Juni 2001, 33.
157
wird.“ 336 Solche Verschwörungstheorien verbinden sich mit aggressiver
Kirchenkritik. Diese unheilvolle Allianz zeigte sich phasenweise auch
bei der umstrittenen Glaubensgemeinschaft Universelles Leben. Unter
öffentlichem Druck wurden solche Aussagen wieder korrigiert.
Kritische Einschätzung
Die Esoterik ist durch eine antirationalistische Grundhaltung
geprägt. Diese Grundhaltung ist auch in Teilen des Neuheidentums anzutreffen. Diese Haltung der reinen Innerlichkeit reicht
zur Abwehr rechtsextremistischer Gedanken nicht aus. Es stellt
sich die Frage, inwieweit es der Esoterik- und Neuheidenszene
gelingt, sich von solchen problematischen Tendenzen inhaltlich
abzugrenzen. Denn wie es scheint, werden weltanschauliche
Grundmuster geteilt: Kulturkritik und antirationalistische Haltung, magisches Naturbewusstsein.
Welchen Weltbezug bieten die Richtungen an? In Teilen der
Esoterikszene herrscht oft eine spirituelle Egozentrik vor. In
welches Verhältnis setzt sie sich zum Mitmenschen? Wie verhält sich der spirituell Stärkere zum Schwächeren, bzw. der vermeintlich Erleuchtete zum Nichterleuchteten?
Die in der sog. Braunen Esoterik anzutreffenden anti-demokratischen Theorien sind Ausdruck einer allgemeinen Verunsicherung. Stichworte: Globalisierung, Euro, Europäischer Einigungsprozess, Umgang mit der eigenen Geschichte, Angst vor
Verlust bestehender Werte. In der braunen Esoterik werden gefährliche Geschichtsinterpretationen geliefert – auf der Grundlage obskurer, revisionistischer und teilweise auch rassistischer
Literatur. Hinzu kommt eine Sündenbocktheorie, in der bestimmte Gruppen abgestempelt werden. Hinzu kommen selbst
gestrickte Karma- und Reinkarnationsvorstellungen, die bei
konsequenter geschichtspolitischer Deutung zu zynischen und
gefährlichen antisemitischen Denkmustern führen.
336
ebd., 35.
158
Das in dieser Literatur entfaltete Menschen- und Weltbild widerspricht dem christlichen in eklatanter Weise. Der Mensch
wird zum Gott erhoben, der sein Schicksal selbst bestimmt. Erleuchtung kann zur Selbstvergöttlichung führen.
Aus christlicher Sicht ist eine Unterscheidung der Geister vonnöten. Zunächst ist das Anliegen moderner Esoterik zu würdigen. Es geht um eine tiefe menschliche Sehnsucht nach Heil
und Heilung, die Suche nach mehr – jenseits von Materialismus
und reinem Zweck- oder Wissenschaftsglauben. Hier können
sich durchaus säkulare und religiöse Bedürfnisse mischen. Eine
Unterscheidung aus christlicher Sicht muss auf folgende Punkte hinweisen. Dies kann hier nur thesenförmig geschehen:
Ein wichtiger Differenzpunkt ist das Gottesbild: Gott / das
Göttliche ist keine unpersönlich verstandene Energie, sondern
ein Du, der Schöpfer des Himmels und der Erden – im Unterschied zum esoterischen Monismus.
Das
Menschenbild: Die Esoterik betrachtet den Menschen als
ein spirituelles und potentiell göttliches Wesen. Wo bleibt die
Gebrochenheit der menschlichen Existenz? Der Mensch ist
Geschöpf Gottes, aber auch Sünder. Rechtfertigung des Sünders, des Gottlosen.
Wir sollen Menschen und nicht Gott sein! Kritik ist vor allem
an den egoistischen Selbstermächtigungstendenzen in der modernen Esoterik angebracht. Der teure Traum vom okkulten
Übermenschen: Für viele ist er nicht ausgeträumt.
159
160
DER BRAUNE GEIST DER WALDORFPÄDAGOGIK
Peter Bierl
In der Öffentlichkeit ist Anthroposophie durch biologisch-dynamische
Lebensmittel von Demeter oder Kosmetika von Weleda, Wala und
Hauschka bekannt. Die Waldorfschule wird in der grün orientierten
akademischen Mittel- und Oberschicht als Alternative zur öffentlichen
Schule geschätzt, weil es viel Zeit für musische Fächer und weniger
Stress gibt.337 Anthroposophen werben damit, dass Schauspieler,
Künstler, Wirtschaftsführer und Politiker, oder deren Kinder, Waldorfschulen besucht haben. Darunter finden sich die Sprösslinge von Silvio
Berlusconi, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher oder von Monika
Hohlmeier, Strauß-Tochter und ehemalige bayerische Kultusministerin.
Nicht erwähnt werden in der Regel Ulrike Meinhof oder Sigmund Rascher, der als Arzt im KZ Dachau grausame Menschenversuche veranstaltete.
Die Anthroposophie ist eine Subkultur mit Unternehmen, einer Bank
(GLS), Altenheimen, Einrichtungen für Behinderte, Kindergärten,
Schulen und Hochschulen. Auch im politischen Bereich sind Anthroposophen aktiv: Sie waren ein Gründungszweig der Grünen, sind aktiv
in der Umweltbewegung, kämpfen gegen Stuttgart 21 und für Volksentscheide und wollen die Bildung privatisieren. Die Debatte um ein
Grundeinkommen wird maßgeblich von dem Anthroposophen Götz
Werner, Gründer und Aufsichtsrat der Drogeriemarktkette DM, geprägt. Werner will einen staatlich subventionierten Niedriglohnsektor
etablieren, ausdrücklich Arbeitskosten und Steuern für das deutsche
Kapital senken, um die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu
steigern, aber dafür die Mehrwertsteuer auf fünfzig Prozent erhöhen,
um das Grundeinkommen zu finanzieren.338
337 Weltweit gibt es über tausend Waldorfschulen und fast dreimal so viele Kindergärten (Henning Kullak-Ublick,
Der gesellschaftliche Auftrag der Waldorfschulen, Erziehungskunst, Heft 5, 2014, S.5)
338 Götz W. Werner, Benediktus Hardorp, Bedingungsloses Grundeinkommen, Reihe Gesundheit aktiv,
Anthroposophische Heilkunst e.V., Heft 10, Bad Liebenzell 2006, S.5ff.
161
Weniger bekannt ist die Weltanschauung, die alle diese Projekte fundiert. Ihr Begründer Rudolf Steiner (1861-1925) predigte den Glauben
an Karma und Reinkarnation, Engel und Dämonen. Seine Anhänger
glauben, dass er ein Hellseher war, der mit höheren Mächten im Bunde
stand und Millionen Jahre in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken konnte.
Steiner verkündete, dass sich die Menschheit in sieben Wurzelrassen
entwickelt, wobei die Deutschen in der Gegenwart und in den kommenden rund 1500 Jahren die führende Rolle innehaben, weil sie „am
Geist schaffen“. Alle anderen Menschen diffamierte er als Angehörige
von dekadenten oder kindlich-naiven Rassen. Die Juden galten Steiner
als erstarrt und entwicklungsunfähig, weil sie Jesus Christus nicht als
Messias akzeptieren. An dieser Geschichtsauffassung halten Anthroposophen bis heute fest, auch wenn sie von Kulturen und Kulturepochen
sprechen und den Begriff Rasse vermeiden.339
Wie Steiners Lehre immer noch auf aktuelle Ereignisse angewandt
wird, zeigen zwei Beiträge in der Zeitschrift Goetheanum, gewissermaßen
dem Zentralorgan der Anthroposophischen Bewegung. Unmittelbar
nach dem Erdbeben, dem Tsunami, und der Atomkatastrophe von Fukushima schrieb ein Autor, es handele sich um „dreifache ahrimanische
Kräfte“, also Dämonen, denen die Menschen ausgesetzt würden. Er
wertete die Katastrophe als Folge des „Gesamt-Menschheits-Karma“. Die
Opfer seien „über die Schwelle zur geistigen Welt gegangen“. Für sie gelte, was
Steiner über Menschen sagte, die durch Naturkatastrophen umgekommen sind, dass „dadurch die Erinnerung an alles dasjenige gestärkt wird, was in
ihrem Karma enthalten ist“.
Die Opfer von Tsunami und GAU büßen, weil das Karmakonto der
Menschheit und insbesondere Japans nach anthroposophischer Buchhaltung rote Zahlen aufweist. „Japan ist das einzige Land, in dem Atomwaffen abgeworfen werden. Dasselbe Volk ist jetzt ‚ziviler‘ radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Das ist das Schicksal Japans. Die materialistische Einstellung des Landes
339 Es gibt keine menschlichen Rassen, selbst moderne Biologen und Genetiker lehnen den Rassenbegriff als falsch
ab. Diese Einteilung ist selbst schon rassistisch, ein ideologisches Konstrukt, das auf den europäischen Kolonialismus sowie Verfechter der Sklaverei zurückgeht. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Text darauf
verzichtet, sich jeweils sprachlich oder durch das Schriftbild vom Rassenbegriff zu distanzieren, wenn anthroposophische Texte zitiert oder wiedergegeben werden.
162
verursacht diese Situation. Was wir erleben, ist ein apokalyptisches Ereignis, das
zugleich ein Zeichen zur Verstärkung der Bewusstseinsseele bedeutet“, heißt es in
dem Artikel weiter.340
Japaner gelten in Steiners Anthroposophie als dekadente Mongolen, die
nicht kreativ und spirituell nicht entwicklungsfähig sind. Insbesondere
mangelt es ihnen an einer „Bewusstseinsseele“, die gemäß der Wurzelrassenlehre von den Mitteleuropäern entwickelt werden muss.
Der zweite Text greift diesen Aspekt auf und verbindet eine altbackene
Völker- und Rassenpsychologie mit Anthroposophie. Der Autor beschreibt einen japanischen Volkscharakter folgendermaßen: „Nach außen
scheu und zart wie die Reispflanze, nach innen unberechenbar feurig wie ein Vulkan.“ Eine Renaissance im europäischen Sinne habe es in Japan nicht
gegeben, darum könnten die Japaner nicht selbständig denken, sondern
nur den westlichen Materialismus kopieren.341
Die Autoren knüpfen direkt an Steiner an. In einem Vortrag 1920 in
Stuttgart hatte dieser Asiaten als „senil und greisenhaft“ bezeichnet, sie
könnten nicht selbständig denken.342 Zum Beweis erzählte er drei Jahre
später eine Anekdote über Japaner, die angeblich ohne englische Ingenieure mit einem Dampfer nur im Kreis fahren würden. „Die Japaner
werden daher alle europäischen Erfindungen ausbilden; aber selbst etwas ausdenken,
das werden die Japaner nicht“, behauptete Steiner.343
Beide Artikel vom März 2011 zeigen, wie akut der spezifische anthroposophische Rassismus bis heute ist. Etwas anderes ist von Menschen
kaum zu erwarten, die sich gegen Reflexion und Kritik abschotten,
wenn sie die Hellsehereien eines Gurus akzeptieren und als Geisteswissenschaft verehren.
Denn im Gegensatz zu mancher Selbstdarstellung ist Anthroposophie
340 Yuji Agematsu, Große Prüfung Japans. Die Schwarze Welle, Das Goetheanum, Heft 11/12, März 2011, S.1ff.
341 Daniel Moreau, Kontextualisierung: Gefährliche Gegensätze, Das Goetheanum, Heft 11/12, März 2011, S.3ff.
Eine Haltung findet sich gegenüber China (Gerd Weidenhausen, Das Reich als Abbild des Himmels, in: Die
Drei, Heft 6, 2005, S.6f., S.10; Johannes W. Schneider, China hat eine alte Kultur – hat es auch eine Zukunft, in:
Die Drei, Heft 6, 2005, S.44, S.49)
342 Rudolf Steiner, Gegensätze in der Menschheitsentwicklung, GA 197, S.164
343 Steiner, Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums, GA 349, S.59
163
keine Wissenschaft, sondern eine religiöse Weltanschauung, die der
Esoterik zuzurechnen ist. Ihre okkulten Ideen prägen die Waldorfpädagogik. Wenn Anthroposophen von Wissenschaft, Freiheit oder kindergerechter Pädagogik sprechen, ist das für Nicht-Eingeweihte irreführend, weil sie diesen Begriffen einen ganz anderen Inhalt zumessen.
Die okkult-esoterische Grundlage aller anthroposophischen Projekte
wird allzu selten unter die Lupe genommen. Im Folgenden werfen wir
deshalb einen Blick hinter die Fassade.
Inhalt und Selbstverständnis
Steiner definiert Anthroposophie als „Geheimwissenschaft“ oder okkulte Wissenschaft, „welche sich auf das in den Welterscheinungen für die gewöhnliche Erkenntnisart Unoffenbare, Geheime bezieht, eine Wissenschaft von dem
Geheimen, von dem offenbaren Geheimnis.“ 344 Anthroposophie sei „eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt“, eine „Geisteswissenschaft“.345 Der
Mann sprach von einem „Geisterland“, von Seelenwanderung und höheren geistigen Wesen. Ein „Geheimschüler“ kann durch Meditationsund Konzentrationsübungen in Kontakt mit „höheren Welten“ treten,
behauptete Steiner. Dabei müsse der Schüler von einem „Geheimlehrer“ angeleitet werden. Steiner forderte Demut, Unterwerfung und
Hingabe, nur so könne der Novize die ewigen Gesetze des Geisterlandes erfahren.346 Auf der siebten Stufe der Erleuchtung erlangt der Geheimschüler die Fähigkeit des Hellsehens („geistiges Schauen“). Er begegnet den beiden „Hütern der Schwelle“ - einer sieht wie ein Monster
aus und verkörpert die karmische Schuld, der andere ist eine Lichtgestalt und fordert den jungen Eingeweihten auf, an der Entwicklung der
Menschheit mitzuarbeiten.
Wissenschaft beruht aber nicht auf Hellsehererei und Meditation, sondern darauf, dass ihre Ergebnisse intersubjektiv nachprüfbar sind. Ent344 Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 1962, S.35
345 Steiner, Geheimwissenschaft, S.46
346 Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Dornach 1961, S.19, S.21, S.36
164
sprechende Vorschläge sind Steiner schon zu Lebzeiten gemacht worden, er hat sie stets abgelehnt.
Zu den Früchten von Steiners Geheimwissenschaft zählt die Vorstellung, dass in jedem Menschen ein göttlicher Funke steckt, der schuldhaft mit der Materie verstrickt ist. Der Ausgangspunkt der Anthroposophie ist nicht originell, sondern findet sich in vielen Varianten der
Esoterik und geht auf antike gnostische Vorstellungen zurück: Demnach ist der Mensch vom Göttlichen abgefallen, hat aber die Chance, in
der Auseinandersetzung mit der Materie die eigene göttliche Natur zu
begreifen und spirituell erleuchtet zu werden.
Diese Entwicklung findet nach Steiner auf sieben Planeten statt, die jeweils Reinkarnationen sind. Auf dem ersten Planeten, dem Saturn, inkarnieren die göttlichen Funken in Minerale, auf der Sonne, die als
zweiter Planet gilt, fahren sie in Pflanzen, auf dem Mond werden sie zu
Tieren und erst auf dem vierten Planeten, der Erde, verkörpern sie sich
in menschlicher Gestalt. Wer während der unzähligen Reinkarnationen
auf der Erde zu einem spirituell Erleuchteten, also einem Anthroposophen wird, der reinkarniert auf dem fünften Planeten, dem Jupiter, als
Engel. Wer sich dieser Erleuchtung verweigert, kehrt als Tiermensch
wieder.
Eine zentrale Komponente der Anthroposophie ist die Lehre von Karma und Reinkarnation, die westliche Esoteriker im 19. Jahrhundert aus
dem Hinduismus und Buddhismus importierten. Karma meint ein universelles Gesetz, wonach das Leben jedes Menschen von seinen Handlungen in früheren Leben geprägt ist, ebenso wie die Taten in diesem
Leben künftige Wiederverkörperungen beeinflussen.
Steiner behauptete, die seelischen Anlagen, das körperliche Aussehen
und Befinden, das Geschlecht und die soziale Position eines Menschen
sowie sein Lebensweg seien durch das Karma bestimmt. Er sprach von
einem „Karmakonto“.347 Wer eine Lungenentzündung bekommt, hat
im früheren Leben ausschweifend gelebt und müsse jetzt gegen Luzifer
347 Steiner, Vorträge 1907, GA 100, S.90
165
kämpfen, lehrte Steiner.348 Menschen mit „schwachem Ich-Gefühl“
würden sich bei der nächsten Inkarnation Gegenden aussuchen, in denen Cholera auftritt, um ihr Selbstgefühl an „derbsten Widerständen“
zu kräftigen. Dagegen würden Menschen mit starkem Selbstgefühl in
der kommenden Erdenrunde Regionen bevorzugen, in denen die Malaria grassiert.349
Nach anthroposophischer Lehre ist der Mensch durch sein Karma sowie den kosmisch vorgegebenen Lauf der Welt vollständig determiniert. Seine Freiheit, ein zentraler Begriff der Anthroposophie, der sich
in vielen Namensgebungen ausdrückt (Freie Waldorfschule), beschränkt sich darauf, diese Zusammenhänge und seine göttliche Natur
zu begreifen, sein Karma zu erkennen und daran zu arbeiten, um als
höheres Wesen zu inkarnieren und an der Überwindung der Materie
durch den Geist mitzuwirken. Dabei wird der Mensch einerseits von
Dämonen, von Ahriman und Luzifer, in Versuchung geführt, andererseits von guten Geistern, Götterboten, Engeln und spirituellen Führern
geleitet.
Der einzige Mensch, der diese Zusammenhänge begriffen hat, ist nach
anthroposophischem Verständnis Steiner selbst. Seine Lehre gilt als der
einzige Weg zum Heil und zur Erlösung. Seine Anhänger, so lehrte
Steiner, seien eine auserwählte Schar, die unterstützt von den Engeln
und Erzengeln unter Führung Michaels gegen die Mächte der Finsternis kämpft und die spirituelle Entwicklung der Menschheit vorantreibt.
Dieses Selbstverständnis schmeichelt dem Ego der Gläubigen, zugleich
drückt sich darin schon der elitäre Charakter dieser Lehre aus.
Grundlagen der Waldorfpädagogik
Anthroposophie bestimmt die Konzeption der Waldorfschule. Sie wird
den Kindern und Jugendlichen aber nicht direkt gelehrt. Sie soll vom
Waldorflehrer wie eine Nahrung verdaut und in eine Kraft verwandelt
348 Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120, S.87
349 Steiner, GA 120, S.80f.
166
werden, die in den Unterricht einfließt.350
Dennoch können keine generalisierenden Aussagen über die Praxis in
den Schulen gemacht werden. Erstens hängt der Unterricht vom jeweiligen Lehrer ab, und die Atmosphäre an jeder Schule vom jeweiligen
Lehrerkollegium. Nicht alle Waldorflehrer sind Anthroposophen, vor
allem seit dieser Schultyp in Deutschland stark expandiert. Die SteinerSchulen nehmen auch Pädagogen von staatlichen Universitäten oder
Menschen mit ganz anderen beruflichen Erfahrungen. Sie bekommen
in Seminaren das Nötigste an Ideologie und Methode vermittelt. Zweitens gibt es bisher keine unabhängige empirische Studie über den Waldorfunterricht und seine Wirkung. Es gibt lediglich eine Unzahl von
positiven Selbstdarstellungen von anthroposophischer Seite.
Die gern zitierte Studie von Heiner Barz und Dirk Randoll (2007)
schließt diese Forschungslücke nicht, weil sie sich auf das Bildungsniveau und den Lebensweg ehemaliger Waldorfschüler konzentriert.
Herausgekommen ist bei der Befragung von über 1100 früheren Schülern, dass die meisten mangelnde Kenntnisse in Fremdsprachen, Naturwissenschaften und Rechtschreibung beklagen. Das anthroposophische
Weltbild scheint bei vielen abgeperlt zu sein.351 Zweifelhaft ist, ob man
diese Studie als unabhängig bezeichnen kann. Randoll ist Professor an
der anthroposophischen Alanus-Hochschule, im wissenschaftlichen
Beirat saßen führende Vertreter der Waldorfbewegung.352
Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht deshalb nicht die
Praxis, sondern die Konzeption der Waldorfpädagogik. Ich stütze mich
dabei auf Waldorfliteratur, insbesondere die Zeitschrift Erziehungskunst,
die vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegeben wird und angeblich in einer Auflage von 70.000 Exemplaren erscheint. Zur Illustration zitiere ich aus kritischen Arbeiten von ehemaligen Schülern, Eltern
und Lehrern. Sie schildern ihre Erfahrungen, die man als Einzelfälle
deuten kann, die aber auch Folgen eines bestimmten pädagogischen
Konzepts sind.
350 Dieter Centmayer, Waldorfschule ohne Steiner? Erziehungskunst, Nr.10, 2007, S.1142f.
351 Heiner Barz, Dirk Randoll, Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und
Lebensgestaltung, Wiesbaden 2007
352 Barz, Randoll, 2007, S.21
167
So beschreibt die ehemalige Waldorfschülerin Charlotte Rudolph, wie
ihr im Sozialkundeunterricht die Marxsche Theorie auf der Grundlage
der Karmalehre erklärt wurde. Demnach hat Karl Marx im frühen Mittelalter als Adeliger und Raubritter in Nordfrankreich gelebt.353 Als er
einmal von einem Kriegszug heimkehrte, hatte ein anderer seine Burg
besetzt. Der Usurpator war stärker, er hatte mehr Krieger um sich, deshalb unterwarf sich Marx und diente fortan „wie ein Leibeigener“ auf
seinem früheren Besitz.
Marx hasste den neuen Herrn und entwickelte eine „dem Herrschaftsprinzip abträgliche Gesinnung“. Aber die Expropriation des Expropriateurs blieb ein Wunschtraum. Die Geschichte hatte karmische Folgen:
Im neunzehnten Jahrhundert erschien der, der seine Burg verloren hatte und zu einem Diener degradiert worden war, als Karl Marx wieder,
und der andere, der ihm die Burg abgenommen hatte, als sein Freund
Friedrich Engels.
Bekanntlich arbeitete Engels in der Fabrik seines Vaters in Manchester.
Er klagte über den „hündischen Kommerz“, dem er ausgeliefert sei,
trug damit aber zum Unterhalt der Familie Marx in London bei, so dass
Marx am „Kapital“ arbeiten konnte. Nach anthroposophischer Ansicht
haben beide damit ihr Soll und Haben auf dem Karmakonto ausgeglichen.
Diese Phantasie-Story, die Rudolph als echt vorgestellt bekam, stammt
von Steiner selbst. Es gibt selbstverständlich keine Quellen, auf die sich
solcher Nonsens stützen könnte.
Es gibt eine Reihe von Märchen, Fabeln und Sagen, mit denen Waldorfpädagogen ihre religiöse Sicht in Schulen und Kindergärten vermitteln, etwa die Fabel von der Maus, die von der Katze gefressen werden
muss, um zum Mäusegeist in den Himmel zu kommen und wiedergeboren zu werden.354
Die Geschichten von Marx und den Mäusen illustrieren, wie Anthroposophie in die Waldorfpädagogik einfließen kann. Die Lehre von Kar353 Charlotte Rudolph, Waldorf-Erziehung – Wege zur Versteinerung, vierte Auflage, Darmstadt 1988, S.187
Steiner, Esoterische Betrachtung karmischer Zusammenhänge, Band 2, GA 236, S.20ff.
354 Irene Johanson, Ihr dürft auf eurer Wanderung den unsterblichen Wald erleben, Stuttgart 1986
168
ma und Reinkarnation wird mit solchen Geschichten subtil vermittelt.
Die Methode ist zugleich hinterhältig und manipulativ, wenn die Doktrin, die dahinter steht, nicht als solche nachvollziehbar und zur Diskussion gestellt wird.
Zugleich gilt diese Lehre als „Grundlage allen wahrhaften Erziehens“,
wie Stefan Leber (1997), ein führender Funktionär der Waldorfbewegung, erklärte.355 Waldorfpädagogik geht aus einem „durch geisteswissenschaftliche Forschung gewonnenen Menschenbild hervor, für das Reinkarnation und
Karma geistige Erfahrungstatsachen sind, nicht aber Glaubensartikel oder Resultate visionsartiger Schauungen“, schrieb Valentin Wember (2004). Darum sei
„die gesamte Waldorfpädagogik in ihrem Kern auf einem Menschenbild (aufgebaut), für das Karma und Reinkarnation zentrale Tatsachen sind“.356
Über frühere Erdenleben anderer zu spekulieren gilt unter Anthroposophen als taktlos und als Eindringen in die Privatsphäre, ist gleichwohl
sehr beliebt und für Waldorflehrer gibt es eine Ausnahme. Ihnen ist
„behutsames Spekulieren“ erlaubt.357 Ansatzpunkt ist der Glaube, dass
der Körper eines Kindes von Kräften geformt werde, die auf frühere
Erdenleben zurückgehen. Wer in einem früheren Leben gelogen habe,
dessen Leib sei in der nächsten Verkörperung davon geprägt, die Individualität werde als geistig Behinderter wiedergeboren. „Jetzt kann der
Mensch die Wahrheit nicht mehr richtig erfassen, er wird schwachsinnig“, schreibt Wember.358 Dieser Zusammenhang sei „eine spirituelle Gesetzmäßigkeit, die der Geistesforscher Rudolf Steiner entdeckt hat“.359
Der Erzieher solle sich vorstellen, dass er derjenige war, der im früheren Leben belogen wurde. Er müsse dem behinderten Kind verzeihen und ihm die „Wahrheiten des geistigen Lebens“ beibringen. Ihrem
Selbstverständnis nach ist die Waldorfschule eine „Schicksalsgemein355 Stefan Leber, Reinkarnation und Karma – Grundlage allen wahrhaften Erziehens, in: Heinz Zimmermann,
Hrsg., Reinkarnation und Karma in der Erziehung, Dornach 1998, S.9. In einem Nachruf über Leber, der im
Februar 2015 starb, heißt es, „er prägte die Waldorfschulbewegung zwischen den 1970er Jahren bis über die
Jahrtausendschwelle wie kein Zweiter“ (http://www.erziehungskunst.de/nachrichten/inland/stefan-lebergestorben/ , Abfrage 5.6.2015).
356 Valentin Wember, Reinkarnation und Pädagogik, Erziehungskunst 2004, S.402ff.
357 Wember, S.407
358 Wember, S.407
359 Wember, S.407
169
schaft“, weil das Karma jeden Lehrer oder Schüler in eine bestimmte
Einrichtung gebracht hat.360 Der Erzieher arbeitet auch karmische
Schuld von Kindern ab.361
Nach antiker Vorstellung entsprachen den vier Elementen Erde, Feuer,
Luft und Wasser vier Temperamente des menschlichen Wesens. Anthroposophen glauben, jedes Individuum würde von einem Temperament dominiert. Der Choleriker ist demnach feurig und willensstark,
der Sanguiniker lebhaft, zutraulich und unruhig, der Melancholiker
scheu und schwermütig, ein kleiner Egoist und Eigenbrötler, der Phlegmatiker behäbig, träumt mit offenem Mund und zieht möglichst bald
das Pausenbrot aus dem Schulranzen. Jedes Temperament gilt als spezifische Form des Egozentrischen, der Mensch müsse lernen, sein Temperament zu beherrschen, statt von ihm unterdrückt zu werden.362
Der Klassenlehrer bestimmt das Temperament eines Kindes und verfügt danach die Sitzordnung: links vor ihm sitzen die Phlegmatiker,
dann die Melancholiker und die Sanguiniker und rechts die Choleriker.
Kinder des gleichen Temperaments werden zusammengesetzt, damit
sie sich „spiegeln“ und die Temperamente gleichsam abschleifen. Die
gleiche Funktion hat die Regel, Phlegmatiker-Choleriker sowie Melancholiker-Sanguiniker „polarisch“ gegenüber zu setzen.
Für jedes Temperament gibt es spezielle Erzähl- und Darstellungsweisen, bestimmte Übungen. Sogar die vier Grundrechenarten gelten als
temperamentspezifisch: Addieren sei dem Phlegmatischen verwandt,
Subtrahieren dem Melancholischen. Steiner riet, der Lehrer solle sich
Cholerikern gegenüber nie eine Blöße geben und vor Phlegmatikern ab
360 Johannes Kiersch spricht davon, dass sich Studenten der Waldorfpädagogik „in der geistigen Welt vor der
Geburt verabredet haben“ und ihre Ausbildung als „karmische Gruppe“ absolvieren (Kiersch, „Wir leben in
einer Phase der Umstülpung“, in: Novalis, Nr.11/1998, S.44).
361 Erich Gabert, Die Strafe in der Selbsterziehung und in der Erziehung des Kindes, 9. Auflage, Stuttgart 1985,
S.117
362 Caroline von Heydebrand, Die Temperamente und ihre Behandlung, Erziehungskunst, Heft 4, 1948, S.255ff.;
Heft 5, 1948, S.316ff.; Hildegart Gebert, Begabung, Auslese und soziale Gemeinschaft, Erziehungskunst, Heft 3,
1948, S.199; Adolf Baumann, Wörterbuch der Anthroposophie, Bern 1986, S.201; Norbert Glas, Das Antlitz
offenbart den Menschen, Band 2, Die Temperamente, vierte Auflage, Stuttgart 1990; Martina Kayser, PaulAlbert Wagemann, Wie frei ist die Waldorfschule. Geschichte und Praxis einer pädagogischen Utopie, München
1996, S.18ff.; Wember, 2004, S.405; Bernd Kalwitz, Das großköpfige und das kleinköpfige Kind,
Erziehungskunst, Heft 1, 2005, S.39ff.; Helmut Eller, Die vier Temperamente. Anregungen für die Pädagogik,
dritte Auflage, Stuttgart 2007
170
und zu kräftig mit dem Schlüsselbund auf das Pult hauen, damit sie
aufwachen. Ein weiterer Tipp lautete: „Melancholiker behandeln mit Biographien großer Persönlichkeiten.“ 363 Caroline von Heydebrand (1896-1938),
eine Pionierin der Waldorfschule, rät, das melancholische Kind nie kalt
abzuwaschen, ihm Salat und leichtes Gemüse zu geben, der Choleriker
solle Holz hacken, Nägel einschlagen und Steine schleppen und einem
Phlegmatiker dürfe man morgens nicht erlauben, „sich aus reiner Genusssucht noch lange in den warmen Federn halb schlafend und dösend zu räkeln“. Der
Sanguiniker brauche Abwechslung.364
Welches Temperament einen Menschen prägt, ist karmisch bestimmt.
Steiner behauptete, der Melancholiker war im vorigen Leben allein,
während der Choleriker viel erlebt hat. Wer ein angenehmes und oberflächliches Leben führt, wird beim nächsten Erdenaufenthalt Phlegmatiker oder Sanguiniker.365
Weil Waldorflehrer im Regelfall keine großen Eingeweihten sind und
nicht Hellsehen können, wird auf Phrenologie und Physiognomik zurückgegriffen, um Charakter und Reinkarnationen von Kindern zu bestimmen. Die Schädel- und Gesichtsdeutung entstand Ende des 18.
Jahrhunderts als Mittel der neuen Wissenschaft Anthropologie. Sie verband empirische Methoden mit subjektiven ästhetischen Kriterien, die
aus Schönheitsidealen des antiken Griechenland abgeleitet wurden, zu
scheinbar objektiven wissenschaftlichen Urteilen über Charakter und
Wesen eines Menschen. Die Absicht war, Menschen in verschiedene
Rassen sowie höher- und minderwertige Wesen einzuteilen. Die Nationalsozialisten griffen auf diese Technik gerne zurück.
Um 1900 war die Phrenologie enorm populär. Ihre Anhänger glaubten,
genetische Wertigkeit, rassische Zugehörigkeit, Charakter und Eigenschaften eines Menschen nach dessen Äußerem bestimmen zu können.
Der Gerichtsmediziner Cesare Lombroso behauptete, eine bestimmte
Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen würden auf ei363 Gabert, Verzeichnis der Äusserungen Rudolf Steiners über den Geschichts-Unterricht, Stuttgart 1969, Auflage
1989, S.51
364 Heydebrand, 1948, S.255ff., S.316ff.
365 Ernst-Michael Kranich, Menschenerkenntnis unter dem Gesichtspunkt von Reinkarnation, in: Zimmermann,
1998, S.45f.
171
nen Gewalttäter schließen lassen. Steiner griff diese Lehre auf und sagte einmal über einen Waldorfschüler, man könne an ihm eine „ausgesprochene Anlage zum Verbrechertypus“ ausmachen, der Junge könne
Schriftfälscher werden.366
Phrenologie und Physiognomik sind längst widerlegt, was Anthroposophen nicht stört. Sie glauben, Choleriker hätten einen kurzen Hals
und kurze Beine, Sanguiniker seien zart und wohlproportioniert, Melancholiker hoch gewachsen, schmal, hager und mit vorgebeugter Körperhaltung, Phlegmatiker rund und wohlgenährt.367 Der Kopf eines
Kindes gilt als „Offenbarung von Ich und Seele“, in dessen Form sich
dessen „inneres Wesen aus dem vergangenen Erdenleben“ ausdrücke.368
Der anthroposophische Klassiker zu Phrenologie und Physiognomik
war der Arzt Norbert Glas (1897-1986), der beschrieb, wie das Gesicht
die Temperamente, die Füße den Willen, die Ohren den Charakter und
die Hände den ganzen Menschen enthüllen. Musiker, Maler und Priester haben laut Glas große Nasen, Feldherren, Boxer und geschickte
Metzger eine ausgeprägte Mund-Kinn-Partie.369 Sein achtbändiges
Werk über Physiognomik wurde von 1961 bis 1994 mehrfach aufgelegt.
Wieviele Waldorfpädagogen seine abstrusen Schemata benutzt haben,
um Kinder zu sortieren, ist nicht bekannt.
Eine weitere Komponente sind die sieben bzw. neun Wesensglieder, aus
denen nach anthroposophischer Lehre der Mensch besteht und die sich
im Rhythmus von sieben Jahren entfalten. Geboren wird nur der physische Leib, mit dem siebten Lebensjahr kommt der Ätherleib hinzu, ein
feinstoffliches Gebilde, das etwa für die Temperamente zuständig ist.
Zum 14. Lebensjahr bringt ein Astralleib das Bewusstsein und erst mit
dem 21. Lebensjahr entwickelt sich das Ich. Erst damit hat sich der
göttliche Funke komplett reinkarniert. Das Ich wiederum splittet sich
in eine Empfindungs-, eine Verstandes- und eine Bewusstseinsseele.
366 Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919-1924, Band 1, GA 300/1, S.151
367 Heydebrand, 1948, S.255ff., S.316ff., Gebert, 1948, S.199, Glas, 1990, Baumann, 1986, S.201; Kayser,
Wagemann, 1996, S.18ff.; Wember, 2004, S.405
368 Kranich, 1996, S.30, S.41
369 Glas, Das Antlitz offenbart den Menschen, Bd.1, sechste Auflage, Stuttgart 1992, S.18f., S.32ff.
172
Dazu gibt es ein Geistselbst, einen Lebensgeist und einen Geistesmensch, das sind Wesensglieder, die in grauer Vorzeit, als die Menschen
noch Kontakt zu höheren Wesen hatten, automatisch entstanden. Heute bilden sich diese Wesensglieder nur durch spirituelle Betätigung aus
und werden in der sechsten und siebten Kulturepoche wieder bei allen
Menschen anzutreffen sein.370
Die Ausprägung einzelner Seelenglieder ist die Mission bestimmter
Völker oder Unterrassen. Die Ägypter entwickeln die Empfindungs-,
die Griechen und Römer die Verstandes- und die Germanen/Deutschen die Bewusstseinsseele.371 Jedes Individuum muss diese Entwicklung wiederholen. Diese Idee geht auf den Zoologen Ernst Haeckel
zurück, der behauptete, dass jedes Lebewesen in seiner Entwicklung
(Ontogenese) vom frühesten Embryonalstadium an die Stammesgeschichte der Arten (Phylogenese) wiederhole. In der strikten Haeckelschen Version gilt diese „biogenetische Grundregel“ heute als überholt.
Steiner übernahm dessen Auffassung und führte sie in die Waldorfpädagogik ein. Demnach wiederholt ein Kind bis zum siebten Lebensjahr die Mineral-Stufe auf dem Saturn und ist ein ausschließlich nachahmendes Wesen. Zwar machen kleine Kinder vieles nach, was Erwachsene tun, sie haben aber sehr wohl einen eigenen Willen, eigene
Wünsche und Vorstellungen, was jedoch in der Waldorfpädagogik als
Symptom für eine fehlerhafte Entwicklung gilt. Ein Kind, das einen eigenen Willen zeige, in dem es Nutella zum Frühstück verlange, wird in
der Zeitschrift Erziehungskunst (2007) als Wesen mit verführtem Ego
geschmäht. Zwischen dem siebten und 14. Lebensjahr, auf der Pflanzenstufe, sollen Kinder ihren Lehrer als selbstverständliche Autorität
akzeptieren, der die Temperamente ausgleicht. Kritisches Denken in
diesem Lebensabschnitt bezeichnete Steiner als „Gift für die Seele“.
Erst zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr, auf der Tierstufe, dürfen
Jugendliche denken, aber mit Herz und Gemüt. Denn Intellektualismus
lehnte Steiner als „entartet“ ab. Als richtige Menschen gelten Jugendliche erst mit 21 Jahren. Dann dürfen sie selbständig sein, eine Individualität entwickeln und an Sex denken, ginge es nach Steiner.
370 Baumann, 1986, S.274ff.
371 Steiner, Theosophie, GA 9; Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13, Geisteswissenschaftliche
Menschenkunde, GA 107; Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie, GA 137
173
Neben der sichtbaren gibt es laut Steiner eine unsichtbare Welt, erfüllt
von unsichtbaren Wesen. Über dem Menschen stünden Engel und Erzengel, Volks- und Rassengeister und Dämonen wie Ahriman und Luzifer. Dazu gibt es Elementarwesen, unsichtbare Naturgeister, die uns
überall umgeben.372 Es gibt Wasserwesen, Feuerwesen, Luftwesen,
Gnome, mittelgroße Elementarwesen als „fleißige Arbeiter“ und Faune
als leitende Ober-Elementarwesen, die jeden Baum umschwirren. Noch
weiter oben in der Hierarchie sitzen regionale Baumwesen und über allen thront Pan, der König der Naturwesen, heißt es in Erziehungskunst
im April 2011 in einem Heft, dessen Schwerpunkt den Elementarwesen
gewidmet ist. Auch in Wohnungen sitzen demnach Elementarwesen
wie Zwerge, als Leitung aller Geister einer Wohnung fungiert ein Wohnungswesen.373
Laut Steiner handelt es sich um „verzauberte Wesen“, die in die Natur
gebannt sind, weil sie sich für den Menschen und den Fortgang der
Evolution opfern. Ein Mensch, der achtsam gegenüber der Natur sei,
würde von den Elementarwesen wahrgenommen und belebt, behauptete er. Wenn ein Mensch die Außenwelt geistig betrachte und verarbeite, nicht intellektuell und materialistisch, wenn er fleißig und zufrieden
sei, helfe er die Elementarwesen zu erlösen. Unter diesem Aspekt seien
in der Pädagogik die Hausaufgaben, aber auch Fleiß und Strebsamkeit,
Pflicht und Engagement zu sehen, heißt es in der zitierten Ausgabe der
Erziehungskunst. Wenn in Waldorfkindergärten und Schulen gebastelt,
gefilzt und gemalt wird, geht es also keineswegs bloß um Kreativität
und handwerkliches Geschick, sondern auch darum, die Stimmung der
Elementarwesen zu treffen, damit sie sich wohlfühlen und erlöst werden.374
Wenn es in Selbstdarstellungen heißt, die Waldorfpädagogik sei „kindgerecht“ und individuell, so bezieht sich das auf solche okkult-religiösen Schablonen, in die Kinder sortiert werden: Welches Karma haben
sie, welche Reinkarnation haben sie durchlebt, welches Temperament
dominiert? Der Glaube an Karma und Reinkarnation, Temperamente
372 Baumann, 1986, S.63f.
373 Thomas Mayer, Ohne Elementarwesen läuft nichts, Erziehungskunst, April 2011, S.14ff.
374 Michael Birnthaler, Elementarwesen brauchen Menschen, Erziehungskunst, April 2011, S.5ff.
174
und Phrenologie, Zahlenmagie und Geisterglaube ergibt die anthroposophische „Menschenkunde“, auf der die gesamte Waldorfpädagogik
basiert.
Diese Menschenkunde „bietet die Gewähr, daß ein einheitliches Element die verschiedenen Lehrerpersönlichkeiten verbindet und zu einer
verantwortungsvollen Führung der Schule vereinigt.“ Sie gilt als Erkenntnis und „moralische Gesinnung“ und für Lehrer als ein „Mittel
der Selbsterziehung“, ihr sind alle Waldorfschulen verpflichtet. Die
„Treue zur erkannten Wahrheit verbindet die Lehrerkonferenz zur
Schicksals- und Lebensgemeinschaft“, erklärte Heinz Zimmermann
(1989), Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum. Der Lehrer
soll in diesem Sinn „Repräsentant des freien Geisteslebens“ sein, also
idealerweise Anthroposoph.375 Die Waldorfschule wird ausdrücklich als
„Weltanschauungsschule“ verstanden, die ohne den Bezug auf die Anthroposophie verwässern würde.376
Die Wurzelrassen und die Mission der Deutschen
In den Niederlanden protestierte 1994 eine Frau, weil ihr Kind in der
Waldorfschule von Zutphen lernte, „Neger haben dicke Lippen und
viel Gefühl für Rhythmik“ und „das immerwährende Lächeln des gelben Menschen verbirgt seine Emotionen“. In einem Schulheft aus dem
Fach „Rassenkunde“, das es damals noch an niederländischen Waldorfschulen gab, fand sie eine Einteilung der Menschheit, wonach eine
schwarze Rasse kindlich, eine gelbe Rasse heranwachsend, eine weiße
Rasse erwachsen und eine rote Rasse veraltert und vergreist sei. Der
Mutter wurde von der Waldorfschule vorgeworfen, sie habe Steiner
nicht richtig verstanden. Eine Reaktion, die wir aus den Debatten hierzulande kennen. Die Frau ließ sich nicht beirren und nicht einschüchtern und informierte die Presse.
375 Zimmermann, Individuelle Selbsterziehung kollegialer Schulführung, in: Anthroposophische Pädagogik, Dritte
Welt-Lehrertagung am Goetheanum, Ostern 1989, Beilage Das Goetheanum, Nr.11, März 1989, S.6f.
376 Centmayer, 2007, S.1142; Richard Landl, Waldorfschule – ein Entwicklungsprozess über 12 Jahre?, in:
Erziehungskunst, Heft 10, 2007, S.1102; Sebastian Gronbach, Warum Spiritualität jetzt eine Chance hat.
Waldorfschulen sind mehr als Reform-Schulen, in: Info 3, Infoseiten Anthroposophie, Herbst 2007, S.5
175
Das ARD-Magazin Report berichtete im Sommer 2000 über das Buch
„Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst“ von Ernst Uehli (1875-1959),
einem Waldorflehrer und engen Mitarbeiter Steiners. Uehli schrieb darin: „Der Keim zum Genie ist der arischen Rasse bereits in ihre atlantische Wiege gelegt worden.“ Dagegen sei „der heutige Neger“ kindlich
und ein „nachahmendes Wesen geblieben“, während der „heutige aussterbende Indianer“ im Denken „greisenhaft“ sei.377 Das Buch wurde
1936 publiziert und war in der unveränderten Neuauflage von 1980 in
der Broschüre „Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers in
einer Freien Waldorfschule“ enthalten, die die Pädagogische Forschungsstelle des Bundes der Freien Waldorfschulen 1998 veröffentlicht hatte. Dieses Heft enthält eine Übersicht über die Literatur, „die bei
der Vorbereitung der Hauptunterrichtsepochen der Klassen 1-8 herangezogen werden kann“.378
Die Literaturliste enthält fast ausschließlich anthroposophische Werke,
keine seriösen Fachbücher etwa zu Sprachen, Mathematik oder Geschichte. In Dutzenden von Büchern finden sich nationalistische, rassistische und antisemitische Stereotypen: Der Italiener sei heiter und
impulsiv und lüge aus Höflichkeit, der Brite wäre kühl und materialistisch.379 Der Araber sei hart, leidenschaftlich, kalt und berechnend.380
Der Islam gilt als extremistisch und verbreite sich deshalb bevorzugt in
„ausgedörrten Wüstenregionen“.381 Der Asiate sei dekadent, ein cholerischer Mongole oder ein phlegmatischer Malaie.382 Der Japaner lächle
immer und unergründlich, dahinter verberge sich mitleidlose Härte. Er
lebt angeblich in leichten Holzhäusern mit Strohdächern, heißt es in einem Buch aus dem Jahr 1960, was bereits damals ziemlicher Quatsch
gewesen ist.383
377 Ernst Uehli, Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst, zweite Auflage, Stuttgart 1956, S.60
378 Ursula Kilthau, Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers an einer Freien Waldorfschule,
herausgegeben von der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart, 1998,
S.5
379 Herbert Hahn, Vom Genius Europas, Wesensbilder von zwölf europäischen Völkern, Ländern, Sprachen.
Skizze einer anthroposophischen Völkerpsychologie, Band 1, Stuttgart 1963, S.64, S.411
380 Hans Rudolf Niederhäuser, Fremde Länder, fremde Völker, Stuttgart 1960, S.166
381 Christoph Göpfert, Landschaften und Menschen in anderen Erdteilen: Asien. Geographie in der siebten Klasse,
in: Helmut Neuffer, Hrsg., Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule. Ein Kompendium,
Stuttgart 1997, S.712
382 Göpfert, 1997, S.715
383 Niederhäuser, 1960, S.113, S.121
176
Solche Skandale werden von Anthroposophen als Einzelfälle abgetan.
Sie sind aber keine Zufälle, so wenig wie das Coming out von Holocaustleugnern wie Bernhard Schaub (1993) oder Nazifunktionären wie
Andreas Molau (2004) unter den Waldorflehrern. Sie sind vielmehr die
Spitze des Eisberges, das Ergebnis einer Doktrin, die Steiner verkündet
hat.
Als Kind und später als Student in Wien bewegte sich Steiner in einem
nationalistisch-antisemitischen Milieu, arbeitete für eine deutsch-nationale Zeitschrift und verfasste antisemitische und nationalistische Texte.
Er war überzeugt von einer besonderen Mission der Deutschen und
ihrer kulturellen Überlegenheit gegenüber den Slawen. Er war Anhänger der deutschen idealistischen Philosophie, insbesondere des Nationalisten und Antisemiten Johann Gottlieb Fichte, er verehrte Friedrich
Nietzsche, den Propagandisten des Herrenmenschentums, sowie den
Rassisten Ernst Haeckel. Allerdings lehnte Steiner damals Esoterik als
„Gehirnerweichung“ noch strikt ab.
Mit seiner Wende zur Esoterik um 1901 übernahm Steiner die Lehre
von den Wurzelrassen von Helena P. Blavatsky, der Begründerin der
Theosophie, und verbreitete diese als Ergebnis eigener Hellsichtigkeit.
Sie gab seinen rassistischen, antisemitischen und nationalistischen Einstellungen eine zwar verquere aber systematische Basis.
So behauptete Steiner, dass auf dem Planeten Erde nacheinander sieben Wurzelrassen mit je sieben Unterrassen auftreten. Viele dieser Rassen hätten in bestimmten Epochen bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Ist
ihre Mission erfüllt, würden ihre Nachkommen entwicklungsunfähig
und dekadent, wie etwa Franzosen und Italiener, weil das Zeitalter der
Romanen als vierter arischer Unterrasse nach seiner Berechnung 1415
endete. Nachfolger seien die Germanen bzw. die Deutschen als fünfte
arische Unterrasse. Ihre Aufgabe ist im Steinerschen Weltenplan, bis
3573 das göttliche Ich im Menschen zu entdecken und die Re-Spiritualisierung einzuleiten.
Anschließend würden die Deutschen von den Slawen abgelöst. Sergej
Prokofieff, 2001 bis 2013 einer von fünf Vorständen der internationalen Anthroposophischen Gesellschaft, hielt die Russen für prädesti177
niert, in der sechsten Kulturepoche die spirituelle Führung zu übernehmen, weil in ihren Adern dank der Normannen germanisches Blut
fließe.384 Dagegen gelten heutige Russen oder Polen als unreife Wesen,
die der Belehrung durch die kulturell höher stehenden Deutschen bedürfen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und im Kontext der
NATO-Osterweiterung behaupteten Anthroposophen, damit wollten
die USA das deutsche Mitteleuropa und Russland entzweien und verhindern, dass die Deutschen ihre Mission an den Slawen erfüllen.
Ein völkischer Antiamerikanismus drückt sich darin aus, dass die USA
geschmäht werden als Hort eines kindischen Materialismus, als Geistkontinent, den Ahriman beherrscht. Die USA werden als künstliche,
nicht organische Nation und Gründung von Freimaurern bezeichnet.
Damit bewegen sich Anthroposophen tief in einer völkischen Gedankenwelt, wonach ein richtiger Staat auf gemeinsamen Blutsbanden basieren muss.385 Das geht soweit, dass den USA vorgeworfen wird, durch
die beiden Weltkriege den Geist Mitteleuropas ausgeschaltet und dessen
Mission blockiert zu haben. Das ist die verschwurbelte esoterische Variante einer Rechtfertigung der Versuche Deutschlands, mit Gewalt und
Terror die Weltherrschaft zu erobern, die im rassistischen Eroberungsund Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus gipfelte.386
Die Japaner gelten wie Chinesen und Tibeter als Nachkommen der
mongolischen sechsten Unterrasse der vierten atlantischen Wurzelrasse.
Sie leisten keinen positiven Beitrag und gelten als dekadent und entwicklungsunfähig. Darauf spielen die eingangs zitierten Artikel über
Fukushima an.
Günther Wachsmuth, jahrelang Generalsekretär der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, der Zoologe Hermann Poppelbaum,
Vorsitzender der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft bis 1935,
384 Sergej Prokofieff, Die geistigen Quellen Osteuropas und die Mysterien des Heiligen Gral, zweite verbesserte
Auflage, Dornach 1995, S.39ff., S.327ff.
385 Lorenzo Ravagli, Gespaltenes Antlitz, in: Das Goetheanum, Nr.8, 2008, S.5; Ralf Sonnenberg, Von Winnern
und Losern, in: die Drei, Heft 8/9, 2006, S.5ff.; Gerd Weidenhausen, America: Jekyll & Hyde? Die
selbstvergessene Kritik am „Neuen Imperium“, in: die Drei, Heft 8/9, 2006, S.13ff.; Lorenzo Ravagli, Die
Gemeinschaft von Philadelphia. Amerikanische Mythen und Rudolf Steiners Amerika-Mythos, in: die Drei, Heft
8/9, 2006, S.63ff.; Ruth Ewertowski, Die amerikanische Zukunft. Spiritualität aus dem Materialismus, in: die
Drei, Heft 8/9, 2006, S.105ff.
386 Andreas Bracher, The West. Die USA und Europa im Konflikt der Identitäten, in: die Drei, Heft 8/9, 2006, S.12
178
später Vorstand der internationalen Organisation, sowie viele andere
Anthroposophen und Waldorfpädagogen haben diese Rassenkunde
übernommen und mit Liebe zum Detail ausgeschmückt. Wachsmuth
(1953) fertigte Zeichnungen über Atlantis und Lemuria, den Kontinent
der dritten Wurzelrasse, an. Poppelbaum (1929) verknüpfte Phrenologie
und Rassismus und bestimmte fünf „Hauptrassen“ und ihre Eigenschaften anhand der Gesichtszüge „typischer“ Vertreter.387
Der sagenhafte Kontinent Atlantis spielt eine zentrale Rolle. Obwohl es
sich um einen Mythos handelt und alle Lokalisierungsversuche gescheitert sind, glauben Anthroposophen an das Märchen von Steiner, dass
auf Atlantis über zehntausende von Jahren eine Hochkultur existierte.
Hinweise auf Atlantis finden sich immer wieder in der Waldorfschule.
Als dieser Kontinent in den Fluten versank, sei eine Gruppe von Überlebenden nach Osten bis zum Himalaya ausgewandert, behauptete Steiner. Von diesen Migranten soll die fünfte arische Wurzelrasse abstammen, die auf dem Weg zurück nach Westen sämtliche Hochkulturen
der alten Welt gründete. Der Ariermythos der Anthroposophen ähnelte
dem der Nationalsozialisten. Differenzen gab es, weil viele Völkische
das ebenso mystische Thule im Nordmeer als Heimat der Germanen
ansahen.
Es gibt jedoch auch einen ernsthaften und fundamentalen Unterschied
zwischen NS-Rassismus und anthroposophischem Rassismus. Das Ziel
der Nationalsozialisten ist, ideologisch und praktisch, die als minderwertig definierten Rassen zu versklaven und zu vernichten. Das erklärte
Ziel der Anthroposophie ist die Höherentwicklung des Geistes. Dazu
zählen auch jene „göttlichen Funken“, die als Angehörige von den als
minderwertig, dekadent oder erstarrt definierten Rassen reinkarnieren,
weil sie sich nicht spirituell weiterentwickelt haben. Insofern ist anthroposophischer Rassismus ideologisch karmische Entwicklungshilfe, faktisch Anmaßung und (kolonialistische) Bevormundung. Daraus erklären
sich die (sehr wenigen) Waldorf-Schulen in Reservaten der nordamerikanischen Ureinwohner, in Afrika oder die Plantage Sekem in Ägypten,
die von Anthroposophen gerne als Ausweis eines Antirassismus ver387 Hermann Poppelbaum, Zur Metamorphose der Menschengestalt, in: Gäa-Sophia, Jahrbuch der
naturwissenschaftlichen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Band III,
Völkerkunde, Dornach 1929
179
kauft werden.
Der anthroposophische Rassismus konserviert die kolonialistische Haltung seiner Entstehungszeit um 1900, als Europäer bis weit hinein in
die Sozialdemokratie behaupteten, die Aufteilung der Welt, ihre Beherrschung und Ausplünderung, geschehe nur zum Wohle der „Wilden“
und „Barbaren“, denen man die Segnungen der „Kulturvölker“ bringe.
Das sei die „Bürde des weißen Mannes“, lautete das Schlagwort damals.
Besonders diskriminierend ist in der Anthroposophie die Darstellung
von Schwarzen. Steiner kennzeichnet Schwarze im Stil des StammtischRassismus als triebgesteuerte, infantile Wesen, was er damit erklärte,
dass sie die Sonne Afrikas in sich aufnähmen und von innen gekocht
würden.388
Im Gegensatz dazu schrieb Steiner über die Weißen: „Die blonden Haare
geben eigentlich Gescheitheit. Geradeso wie sie wenig in das Auge hineinschicken, so
bleiben sie im Gehirn mit ihren Nahrungssäften, geben sie ihrem Gehirn die Gescheitheit.“ 389 Für Steiner stand jedenfalls fest: „Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse.“ 390
Die übelsten Tiraden gegen Schwarze hielt Steiner während der Ruhrbesetzung 1923, als sich die gesamte deutsche Rechte darüber echauffierte, dass Belgien und Frankreich Soldaten aus den Kolonien einsetzten. „Die Negerrasse gehört nicht zu Europa, und es ist natürlich nur ein Unfug,
daß sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt“, erklärte er.391 Steiner warnte
weiße Frauen, „Negerromane“ zu lesen, gemeint ist Literatur mit
schwarzen Protagonisten, denn dann würden diese Frauen Mischlinge
zur Welt bringen. Anthroposophen argwöhnten, dass der Jazz als „Negermusik“ das Blut der Deutschen vergiften würde.392
An solchen Wertungen hielten führende Anthroposophen nach Stei388 Steiner, GA 349, S.55; Steiner, Über Gesundheit und Krankheit, Grundlagen einer geisteswissenschaftlichen
Sinneslehre, Vorträge 1922/23, GA 348, S.186
389 Steiner, GA 348, S.101
390 Steiner, GA 349, S.52ff.
391 Steiner, GA 349, S.53
392 Friedrich Rittelmeyer, Christus, Stuttgart 1936, S.137f.; Michael Klußmann, Zum Rassismus-Streit, Teil II, in:
Das Goetheanum, 1996, S.356
180
ners Tod fest.393 Als sich die Vorwürfe des Rassismus nicht mehr ignorieren ließen, versuchte Stefan Leber 1997 diesen sinnstiftend zu veredeln. „Das ‚Triebleben‘ des Schwarzen mit seiner stoffwechselhaften, bewegungsfähigen Natur wird nur scheinbar abschätzig beurteilt; in Wirklichkeit erweist es
sich als Überlegenheit und Vorzug, nämlich als Schutz vor dem Fall in den Materialismus dem der Weiße leicht erliegt“, schrieb der Waldorffunktionär.394
Auch in Büchern, die in den Literaturempfehlungen für Klassenlehrer
von 1998 angegeben wurden, werden Schwarze als unreife Kinder beschrieben. „Sie sind noch nicht angekommen auf der Erde. Sie leben noch immer
in dem Kindheitszustand eines Volkes, das noch nicht zur vollen Erdenreife herangewachsen ist. Sie sind wie Kinder, die in seelischer Verwobenheit mit den Dingen
und Wesen ihrer Umgebung leben; in ihren Märchen handeln Bäume und Tiere
genauso wie Menschen“, schreibt Andreas Suchantke. Er stützt sich auf
phrenologische Vorstellungen: „Uns fiel sehr bald auf, wie wenig sich viele
schwarze Gesichter beim Heranwachsen verändern; als sei das Erwachsenwerden
nur ein stofflicher Vorgang der Größenzunahme und nicht so sehr ein seelisches Reifen. Die Gesichter der Erwachsenen sind so pausbäckig und weich wie die ihrer
Kinder und in gleicher Weise ein offener Spiegel unreflektierter, starker Gemüthaftigkeit. Dieses kindlich Ursprüngliche im Wesen des Afrikaners begegnet einem auf
Schritt und Tritt.“ 395 Das Buch wurde zur Unterrichtsvorbereitung für
Geographie in der siebten Klasse empfohlen.
Anthroposophen sind immun gegen Aufklärung. Sie sind überzeugt,
dass sich Menschen in Rassen sortieren lassen: „Daß es verschiedene
konstitutionelle Merkmale einerseits zwischen den Rassen gibt, andererseits dann aber auch innerhalb der einzelnen Rassen, lehrt die schlichte
Anschauung“, schrieb Leber in „Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik“ (1993), einem Standardwerk.396 Er verweist „auf die Leiblichkeit
und die darin eingebundenen seelischen Eigenschaften“ und meint, es gebe „vom
evolutiven Gesichtspunkt Merkmale, die einem früheren oder späteren Entwicklungsstadium angehören; in dieser Hinsicht gibt es dann auch eine Wertigkeit von
393 Günther Wachsmuth, Afrika als Organ der Erde, Kindheitsstadien der Menschheit, in: Gäa-Sophia, 1929, S.43
394 Leber, Anthroposophie und Waldorfpädagogik in den Kulturen der Welt, Stuttgart 1997, S.252
395 Andreas Suchantke, Sonnensavannen und Nebelwälder. Pflanzen, Tiere und Menschen in Ostafrika, Stuttgart
1972, S.23f., S.25
396 Leber, Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik. Anthropologische Grundlagen der Erziehung des Kindes
und Jugendlichen, Stuttgart 1993, S.312
181
höher oder niedriger, von fortgeschritten und zurückgeblieben.“ 397
Leber ließ keinen Zweifel, was mit „niedriger“ und „zurückgeblieben“
gemeint ist. So verteidigt er die Ansicht Steiners, die Indianer seien eine
„Rasse des Alters“, der „gedämpften Vitalität und kontemplativen Bewußtseinsanlage“.398
In einer Broschüre von Info 3, einer Zeitschrift, die innerhalb der Szene
als liberal und offen gilt, hieß es 2007 über die anthroposophische
Weltanschauung: „Grundlage ihres Weltverständnisses ist die Vorstellung einer
immerwährenden Höherentwicklung.“ Darum sei Anthroposophie nach Steiner eine „evolutionäre Spiritualität“, das bedeute, „dass es ein Vorne, eine Mitte und ein Hinten gibt, ein Oben und Unten, fortschrittliche und rückständige Zustände.“ Alle diese Zustände hätten ihren eigenen Wert: „Sie sind jeweils
Bedingung für den nächsten Zustand.“ Entwicklung bedeute nicht nur, „dass
die Menschheit vom Einfachen und Grundlegenden zum Speziellen und Bedeutsamen fortschreitet. Es bedeutet auch, dass viele der Entwicklungsstadien gleichzeitig
existieren können. Nicht die ganze Menschheit und alle Menschen entwickeln sich
im Gleichschritt.“ 399
Das ist eine Formulierung, die ohne den Begriff der „Rasse“ auskommt, aber das Gleiche impliziert und damit vertuscht, verdrängt und
verharmlost: Selbstverständlich bewegt sich die Menschheit nicht im
Gleichschritt, sondern jeder und jede ist ein gesellschaftliches, historisch und sozial geprägtes Wesen, gleichwohl unverwechselbares Individuum. Die Autoren von Info 3 hingegen meinen, man könne Menschen
in klar abgrenzbare Gruppen sortieren, die verschiedene Stufen der
Entwicklung, der Fähigkeiten und des Bewusstseins erreicht hätten. Die
göttlichen Funken aus dem Jenseits würden sich jeweils die passenden
Gefäße aussuchen: Fortgeschrittene Seelen inkarnieren in fortgeschrittenen, rückschrittliche Seelen in rückschrittlichen Rassen.
397 Leber, 1993, S.32
398 Leber, Anthroposophie und die Verschiedenheit des Menschengeschlechts in: Die Drei, Heft 3, März 1998,
S.36ff., S.40; Anm. des Hrsg.: Quelle siehe auch: Rudolf Steiner und die Waldorfschule in CONTRASTE Nr..231
Dez. 2003 http://kulturkritik.net/quellen/steiner_waldorfschule.html (abgerufen 13.01.2017)
399 Info 3 Verlag, Infoseiten Anthroposophie Herbst 2007, Warum es immer aufwärts geht, S.8ff.
182
Esoterik und Judenhass
Die Entwicklung Steiners lässt sich anhand der veröffentlichten Briefe,
Zeitungsartikel, Vorträge und Bücher gut nachvollziehen. So zeigt sich,
dass er sich in einer kurzen Phase zwischen etwa 1898 und 1901 gegen
Antisemitismus wandte. In einem entscheidenden Punkt blieb sich Steiner aber stets treu. Er war wie viele Liberale und Linke der Meinung,
dass die Juden sich assimilieren sollten, und das bedeutete, dass jede eigenständige jüdische Identität verschwinden müsse. Daraus resultierte
seine scharfe Abneigung gegen den Zionismus.
Als Student schrieb Steiner in der deutsch-nationalen Presse in Österreich, die Juden gehörten einem Volk an, „dessen Religion keine Freiheit des
Geistes kennt“ und das die deutsche Sprache mit jüdischen Wendungen
verhöhne.400 1888 rezensierte Steiner den Roman Homunculus des völkischen Schriftstellers Robert Hamerling (1830-1889). „Es ist gewiß nicht zu
leugnen, dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und
als solches in die Entwickelung unserer Zustände vielfach eingegriffen hat, und das
in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war.
Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein
Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier
nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des
Judentums, die jüdische Denkweise“, schrieb er.401
Unter dem Einfluss des jüdischen Dichters Ludwig Jacobowski engagierte sich Steiner kurze Zeit im Verein zur Abwehr des Antisemitismus, allerdings mit bedenklichen Argumenten. So behauptete er, die zionistische Bewegung sei schuld am Antisemitismus. Er bescheinigte nicht
den Antisemiten, sondern den Zionisten eine „überreizte Phantasie“
sowie ein „gekränktes Gemüt“, das ihnen „den Verstand umnebelt.“
Die Antisemiten seien ungefährlich „wie Kinder“ und „viel schlimmer“
seien „die herzlosen Führer der europaweiten Juden“ wie Theodor
Herzl. Nun kann man sagen, als Seher war Steiner eine Niete, entschei400 Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902, GA 32, S.119, Steiner, Gesammelte Aufsätze zur
Dramaturgie, GA 29, S.36
401 Steiner, Robert Hamerling - Homunkulus, GA 32, S.145f.
183
dend ist, dass er die Propaganda und Stärke der Antisemiten verharmloste.
Nachdem Steiner sich der Theosophie zugewandt hatte, sortierte er die
Juden in das Wurzelrassen-Schema ein. Demnach hätten die Juden zwei
Missionen zu erfüllen: Sie sollten den Monotheismus samt einem menschenähnlichen Ich-Gott erfinden und für die Reinkarnation des Sonnengeistes, gemeint ist Christus, die leibliche Hülle bereitstellen.402 Allerdings hätten die Juden den Monotheismus überspannt.403 Aus einer
angeblich besonders starken Blutsbindung der Juden schlussfolgerte
Steiner abstrakte Strenge und Unerbittlichkeit.404 Er leitete daraus allerlei Klischees ab: Monotheimus gleich geistige Erstarrung, die Juden lebten nach einem „unfruchtbaren Gesetz“, seien ausgedörrt und versteinert.405
Steiner nutzte christliche Motive des jüdischen Gottesmörders und
Gottesleugners und erklärte seinen Zuhörern, dass die Juden darum
rassisch nicht aufsteigen könnten.406 Dabei griff er auf das Bild von
Ahasver zurück, den ewigen Juden, der verflucht ist, weil er Jesus auf
dem Kreuzweg eine Ruhepause verweigerte. Der phantasierte Zusammenhang zwischen spiritueller Entwicklung und rassischer Höherentwicklung und die Vorstellung, die Juden als Gottesleugner seien Angehörige einer zurückgebliebenen Rasse, kommt noch deutlicher in einem
Vortrag zum Ausdruck, den er 1908 hielt:
„Das ist die tiefere Idee des Ahasver, der immer in der selben Gestalt wiederkehren
muß, weil er die Hand des größten Führers, des Christus, von sich gewiesen hat. So
ist die Möglichkeit für den Menschen vorhanden, mit dem Wesen einer Inkarnation
zu verwachsen, den Menschheitsführer von sich zu stoßen, oder aber die Wandlung
durchzumachen zu höheren Rassen, zu immer höherer Vervollkommnung. Rassen
würden gar nicht dekadent werden, gar nicht untergehen, wenn es nicht Seelen gäbe,
die nicht weiterrücken können und nicht weiterrücken wollen zu einer höheren Rassenform. Schauen Sie hin auf Rassen, die sich erhalten haben aus früherer Zeit: Sie
402 Steiner, Welt, Erde, Mensch, GA 105, S.159; Monika Neve, New Age als Ablenkung? Raisdorf bei Kiel 1989,
S.23, Udi Levy, Messiaserwartung und Judentum, in: Die Christengemeinschaft, 1996, Heft 2, S.63
403 Steiner, GA 105, S.159
404 Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen, TB 613, S.114, S.125
405 Mosse, Die völkische Revolution, Frankfurt am Main 1991, S.47, S.68
406 Steiner, Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis, GA 100, S.187
184
sind bloß deshalb da, weil da Seelen nicht höhersteigen konnten.“ 407
Steiner klagte über das „Zersetzungsferment“ des „semitischen Einschlags“. Dieses materialistisch-analytische „Zersetzungsferment“ zeige
sich bei den Juden Marx und Lassalle ganz deutlich, ebenso destruktiv
sei „das rein analysierende Denken in der Zoologie, Botanik und Medizin; Wundt
und seine Anhänger in der Psychologie; die Sozialdemokratie und der Liberalismus
in der Politik. Alle unsere Theologie, Jurisprudenz, Pädagogik sind von Zersetzungsgiften angefüllt. Die Zersetzung ist ja schon zum Kindergift pädagogisch in
den Kindergärten geworden.“ 408
Den Ersten Weltkrieg erklärten Steiner und andere Anthroposophen
als Folge einer Einkreisungs- und Verschwörungspolitik gegen
Deutschland, hinter der Freimaurer, Jesuiten und Juden steckten.409
Diese Thesen griff Renate Riemeck, die Lichtgestalt der Ostermarschbewegung, wieder auf. Sie behauptete, die Angelsachsen hätten anstelle
der Deutschen und Österreicher die Lehrmeister des Slawen werden
wollen. Darum hätten geheime englische Zirkel die Donaumonarchie
und das Zarenreich zerschlagen und Deutschland teilen wollen, was
ihnen aber erst im Zweiten Weltkrieg vollständig gelungen sei. Riemeck,
Anthroposophin und vormals Mitglied der NSDAP, widersprach damit
der Tatsache, dass Deutschland der Hauptschuldige am Ausbruch des
Ersten Weltkrieges war und entlastete den Nationalsozialismus.410
Marie von Sivers, Steiners zweite Ehefrau, glaubte an eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung.411 Der Gründer der anthroposophischen Christengemeinschaft, „Erzoberlenker“ Friedrich Rittelmeyer, hetzte
gegen Internationalismus und Pazifismus, sie seien abstrakte und blutlose Produkte des jüdischen Geistes.412 Er verlangte wie die nationalsozialistischen Deutschen Christen eine „Reinigung“ des Christentums
407 Steiner, Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen, GA 102, S.174
408 Steiner, Marie Steiner, Briefwechsel und Dokumente 1901-1925, GA 262, S.62f.
409 Steiner, Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges, Vorträge 1914-1921, GA 174b, S.358
410 Renate Riemeck, Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts, Freiburg 1958, S.28, S.30
411 Marie Steiner, Der Wiener Kongress der Anthroposophischen Gesellschaft und sein Geistdurchleuchter, in: Das
Goetheanum, Heft 6, 1927, S.44
412 Friedrich Rittelmeyer, Der Deutsche in seiner Weltaufgabe zwischen Rußland und Amerika, Stuttgart 1932, S.4
185
vom „semitischen Wesenscharakter“.413 Rittelmeyer predigte ein „germanisches Christentum“, das seinen „semitischen Wesenscharakter“
abstreift.414 Der heroische Christus sei ein Kämpfer gewesen, ohne jüdisch-katholische Weichheit.
Der Holocaust als karmischer Ausgleich
Der Anthroposoph Karl König hielt im November und Dezember
1965 drei Vorträge über „Geschichte und Schicksal des jüdischen Volkes“.415 Zunächst referierte er die anthroposophische Auffassung, die
Juden hätten ihre Mission erfüllt und weigerten sich, den Christus anzuerkennen. Er erklärte, durch den Verrat des Judas habe ein „Drama“
begonnen, das zur Kreuzigung Christi führte. „ ... so etwas Ähnliches mußte wieder geschehen, es war sozusagen eingeschrieben in das Menschheitskarma. Und
so wenig wir auch heute begreifen können, was das gewesen ist, dieser Verrat des Judas, so wenig begreifen wir dasjenige, was sich in unserem Jahrhundert vollzogen
hat“, sagte König. In diesem Sinne forderte er Verfolger und Verfolgte,
also Nazis und ihre Opfer auf, zu verstehen, „was gespielt hat und noch
immer spielt“.416 Die Taten der Nazis, so schreibt König, könnten nicht
durch Gerichte gesühnt werden. Das ist insofern richtig, als angesichts
der Dimension dieser Verbrechen keine Strafe wirklich gerecht wäre,
andererseits haben gerade deutsche Gerichte kaum versucht, die Täter
zu richten. Aber darauf kam es König nicht an, ihm ging es um den
karmischen Ausgleich: „Denn es sind Taten, gleich der des Judas; Taten, die
geschehen mußten. Und der, der sie tat, ist ja viel schlimmer dran als diejenigen, die
sie erleiden mußten.“ 417
413 Rittelmeyer, 1932, S.4, S.29; ders. Christus, Stuttgart, 1936, S.38f., S.42 bis 46; ders., Impulse der Gegenwart,
Stuttgart 1940, S.11, S.17
414 Rittelmeyer, Aus meinem Leben, 1937, S.345, auch S.274, S.283
415 König musste 1938 wegen seiner jüdischen Herkunft aus Wien emigrieren und gründete mit anderen
anthroposophischen Ärzten und Heilpädagogen in England die Camphill-Bewegung (Uwe Werner,
Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, Oldenburg, 1999, S.16, S.161, S.181, S.350; Bodo von
Plato, Anthroposophie im 20. Jahrhundert, Dornach 2003, S.386ff., S.1007).
416 König, Geschichte und Schicksal des jüdischen Volkes, 3 Vorträge im Advent 1965, S.3, unveröffentlichtes
Manuskript. Der Text wird in der Bibliothek in Dornach aufbewahrt, es soll sich um eine vom Vortragenden
nicht durchgesehene Nachschrift handeln.
417 König, 1965, S.29
186
Auschwitz wird in diesem Vortrag relativiert mit der absurden Karmalehre und die jüdischen Opfer werden mit den Nazis auf eine Stufe gestellt, indem die Verbrechen der Nazis mit dem angeblichen Gottesmord der Juden, einem traditionellen Vorwurf der christlichen Antisemiten, verrechnet werden. Diese Vorstellung ist in der Esoterik-Szene
verbreitet, was es nicht besser macht.
Aufklärung ist geboten
Man kann und soll sich über anthroposophischen Hokuspokus lustig
machen, aber nicht vergessen, wie gefährlich solche Lehren sind. Die
Anthroposophie mag heute in der Öffentlichkeit sanft auftreten, sie ist
und bleibt jedoch eine fundamentalistische und autoritäre Ideologie, geeignet neue Formen theokratischer und faschistischer Herrschaft hervorzubringen und zu legitimieren. Wie alle esoterischen Richtungen unterscheidet die Anthroposophie Eingeweihte und Erleuchtete, die himmelweit über der Masse der Menschen thronen. Daraus ergeben sich
Strukturen von Abhängigkeit und Herrschaft, von Führer und Gefolgschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Steiner von seinen Anhängern als „Menschheitsführer“ bezeichnet.
Mit der NS-Zeit haben sich Anthroposophen nicht ernsthaft auseinandergesetzt. Der Faschismus wurde als Werk finsterer Dämonen, reinkarnierter brutaler Azteken oder mongolischer Krieger aus der Zeit
Dschingis Khans erklärt oder eines westlichen Materialismus, die die
Deutschen verführt hätten. All das diente der Schuldabwehr und Projektion. Der eigene Beitrag – Ernst Bloch sprach 1935 davon, dass die
Anthroposophie zur Faschisierung des Bürgertums beitrage – in Form
einer ausgefeilten Rassentheorie wurde nie kritisch reflektiert.
Der anthroposophische Rassismus ist kein historisches Problem, nicht
begrenzt auf Steiner und die Anfangsphase seiner Bewegung, sondern
existiert weiter, als Teil des Weltbildes, der Evolutions- und Geschichtsauffassung, in der Regel sprachlich modernisiert. Lorenzo Ravagli, Redakteur der Erziehungskunst, spricht von Ethnopluralismus, womit er
187
einen Begriff der Neuen Rechten aufgreift, die bereits in den 1970erJahren so schlau waren, ihr rassistisches Weltbild durch unverfängliche
Begriffe wie Kultur zu tarnen.418 Bis heute sind Anthroposophen überzeugt, die Deutschen bzw. Mitteleuropa hätten eine besondere spirituelle Mission für die Menschheit. Diese Aufgabe bestünde in der Entwicklung der „Bewusstseinsseele“ und der Wiederentdeckung des göttlichen Ich.
Darum ist Aufklärung geboten über die Abgründe der Anthroposophie, auf die sich die Waldorfpädagogik stützt. Auch wenn diese Schule
richtige Elemente enthalten mag – keine Noten, kein Sitzenbleiben –
sollten wir dafür sorgen, dass diese in öffentlichen Schulen übernommen werden, ohne esoterisches Brimborium. Waldorfpädagogik ist
nicht kindgerecht, sondern anmaßend, sie sortiert und behandelt Kinder nach abstrusen, okkulten Schemata. Das sollten wir Kindern ersparen.
418 Lorenzo Ravagli, Zur Stellungnahme der Reportredaktion auf zahlreiche kritische Reaktionen, 20.3.2000,
www.anthroposophy.com/anthro/report/html (Abfrage 21.11.2000)
188
RECHTE ENERGIE IN ESOTERISCHEM ZEITGEIST
Dr. Roman Schweidlenka
Im Okkultismus der deutschsprachigen Länder wurde die „Lehre von den
Wurzelrassen“ seit dem späten 19. Jahrhundert bedeutsam. Begründet
wurde diese Lehre von der Ahnherrin der modernen Theosophie,
Helena Petrovna Blavatsky, einer gebürtigen Russin, die als wichtigste
Quelle des modernen abendländischen Okkultismus bzw. der modernen Esoterik bezeichnet werden kann. Sie lebte von 1831 bis 1891. Auf
Blavatskys Hauptwerk, die 1888 erschienene „Geheimlehre“, berufen sich
fast alle esoterischen Autoren der nachfolgenden Zeiten. Ihr esoterisches Gedankengut prägt(e) das moderne esoterische Weltbild, auch
wenn die Quelle den einzelnen Anhängern oft nicht mehr bekannt ist.
Unter den Wurzelrassen verstehen Theosophen sieben aufeinander folgende Menschenrassen, die sich während eines Zeitenzyklus auf dem
Planeten Erde entwickeln. Jede Wurzelrasse teilt sich in sieben Unterrassen, die den Gesetzen der Evolution unterworfen sind. Auf Atlantis,
der laut Blavatsky 9564 v. Chr. versunkenen Insel, habe sich vor 18.000
Jahren die fünfte Wurzelrasse der Arier herausgebildet, als deren höchst
entwickelte Unterrasse (die 5.) Blavatsky die germanisch-nordische bzw.
teutonische, zu der sie Germanen, Kelten und Slawen zählte, ansah.
Die Juden waren im Weltbild der Begründerin der Theosophie ein
„abnormes und unnatürliches Bindeglied zwischen der vierten und fünften Wurzelrasse“. Wie sie selbst sei die jüdische Religion zu einer „Religion des Hasses
und Übelwollens gegen jedermann“ entartet. Für die meisten Naturvölker unserer Erde sah Blavatsky deren Ausrottung als eine „karmische Notwendigkeit“ an.
In Blavatskys Werk wurden die zwei Strömungen der Theosophie, deren eine die Bruderschaft aller Menschen unabhängig von der Hautfarbe betont, deren andere von der okkulten Herrscherrolle der Arier
überzeugt ist, begründet. Der Arierkult wurde unter radikalisierten rassistischen Vorzeichen dann von der Ariosophie aufgegriffen, die von
189
zwei Wienern - Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels - begründet wurde.
List lebte von1848 bis 1919 und war Mitglied im 1886 gegründeten
germanenkultischen und antisemitischen „Bund der Germanen“. List,
der eine Zeitlang auch Sekretär des Österreichischen Alpenvereins war,
publizierte 1891 die „Deutsch-Mythologischen Landschaftsbilder“, weitere Bücher über das von ihm vertretene „ariogermanische Weistum“
folgten. Im Wesentlichen verband er seine Interpretation der germanischen Runen mit einer eigenwilligen Rassentheorie, bei der er die rassistischen Lehren des Grafen Gobineau mit der theosophischen Wurzelrassenlehre verband. List war von der karmisch-schicksalshaft vorherbestimmten Weltherrschaft der Germanen überzeugt, sah in seinem
„Wuotanismus“ die Frau als zersetzende Sünderin an und vernetzte
diese Ideologien mit einem extremen Antisemitismus.
Jörg Lanz von Liebenfels - der eigentlich einfach Adolf Josef Lanz
hieß - lebte von 1874 bis 1954. In seiner 1904 publizierten „Theozoologie“ und in seiner Schriftenreihe „Ostara“ entfaltete er ein okkultes Weltbild einer zweigeteilten Menschheit. Auf der einen Seite finden
wir da die blond-blauäugigen, alle Kultur bringenden Ario-Heroen, auf
der anderen Seite begegnen wir dunkelhäutigen, „kulturzersetzenden Äfflingen“.
Liebenfels, ein ehemaliger Zisterziensermönch, gründete 1900 den
Neutemplerorden, auch Ordo Novi Templi (ONT) genannt. Seine gutsituierte Anhängerschaft ermöglichte ihm den Erwerb der oberösterreichischen Burg Werfenstein, auf der Rituale im arioheroischen Geist abgehalten und das erste Mal die Hakenkreuzfahne gehisst wurde. Bei
Liebenfels findet sich auch die Forderung, die „Schrättlinge“ oder
„Sodoms-Äfflinge“, auch „Tschandalen“ genannt - alles Gegenspieler seiner
Asinge bzw. Arioheroiker - als Opfer auf dem Altar der Freya darzubringen.
Heute streiten die Historiker, ob der junge Hitler in Wien Liebenfels
persönlich traf oder nicht. Tatsache ist, dass der spätere Führer des Nationalsozialismus in seiner Wiener Zeit, die ihn maßgeblich prägte, die
von Liebenfels herausgegebenen Ostarahefte las. Zu seinem ONT ge190
hörten auch die Dichter Fritz von Herzmanovsky-Orlando und August
Strindberg.
Die Ariosophie konnte mit ihren Gedanken und Weltbildern nach dem
Ende des ersten Weltkriegs einen großen Teil der esoterischen Szene
der Zwischenkriegszeit erobern. Neben zahlreichen ariosophisch-okkulten Zirkeln nahmen auch viele neuheidnische Germanengruppen
ariosophische Ideen auf. Der okkulte Arm des Nationalsozialismus, der
seit einigen Jahren für verstärktes öffentliches und auch akademisches
Interesse sorgt, ist ohne die Radikalisierung der theosophischen Wurzelrassenlehre und das im gehobenen Bürgertum verankerte Wirken
der Ariosophie nicht denkbar.
Von größter Bedeutung war die im November 1918 in München gegründete Thule-Gesellschaft, die germanentümelnde Mystik mit Antisemitismus und dem Willen zur Weltherrschaft verband. Die ThuleGesellschaft, die im Wesentlichen aus dem Germanen-Orden hervorging, verband Esoterik, Mythos und Politik zu einem explosiven Gebräu. Die Thule-Gesellschaft gründete die Deutsche Arbeiter Partei
(DAP), die etwas später in NSDAP umbenannt wurde. Als Gründer
fungierte eine äußerst zwielichtige Gestalt: Es ist der fanatische Antisemit und Okkultist Rudolf Glauer, der sich selbst hochtrabend als
Rudolf Freiherr von Sebottendorf bezeichnete, deswegen einige Klagen der deutschen Sebottendorfs angehängt bekam, und von 1875 bis
1945 lebte.
Sein Leben ist von Legenden umgeben, die er selbst zu schüren wusste
und die heute der Stoff sind, aus dem die zahlreiche spekulative Literatur über den okkulten NS ihr angebliches Wissen bezieht. Fest steht,
dass Sebottendorf alias Glauer zwischen der Türkei, Ägypten und
Deutschland hin und her pendelte. Neben einigen unverfänglichen Büchern über Astrologie veröffentlichte er 1933 sein inzwischen berühmt
gewordenes Buch „Bevor Hitler kam“, in dem er seine Rolle als geistiger „Ziehvater des NS“ maßlos übertrieb. Das Buch wurde verboten
und Sebottendorf nach einer kurzen Inhaftierungsphase aus Deutschland ausgewiesen. Er dürfte aber in Istanbul weiter als Geheimagent für
die Nazis gearbeitet haben. Am Tag der Kapitulation des Dritten
Reichs, am 8. Mai 1945, beging er Selbstmord.
191
Zurück zur Thule Gesellschaft: Über die Zahl der Mitglieder geben uns
die Quellen recht ungenaue Angaben. Sie schwanken zwischen 100 und
1500. Auf jeden Fall waren die Mitglieder hochkarätige Leute. So u. a.:
J. F. Lehmann, Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes
Anton Drexler, Gründer der DAP
Paul Tafel, Vorstandsmitglied des Bayrischen Industriellenverbandes
Karl Harrer, Redakteur des Thule-eigenen „Münchner Beobachter“, der später in die NSDAP-Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ umbenannt wurde
Dietrich Eckart, ein völkischer Schriftsteller, der ein geistiger
„Vater“ Hitlers war und diesen in die weit rechts stehenden
Kreise der Münchner Gesellschaft einführte
Karl Haushofer, Begründer der umstrittenen Geopolitik, der
sich später gegen das Dritte Reich stellen sollte und dessen
Sohn im Widerstand gegen den NS 1945, wenige Tage vor dem
endgültigen Zusammenbruch der Schreckensherrschaft, hingerichtet wurde
spätere Nazi-Größen wie Hans Frank, Julius Streicher, Alfred
Rosenberg und Rudolf Heß, um den sich während seiner Haft
nach 1945 ebenfalls viele esoterische Legenden bildeten. Hitler
hatte ein Naheverhältnis zur Thule-Gesellschaft, eine Mitgliedschaft kann nach heutigem Quellen- und Forschungsstand
nicht nachgewiesen werden. Zahlreiche Quellen deuten auf ein
okkultes Interesse des jungen Hitler hin, in späteren Jahren
äußerte er sich oft spöttisch über esoterische Themen und
Gruppen, konnte aber begeistert dem Plan zustimmen, nach
dem „Endsieg“ als neuer mythischer Heiland, als eine Mischung aus Christus und Parzifal, weltweit verehrt zu werden
zahlreiche Adelige, wie z. B. Gräfin Heila von Westarp, Gustav
Franz Maria Prinz von Thurn und Taxis etc. etc.
Vielfach wird von Autoren ein geheimer Thule-Orden hinter der
Thule-Gesellschaft vermutet. Das wäre freilich eine oft von Geheimgesellschaften gewählte Praxis. Wissenschaftlich beweisen lässt sich diese These allerdings nicht. Gesichert sind aber enge Verbindungen zu
ariosophischen Gruppen und zu einem Netzwerk jener vielfach neu192
heidnischen oder okkulten Gruppen, die sich gegen die Weimarer Republik verschworen hatten. 1937 wurde die Thule Gesellschaft aufgelöst. Ein weiteres geheimes Wirken, sogar bis in unsere Gegenwart,
wird von einigen Autoren vermutet, entbehrt aber jeder wissenschaftlichen Grundlage.
Bedeutsam für den Okkultismus des Dritten Reiches war die geheimnisumwitterte Verbindung mit Tibet. Ohne Zweifel hatte die ThuleGesellschaft ein großes Interesse am Himalaya-Staat, da dort die großen Meister und okkulten Herren der Welt vermutet wurden; jene
„Übermenschen“ aus fernen urzeitlichen Tagen, von denen die Thuleund Atlantissagen künde(te)n, wobei Thule als nordische Atlantisvariante gehandelt wurde. Gerade Haushofer wird gerne als okkultes Bindeglied zwischen schwarzmagischen tibetischen Sekten und den NSOkkultisten ins Spiel gebracht. Auch hier fehlen die Quellenbelege. Was
auch immer an den Spekulationen über eine „okkulte Achse Wien-Lhasa“
dran sein mag - gesichert ist, dass es nach außen hin verheimlichte Beziehungen zwischen Nazis und Tibetern gegeben hat.
So kam es 1938/39 zu einer groß angelegten SS-Tibetexpedition, die
von Göring und Himmler protegiert und von Ernst Schäfer geleitet
wurde. Auch die Forschungen Heinrich Harrers, die zu seiner Freundschaft mit dem Dalai Lama führten, fanden ursprünglich unter der
Schirmherrschaft des SS-Ahnenerbes statt. Schäfer besuchte die wichtigsten heiligen bzw. okkult bedeutsamen Orte und Stätten im Himalaja.
Wie so vieles im Bereich des NS-Okkultismus, haben wir auch hier nur
wenige gesicherte Erkenntnisse. So ist es ungeklärt, warum zur Zeit des
Zusammenbruchs des Dritten Reichs auch eine große tibetische Kolonie, die es in Berlin gab, Selbstmord verübte. Vermutlich versuchten
diese Tibeter, deren Zugehörigkeit zu einer der tibetischen Schulen
bzw. Sekten ungeklärt ist, durch meditative Konzentration den Nationalsozialismus zu unterstützen.
Eine wichtige Rolle im Rahmen des NS-Okkultismus spielte die von
Himmler geleitete SS. Vor allem deren höhere Ränge waren dazu ausersehen, eine Art neuheidnisch-okkulten Orden zu bilden, der Rituale,
magische Praktiken und Konzentrationsübungen durchführte, die alle
dem Aufbau einer neuen, führerzentrierten Religion dienen sollten.
193
Auch hier gibt es nur wenige gesicherte Quellen, während die Flut spekulativer Literatur bezüglich der okkulten Abenteuer der SS zunimmt.
Über die esoterischen Aktivitäten Himmlers erfahren wir etliches in
den „Memoiren“ Walter Schellenbergs, des Chefs des der SS unterstellten Geheimdienstes SD (Sicherheitsdienst). Während des Verfahrens gegen Generaloberst von Fritsch wurde Schellenberg Beobachter
merkwürdiger Vorgänge: „Hier wurde ich Zeuge einer der okkulten Marotten
Himmlers, mit denen er selbst die Führer der SS beschäftigte. Er hatte während der
Verhandlung gegen von Fritsch in einen dem Verhörzimmer nahe gelegenen Raum
etwa zwölf seiner vertrautesten SS-Führer beordert und diesen befohlen, durch Willenskonzentration einen suggestiven Einfluss auf den beschuldigten Generaloberst
zu nehmen. Himmler war davon überzeugt, dass der Angeschuldigte unter dieser
Einwirkung die Wahrheit reden müsse ... Ich betrat damals versehentlich die Stätte
dieses seltsamen Exerzitiums und war nicht wenig verwundert über das Bild einer
im Zirkel sitzenden, in tiefe Andacht versunkenen SS-Führerschaft.“
Ein weiteres Beispiel: Um den Aufenthaltsort des verhafteten Mussolini
herauszufinden, trommelte Himmler 1943 verschiedene Okkultisten in
seiner Berliner Villa zusammen. Zeitzeuge Schellenberg: „Es waren dies
Hellseher, Astrologen und Pendler, die den Aufenthaltsort des verschwundenen
Duce ans Licht zu zaubern hatten. Die Séancen kosteten uns eine ziemliche Stange
Geld, da der Bedarf an gutem Essen, Trinken und Rauchen der ‚Wissenschaftler‘
ganz enorm war.“ Laut Schellenberg konnte schließlich ein Pendler tatsächlich den Aufenthaltsort des gefangenen Diktators auf einer Insel
westlich von Neapel lokalisieren.
Himmler lebte in einem magisch-okkulten Universum, das er mit der
Vorstellung von der Auserwähltheit der Arier verband. Er suchte nach
einer geeigneten Ordensburg, die als Keimzelle derartiger arisch-magischer Unternehmungen dienen sollte. Seine Wahl fiel unter okkulten
Auswahlkriterien auf die Wewelsburg bei Paderborn, die laut Ansicht
von SS-Okkultisten durch „Kraftlinien“ (heute: ley lines der Geomantie)
mit den Externsteinen verbunden war. In dieses „SS-Kloster“ berief
Himmler einmal im Jahr ein Geheimtreffen seiner engsten Getreuen.
Alle, die zur obersten Führung der SS zählten, mussten hier geistige
Exerzitien und Konzentrationsübungen machen. Am runden Tisch in
der Wewelsburg durften neben Himmler nur 12 Auserwählte sitzen.
194
Der Chef der SS versuchte so, die Wiedergeburt der legendären Tafelrunde des König Artus einzuleiten. Für sein Wewelsburgexperiment investierte Himmler große Geldsummen. Nach außen hin verschleierte
man diese okkulten Machenschaften.
Die SS wurde zu einer Art Gralsrittertum für die arierverherrlichende,
mythische Religion des NS. In diesem Sinne war auch das bereits erwähnte SS-Ahnenerbe aktiv, das mit archäologischen Ausgrabungen
den mythischen Spuren folgte und alte Kultplätze freilegte. Eine eigene,
dem Ahnenerbe unterstehende Zeitschrift „Germanien“ propagierte
die „reine mythische Lehre“. Sie war hoch subventioniert und wurde
vor allem im universitären Bereich eifrig beworben.
Ohne Zweifel spielten okkulte Techniken und Lehren, u. a. die Astrologie, bei etlichen führenden Nazis eine große Rolle. Dennoch wurden
Esoterik und Okkultismus sodann von Hitler verboten, ebenso wie in
der NS-Bewegung übliche Begriffe wie z. B. „Weihestätte“ etc. Hitler
scheute den offenen Konflikt mit den christlichen Kirchen und wollte
vermutlich die okkulten Wurzeln seiner Partei verheimlichen.
War auch die Esoterik nach der Machtergreifung zunehmend „out“, so
war der Mythos kompromisslos „in“. Um es exakt auszudrücken: Die
nationalsozialistische Interpretation germanischer und indogermanischer Mythen war untrennbarer Teil der diffusen Ideologie des NSStaates. Ein germanisch-mythisches Bewusstsein war im Dritten Reich
sogar Staatsdoktrin. Die „mythische Schau“ wurde zur seelisch-geistigen Quelle für die ganzheitliche Erneuerung des deutschen Volkes. Dabei spielte die intellektuelle Aufarbeitung der Mythen fast keine Rolle,
vielmehr sollten okkulte „mythische Mächte“ als beseelende, schicksalshafte Kräfte gefühlt werden. „Mythisches feeling“ - um es modern auszudrücken - war gefragt. Die Mythologen des NS, wie z. B. Otto Höfler
oder Richard Wolfram, förderten vor allem den heldischen Mythos. Die
Recken der Sagas, der Edda und vereinzelter mythischer Erzählungen
wurden zu Vorbildern für den deutschen Soldaten auserkoren.
Alfred Rosenberg, umstrittener Chefideologe des Nationalsozialismus,
entwarf bereits in der Weimarer Republik ein mythisch verwurzeltes
Soldaten- und Kriegerideal. In seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“
dozierte er: „Die abstrakte Begeisterung vor dem Kriege fürs Vaterland wird heu195
te trotz aller früheren Parlamente mythisches wirkliches Erleben. (...) Die Heldendenkmäler und Gedächtnishaine werden durch ein neues Geschlecht zu Wallfahrtsorten einer neuen Religion gestaltet werden, wo deutsche Herzen immer wieder neu
geformt werden im Sinne eines neuen Mythus. (...) Es ist letztmögliche Grenze unserer seelischen Ausweitung, wenn der Baldur- und Siegfriedmythus als gleichartig
mit dem Wesen des deutschen Soldaten von 1914 erscheint und die neuergründete
Welt der Edda ... nach dem Untergang der alten Götter für uns auch die Wiedergeburt des Deutschtums aus dem heutigen Chaos bedeutet.“
Der NS suggerierte, eine Bewegung zu sein, die in mythischen Ursprungsmächten wurzle. Damit griff er geschickt die auch in der Weimarer Republik nachweisbaren Sehnsüchte auf, die sich in den „Zurück
zu den Wurzeln“-Bewegungen immer wieder in der europäischen Geschichte bemerkbar mach(t)en. Es sind dies Sehnsüchte nach überschaubaren Gemeinschaften oder Stammesverbänden, nach einer allgemein anerkannten und gültigen Ordnung in Einklang mit der Natur. Je
atomisierter und unsolidarischer unsere Gesellschaft wird, desto intensiver greifen derartige Sehnsüchte um sich.
Esoterik und Rechtsextremismus nach 1945
Auch heute sind wieder ariosophische und rassistische Strömungen in
der Esoterik zu beobachten. Die wichtigsten davon sind:
Führer/Gurugläubigkeit
Nicht nur in so genannten Sekten, auch in Teilbereichen der Esoterik
finden wir die bedingungslose, gehorsame Hingabe an einen Guru. Eigene Meinungen und Kritikfähigkeit werden ausgeklammert. In ähnlicher Weise präsentierte sich der frühe NS mit einem Gottkönig, Guru
Hitler, der autoritär keine demokratische Bewusstseinsbildung zuließ.
Der Glaube, ein Mensch sei die Verkörperung des absoluten göttlichen
Willens, erschwert für die Anhänger und Gläubigen das kritische Hinterfragen von Lehre und Dogmen.
196
Die reaktionäre Auslegung der Karmalehre
Karma bedeutet in der indischen Philosophie „Wirken“, „Tun“ und
wurde politisch für die Rechtfertigung der hinduistischen Kastengesellschaft instrumentalisiert. In Europa verband sich der Karmabegriff
mit sozialdarwinistischen Thesen. Praktisch bedeutet das: Jeder ist seines Glückes Schmied, jeder ist für sein Unglück - Hunger, Vergewaltigung etc. - selbst verantwortlich, da er Verfehlungen aus früheren Leben abbüße. So wurde auch die Ansicht geboren, die Juden seien selbst
an ihrem Holocaust im Dritten Reich schuld, da sie Übeltaten aus früheren Leben abzubüßen gehabt hätten. Der erste Esoteriker, der Derartiges verbreitete, war Edgar Cayce (1877-1945), der mit seinem Buch
„Der schlafende Prophet“ einen bis heute gerne gelesenen Best- und
Longseller landete.
Ein Beispiel von vielen: Das Buch von Trutz Hardo: „Jedem das Seine.
Ein Farbroman“ (Neuwied 1996). Es handelt sich um einen Roman,
vor allem in Dialogform. Das Buch ist der dritte Teil der Romantetralogie „Molar oder Höhenflug eines gefalterten Vordichters“.
Der Autor hat vordergründig keine Sympathie für die Nazis. Diese
müssen für ihre Verbrechen in nächsten Leben büßen. Hardo ist auch
vordergründig gegen den Antisemitismus. Dennoch ist dieses Buch
höchst problematisch: Hardo präsentiert den Holocaust als karmische
Notwendigkeit. Auch streut er den Gedanken ein, dass „selbstlos“ handelnde SS-Schergen schuldlos seien. Für Hitler lässt Hardo subtil Sympathien erkennen. Hardo beruft sich darauf, von höher entwickelten
Geistwesen geleitet worden zu sein, er behauptet deren Mitautorenschaft. Das Buch fand Beachtung in Teilen der esoterischen Szene. Der
Autor wurde wegen seiner antisemitischen Aussagen in Deutschland
verurteilt. Dessen ungeachtet tritt er immer wieder als Referent auf. So
ist es z. B. verwunderlich, dass Trutz Hardo alias Tom Hockemeyer in
der Heiltherme Blumau (28. - 29. 4. 01) ein Seminar abhalten konnte
und die mit dem bekannten Managertrainer Kurt Tepperwein eng zusammenarbeitende Lebensschule Dietrich dafür warb.419
419 Pulsar 3/01, S.34, Bewusst Sein 169/01, S.29
197
Zum Antisemitismus:
Dieser wird zwar nicht begrüßt, aber als karmische Notwendigkeit
definiert, die sich halt in Deutschland „inkarnierte“:
„Deutschland liegt im Zentrum Westeuropas. Und man könnte - bildlich gesprochen - sagen, dass sich die Wolken des Antisemitismus in der europäischen Geschichte sich über dem deutschen Reich und Polen, von allen Seiten herkommend, zu
einem Gewitter verdichteten, welches unter Geblitz und Gedonner seine Schauerlichkeiten darniederfahren ließ. Jeder Regentropfen beinhaltete sozusagen einen judenfeindlichen Gedanken, der einst irgendwo in Europa zu irgendeiner vergangenen
Zeit als Luftfeuchtigkeit in die Höhe gestiegen war und dort kondensierte, bis der
Sturmwind diese dunklen Wolkenmassen in Richtung Deutschland und Polen blies.
So war dies eine notwendige Entladung?
Ohne Zweifel. Das Karmagesetz erforderte einen heftigen Niederschlag.“ (46)
Zusätzlich zu der Legitimierung des Holocaust suggeriert dieses Zitat:
Es war unabänderlich.
Dazu weitere Zitate:
„Kein Blitzstrahl sucht sich zufällig ein Opfer, kein Kind verstaucht sich zufällig
den Arm, wie auch in den Konzentrationslagern kein Schlag fiel, der nicht als Notwendigkeit vorher einkalkuliert war.“ (56)
„Muss Rachel aus karmischen Gründen auf dem Judenstuhl sitzen?
So ist es. Sie hatte vor einigen hundert Jahren Juden, die aus Unrecht am Pranger
standen, bespuckt, bespöttelt und auch gesteinigt. Somit erreicht sie nun den verschärften Beginn der für sie maßgerechten und ausgleichenden Gerechtigkeit.
Dann handelt etwa der Luftschutzwart auf ‚Höhere‘ Anordnung?
Alles, was den Menschen geschieht, geht auf eine höhere Ordnung zurück. Aber
selbst das bitterste Leid dient immer nur zu der allen Menschen notwendigen seelischen Aufbesserung und Reifung.“ (59)
„Abweichungen ergeben sich natürlich auf Grund anderer Umstände. Die Gaskammern von Auschwitz dienen in den meisten Fällen als karmischer Ersatz
anstelle Millionen mutwilliger Einzeltötungen durch Schwert, Dolch, Kugel und
198
dergleichen mehr.“ (88)
Ganz subtil erfolgt dann die „Reinwaschung“ der KZ-Nazi-Schergen,
indem erläutert wird, dass die Vollstrecker des Karma schuldlos sind,
solange sie bei ihren Folterungen und Morden keine Schadenfreude
empfanden. Dazu Zitat(e):
„Was man sich selbst antut, dafür ist man auch selbst verantwortlich. Das Leid,
das man gezwungenermaßen anderen zuführt, war immer deren Verantwortung. ...
Glaube nicht, dass dir Menschen Leid zugefügt haben ... Leid wird uns von Ihm geschickt, nicht von den Menschen. Menschen sind Seine Werkzeuge, sie selbst haben
keine Schuld. ... Dort, wo man sich seiner als willfähriges Instrument bediente, um
an anderen Karma auszugleichen, nur dort ist er gewissermaßen schuldlos. Doch
dort, wo er sich mit seiner Tat identifizierte und aus Schadenfreude oder anderen
egoistischen Motiven am anderen handelte, dort hat er sich vor seinem eigenen höheren Gewissen schuldig gemacht.“ (198)
KZs sind für Hardo ganz o.k.:
„Übrigens waren die KZs Schulen der Demut. Wer in früheren Leben arrogant,
hochfahrend war und sich etwas Besseres als andere dünkte, dem wurde durch diese
harte Unterjochungsschule Gelegenheit gegeben, jene karmischen Vergehen gemäß
seinen individuellen Voraussetzungen wieder auszugleichen.“ (217)
„Jedem wird in diesem Lager (KZ Buchenwald/Anm.) in konzentrierter Weise das
ihm aus karmischer Gesetzmäßigkeit zustehende Schicksal zugewiesen, um seine
Verschuldung abzuarbeiten und dadurch frei zu werden.
Ach, da wird mir auf einmal klar, warum auf dem Lagertor in Auschwitz jener
Spruch angebracht ist, der da lautet: ‚Arbeit macht frei!‘
Das heißt also, dass diese furchtbaren SS-Barbaren im eigentlichen Sinne nur
Schergen höherer Drahtzieher sind?
Doch was da am Draht zieht, ist die eigene karmische Verschuldung.
Willst Du etwa sagen, dass die gemarterten Sträflinge sich ihre ‚Karmavollstrecker‘
selbst zugezogen haben?
Ja, so ist es in vielen Fällen gewesen.“ (220)
Hardo führt eine reaktionär-esoterische Geschichtsphilosophie ein und
präsentiert sich als der neue Guru-Historiker, der mit höheren Welten
199
in Kontakt steht: „Den karmischen Aspekt in solche Geschichtsbetrachtungen
miteinzubeziehen wird erst späteren Generationen zur Selbstverständlichkeit werden. Jene werden dann wissen, dass die Geschichte eine seelische Notwendigkeit ist,
die sich aus dem Einzel- und Gesamtkarma ergibt. Die irdischen Gesamtseelen bereiten in ihrer Gegenwart die Geschichte von morgen vor. Und die Geschichte der
Gegenwart ist das Produkt der seelischen Vergangenheit. ... Was die Historiker als
das Eigentliche auffassen, ist in Wahrheit das Sekundäre. ... Im Jenseits schreiben
die Historiker Bücher über die Geschichte der Erdbewohner, in denen sie die Weltkriege, Napoleon, die Schwarze Pest, die Hunneneinfälle und dergleichen als notwendige Konsequenzen nachweisen, die sich aus dem Fehlverhalten früherer Menschen als Gruppe und als Individuum karmisch ergeben mussten.“ (281)
Bei all dem mutet es seltsam an, dass Hardo als Ziel der esoterischen
Evolution den „Emanzipationsweg zum demokratisierten Menschen“ ansieht,
„dessen Gütezeichen Mitverantwortung, Toleranz und Nächstenliebe sein werden.“
(292) Aber derartig schizophren anmutende Weltbilder prägen öfters
esoterische Vorstellungswelten.
Diese, den Antisemitismus und den Holocaust rechtfertigenden esoterischen, auf einer reaktionären Auslegung der Karmalehre beruhenden
Ausführungen Hardos sind ein Teil einer zur Zeit in Eso-Kreisen relativ weit verbreiteten Ideologie, nach der jeder im Leben das erhält, was
er verdient hat. In dieser Ideologie häufen sich die Beispiele, in denen
der Holocaust gerechtfertigt und die NS-Verbrechen bagatellisiert bzw.
mit einem „höheren“ Sinn entschuldigt werden. Ein weiteres Beispiel:
Der Inder Ramesh S. Balsekar gab und gibt „Satsang“, d. h. „Lehren im
Geist der Wahrheit“. Er zählt zu jenen Gurus, die der westliche esoterische Supermarkt in seinen Regalen führt. Der Guru studierte in England und arbeitete daraufhin in der größten indischen Bank. 1987 bis
1992 gab er sodann Seminare in den USA, Deutschland und Südindien
und schrieb sieben Bücher. Heute pilgern Ratsuchende zu seiner Wohnung in Bombay. Dort gibt er am Vormittag Satsang auf seiner Dachterrasse. Balsekar lehrt: „Es gibt kein selbstbestimmtes Tun und Denken, keine
Möglichkeit, etwas an sich zu verändern, außer durch die Erkenntnis der Wahrheit,
dass alles Gottes Wille ist.“ Das hört sich dann so an: „Millionen von Juden
mussten sterben als Teil des All-Geschehens. Du fragst, warum? Die Antwort ist:
Warum nicht? Damit die schicksalsbestimmte Vernichtung von Millionen Juden ge200
schehen konnte, musste ein Organismus, genannt Hitler, erschaffen werden.“
In eine ähnliche Richtung scheint auch Barbro Karlén mit ihrem in
Esoterikerkreisen vielbeachteten Buch „ … und die Wölfe heulten“ zu
weisen. Karlén gibt sich als Wiedergeburt der berühmten Antifaschistin
Anne Frank aus, die in einem KZ umkam. Abgesehen davon, dass Details des Buches die Behauptung der schwedischen Schriftstellerin widerlegen, wird - von ihr vielleicht nicht beabsichtigt - der Holocaust
verniedlicht. Er erscheint als eine Folge von Verfehlung und Sühne,
dessen Grausamkeit durch das Rad der kosmischen Karmauhr relativiert wird. Auch wenn derartige Weltbilder nicht zwangsweise bei allen
Freunden der Esoterik zu rechtsextremen politischen Glaubenswelten
führen müssen, ist die Gefahr der esoterisch-ideologischen Rechtfertigung der Gräueltaten des NS-Regimes und anderer Diktaturen sehr
groß; nicht umsonst erfuhr Karlén eine groß angelegte Beachtung und
Berichterstattung in der antisemitisch agierenden Schweizer Eso-Zeitschrift „Zeitenschrift“ 420.
Bleibt die Erwähnung, dass es auch andere Interpretationen des Karmabegriffs gibt, wie z. B. bei Mahatma Gandhi.
Julius Evola
Das erste Mal wurde in Österreich laut Werbung vom 23. bis 24. Mai
1998 ein Seminar über Julius Evola anlässlich dessen 100. Geburtstags
durchgeführt. Seminarort war Wien, die genaue Adresse wurde geheimgehalten. Die Organisation hat neben der Evola-Stiftung und den „Europäischen Synergien“ die „Deutsch-Europäische Studiengesellschaft“
(DESG) übernommen. Laut dem „Handbuch Deutscher Rechtsextremismus“ handelt es sich bei der DESG um eine wichtige, international
arbeitende Organisation des Rechtsextremismus.
Julius Evola (1898 - 1974), Sohn sizilianischer Adeliger, gilt als einer der
wichtigsten Magier und Okkultisten seiner Zeit („Gruppe von Ur“) und
als Begründer des „Heidnischen Imperialismus“. Evola unterstützte
Mussolini und den italienischen Faschismus und war nach dem Krieg
420 Nr. 18/98
201
maßgeblich am Aufbau der Neuen Rechten und des Neofaschismus
mitbeteiligt. Er vertrat ein extrem patriarchal-hierarchisches Weltbild,
das für die „Elite“ des Adels eine totalitäre Macht bis hin zu „legalen“,
okkult gerechtfertigten Folterungen und Menschenopfern forderte.
Auch für Witwenverbrennungen konnte er sich erwärmen. Evola zählt
zu den wichtigsten ideologischen Vätern des mythisch und magisch
verbrämten Neofaschismus. Eine seiner Forderungen war ein vereintes
Europa unter spiritueller Führung der adeligen Elite. Erstaunlicherweise wurde er auch von Linken der 68er Bewegung, so u. a. von Herbert
Marcuse, positiv aufgegriffen. Auch in esoterischen Medien erhielt er
zahlreiche positive Rezensionen, u. a. von der „Büchertruhe“ des Thorwald Detlefsen.
Politisch-esoterisch-mythische Rezeption von rechts
Für eine mythische Politik plädiert seit langem die Neue Rechte. Die
Lega Nord setzt diese Forderung am auffälligsten um. Mitte September
1996 kam es zum großen Auftritt der meist als weit rechts eingestuften
Partei und Bewegung. Wie bei keiner anderen politischen Partei der
Gegenwart wurden Mythen und Rituale zur Vertiefung der politischen
Ziele eingesetzt. Konkret ging es um das Fest der „Unabhängigkeitserklärung Padaniens“, wie Lega Nord-Führer Umberto Bossi das „neue
Norditalien“ nennt, dessen Grenzen südlich der Toskana und Umbriens angesiedelt sein sollen. Am Freitag, dem 13. September 1996 - bekanntlich ein der Hexentradition heiliger, später dämonisierter Tag –
entnahm Bossi an den Quellen des „heiligen Flusses Eridano“, wie er
den Po nennt, „heilendes, reinigendes Wasser“. Dann fand bis zum
Sonntag eine Art Wallfahrt statt, die über 650 Kilometer von der PoQuelle bis Venedig führte, wo auf dem mythenumwobenen, geomantisch als Kraftplatz gedeuteten Markusplatz die „Unabhängigkeitserklärung“ stattfand und das heilige Po-Quellwasser als Opfer dem Meer
übergeben wurde. Damit knüpfte Bossi an mythische Kulte der alten
Großmacht Venedig an.
Immer wieder bemüht Bossi alte Völker und Mythen für seinen politischen Kampf. So werden gerne die Kelten beschworen, um als Bundesgenossen im „Kampf gegen Rom“, das sich der Sezession energisch
202
widersetzt, aufzutreten. Mythisch geprägt ist auch das Logo der Bewegung: Es ist die Hagalrune. Umgeben wird die Rune von einem magischen Kreis. Die Lega Nord bezeichnet ihr Symbol als „keltische Sonne
der Alpen“ und prophezeit, dass sie für Padanien eine Sonnenregierung
- il governo sole - errichten werde.
203
204
DIE VÖLKISCHE LUDENDORFF-BEWEGUNG
Julian Feldmann
Vorbemerkungen
Im beschaulichen Heideörtchen Dorfmark, zwischen Hamburg und
Hannover, kommen seit über 40 Jahren die rechtsextremen „Ludendorffer“ am Osterwochenende zusammen. Für sie ist Ostern keine
Gedächtnisfeier der Auferstehung Jesu Christi, sie haben ihre eigene
Weltanschauung. Und die ist geprägt von der rassistischen Vorstellung
der Überlegenheit der nordischen „Rasse“ und antisemitischen Verschwörungstheorien. Der vom Verfassungsschutz beobachtete „Bund
für Gotterkenntnis (Ludendorff)“ (BfG) organisiert die Tagungen an
Ostern, an denen jährlich über 100 Rechtsextremisten teilnehmen.
Diese sogenannte Ludendorff-Bewegung geht zurück auf den völkischen General Erich Ludendorff und seine Frau Mathilde. Ludendorffer berufen sich daher auf die „religions-philosophischen“ Schriften aus dem „Hause Ludendorff“ und schließen sich der Ludendorffschen Ideologie an. Neben dem NS-Ideologen Alfred Rosenberg und
dem „Stürmer“-Herausgeber Julius Streicher zählte Mathilde Ludendorff zu den aktivsten und wichtigsten antisemitischen Theoretikern.
Heute existiert in Deutschland und Österreich ein Netzwerk aus Ludendorffer-Gruppen, dazugehörigen Vereinen und Unternehmen. Die
Zahl der Anhänger kann nur geschätzt werden, es handelt sich um einige hundert Familien mit einigen tausend Angehörigen. Der BfG soll
dabei lediglich rund 240 Mitglieder haben. Über eigene Verlage wird
dennoch die Ideologie darüber hinaus in der rechtsextremen Szene verbreitet. Zudem sind die Ludendorffer bestens mit anderen Organisationen aus dem rechtsextremen Spektrum vernetzt.
205
Ideologie
Die Ideologie der Ludendorff-Bewegung ist maßgeblich von den
Schriften Mathilde Ludendorffs und ihres Mannes Erich Ludendorff
geprägt. Heute bezieht man sich zumeist nur auf Mathilde Ludendorff,
wie es auch der BfG in seiner Satzung festgehalten hat. Zumeist distanzieren sich die rechtlichen Vereinigungen der Bewegung von den
„Kampfzielen“, die Erich Ludendorff 1927 formuliert hatte. Sie werden jedoch als Leitfaden des Ehepaars für die nächsten Jahre gesehen
(Radler 1987)421. Darin forderte Ludendorff, das Geldwesen müsse von
„allen fremdblütigen Verseuchungen gereinigt“ werden und „dem wieder mit der Scholle verwachsenen Volke“ müsse „die Einheit von Blut,
Glaube, Kultur und Wirtschaft, wie sie einst die Ahnen besaßen, wieder
errungen werden“. „Blutsbewusstsein und Rassestolz sind Rückgrat des
Volkes.“ „Der Eigennutz der Arbeitgeber und die Antwort darauf, der
Klassenkampf der Arbeitnehmer“ seien „entartete Wirtschaftsformen
in einem verjudeten Staate“. „Die Befreiung vom jüdischen Zinsjoch
wird Wohlstand für alle Deutsche bringen.“
Die einzelnen Schriften, die von Mathilde und Erich Ludendorff herausgegeben wurden, sind ab spätestens 1927 nicht mehr einem der beiden zuzuordnen, weshalb vom „Hause Ludendorff“ gesprochen wird.
Schon deshalb ist die Distanzierung der heutigen Ludendorffer von
Erich Ludendorff wohl vor allem Verbotsängsten geschuldet.
Kernelement der Ideologie ist der „Abwehr-“ und „Vernichtungskampf“ gegen die von Ludendorff als „überstaatliche Mächte“ bezeichneten „Feinde der Völker“. Freimaurer, Jesuiten, die Katholische
Kirche und vor allem die Juden werden als diese „Mächte“ zusammengefasst. Auch Kommunismus und Sozialismus würden den Juden zur
Ausweitung ihrer Macht dienen. Die christliche Lehre sei eine „Propagandalehre zur Herbeiführung der Juden- und Priesterherrschaft“
(Erich Ludendorff). Die angestrebte Vernichtung der „Überstaatlichen
Geheimmächte“ wird als Abwehrreaktion gegen den „Kulturkampf“
der „Mächte“ gerechtfertigt.
421 Die jeweiligen Quellen sind im Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags jeweils detailliert aufgeführt
206
Rassismus
Die Ludendorffer geben sich heute ethnopluralistisch, treten also für
die „Erhaltung aller Völker“ ein. Der BfG weist daher auf seiner Internetseite darauf hin, dass Mathilde Ludendorff für die „Gleichberechtigung der verschiedenen Rassen und ihrer Völker“ einstand. In
Wahrheit warnte Ludendorff vor allem vor der „Rassenmischung“, weil
sie darin die „Entwurzelung der Völker“ sah. Auch die „rassische Eigenart des Gotterlebens“ sei dadurch bedroht.
„Entwurzelte Völker“ würden „dem Untergang entgegentaumeln“,
prophezeit Mathilde Ludendorff. Mit neidischem Blick betrachtet sie
daher die „rassereinen und noch ungestört im arteigenen Gotterleben
weilenden Völker“, deren „Volkserhaltung durch das weise Wirken der
Volksseele in den einzelnen Menschen“ gesichert scheine. „Die Männer
kämpfen heldnisch bis zur Hingabe ihres Lebens gegen den Feind, und
die Frauen tragen Mutterschaftsschmerzen, erfüllen Mutterpflichten
und andere Volkspflichten als Selbstverständlichkeit in Freudigkeit“
(Mathilde Ludendorff 1973).
Mathilde Ludendorff schaffte zur Unterscheidung der Völker die Begriffe „Licht-“ und „Schachtrassen“, letztere werden auch als „Schattenrassen“ bezeichnet. Die „Lichtvölker“ stünden dabei dem Göttlichen näher (Amm 2006: 122ff.).
Den „Überstaatlichen Mächten“ wird vorgeworfen, eine „Vermischung
der Völker“ zu forcieren, um so eine „Schwächung der Völker an Blut
und Seele“ zu erreichen. So wandte sich auch der langjährige BfGVorsitzende Gunther Duda gegen den „einweltlerisch-multikulturellen
<<Antirassismus>>“.
„Überstaatliche Mächte“
Nicht nur feindliche Staaten und Heere, sondern vielmehr die „Überstaatlichen Mächte“ würden einen „Kampf gegen das Leben der noch
freien Völker“ führen, schrieb Erich Ludendorff 1931. So sei bereits
der Erste Weltkrieg von diesen „Mächten“ initiiert worden. Ihr Ziel sei
die „Unterjochung aller Völker“. Das Judentum wird hier als Urheber
207
dieser „Mächte“ gesehen. So soll es die christliche Lehre geschaffen haben. Das Neue Testament sei daher eine „Propagandaschrift für (die)
Herbeiführung der Judenherrschaft über die anderen Völker“. „Der
Jude“ gehe bei seinem „Streben nach Weltherrschaft“ hinterlistig vor
und agiere aus dem Verborgenen. Erich Ludendorff berief sich auch
auf die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“, die eine „jüdische Weltverschwörung“ beweisen sollten. Der Industrielle und liberale
Politiker Walther Rathenau wird von Ludendorff als „überzeugter Vollstrecker der Weisungen der ‚Protokolle der Weisen von Zion’ und als
Künder und Verbreiter des Bolschewismus“ benannt. So sei der Kommunismus eine jüdische Idee und das Ziel der „Diktatur des Proletariats“ eigentlich eine Diktatur des Judentums. Eine „Neue Weltordnung“ werde auf diesem Wege angestrebt: „Die Herbeiführung der
Weltrevolution durch die Enteignung aller Völker und aller Staaten und
ihre Umwandlung in einen Menschenbrei und autonome Wirtschaftsprovinzen unter der Gewaltherrschaft des <<beweglichen Juden>>“.
Dieser Verschwörungstheorie hängen heute vor allem Neonazis an.
In dem „jüdischen System“ bilde zudem die Freimaurerei einen „wichtigen Bestandteil“, die den Deutschen Brauchtum und Riten genommen hätten. Freimaurer seien „auch in ihrer <<Moral>> zu Juden geworden“ und die Jesuiten seien „stark jüdisch durchsetzt“. Werke aus
dem „Hause Ludendorff“ waren dann auch „Das Geheimnis der Jesuitenmacht und ihr Ende“ sowie „Vernichtung der Freimaurerei durch
Enthüllung ihrer Geheimnisse“ (Erich Ludendorff 1931).
Heute leitet sich aus dem antisemitischen Weltbild vor allem der Hass
auf den jüdischen Staat Israel und die Vereinigten Staaten ab. Gegen
Israel und die USA wird in den aktuellen Publikationen und Periodika
gehetzt.
Verhältnis zum Nationalsozialismus
Die Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus ist innerhalb der
Ludendorff-Bewegung uneinheitlich. Trotz der wahnhaften Verschwörungstheorien, die vor allem die Juden als „Weltbeherrscher“ entlarven
sollen und denen von Nationalsozialisten und Neonazis sehr ähnlich
208
sind, wird der NS von Seiten der Ludendorffer abgelehnt. Ebenso,
heißt es auf der BfG-Website, stünde der „Bund“ für „die Ablehnung
jedes religiös-orthodoxen Auserwähltheitsanspruches“. Dass damit die
vermeintlichen „Weltherrschaftsbestrebungen“ der Juden gemeint sind,
ist offenkundig.
Eine der Ansichten innerhalb der Bewegung ist, jüdische Bankiers hätten die NSDAP finanziert. So schrieb Arthur Götze, ehemaliger Kassenwart des BfG, Hitler sei „durch Millionenbeträge (vornehmlich von
jüdisch-amerikanischer Seite) sowie durch geistige Unterstützung führender Weltmacht-Juden hochgebracht und zum Krieg aufgestachelt“
worden. Götze wurde wegen Beleidigung vom Landgericht Hannover
1959 verurteilt. Angezeigt hatte ihn ein Verfolgter des Naziregimes,
dem das Flugblatt zugeschickt worden war. In dem Pamphlet warnte
Götze zudem, dass die „zionistischen Wallstreet-Kreml-Gewaltigen
dasselbe verbrecherische Spiel wie 1933“ jetzt wieder beginnen würden,
berichtete Der Spiegel. Sein Verteidiger vor Gericht war der Anwalt
Wilhelm Prothmann aus Berlin, ab 1951 BfG-Vorsitzender.
Der Nationalsozialismus wird also als Teil eines „jüdischen Plans“ gesehen, der also durch Juden initiiert worden sei und die Vernichtung
des deutschen Volkes zum Ziel hätte. So kritisiert der ehemalige BfGFunktionär Gundolf Fuchs „das Wirken von Gruppen eingeweihter Antirassisten, die zu bestimmten Zeiten rassistische Gedanken propagieren, um später
berechtigte Kritik an rassistischen Maßnahmen unberechtigterweise auf Volksbewusstes Handeln ausdehnen zu können.“ „Einen besonders krassen Fall dieser Art“ hätten wir im 20. Jahrhundert in Deutschland erlebt, „der immer noch die Erhaltung unseres Volkes in seiner Eigenart schwer gefährde.“ Da Holocaust-Leugnung heute in Deutschland unter Strafe
steht, bleibt diese auch in der Ludendorff-Bewegung in der Öffentlichkeit zumeist aus. Doch in dem 2002 erschienenen Buch über die Ludendorff-Bewegung von Hans Kopp, das im „Verlag Hohe Warte“ erschien, wird bezweifelt, dass sechs Millionen Juden während des Holocausts ermordet wurden: „Auch wer die unhaltbare Zahl von 6 Millionen anzweifelte, wurde als Antisemit gebrandmarkt, obwohl man eigentlich erwarten müsste, dass ein Antisemit lieber mehr Tote gesehen hätte.“
Der Holocaust-Leugner Udo Walendy sprach 1991 auf einer BfG-Veranstaltung in Minden zur „Lage des internationalen Revisionismus“.
Die notorische Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel besuchte 2013 die Ostertagung der Ludendorffer in Dorfmark. Haverbeck209
Wetzel betrieb jahrelang das Holocaust-Leugner-Zentrum „Collegium
Humanum“, ehe es 2008 von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble
verboten wurde.
Bei der Einweihungsfeier eines rechtsextremen Zentrums im thüringischen Guthmannshausen war 2014 auch die Vorsitzende des BfG,
Gudrun Klink, anwesend – ebenso wie eine Handvoll weiterer Ludendorffer. Klinks Mann sorgte laut Einladung sogar für die „Eingangsmusik“ bei der Versammlung von über 200 Rechtsextremisten. In der
Immobilie des Vereins „Gedächtnisstätte“ treten regelmäßig Holocaust
-Leugner auf.
Feste
Auch „Brauchtumsfeste“ und Feiern sind fester Bestandteil der Ideologie. Zu Ostern wird [wie erwähnt] alljährlich eine Tagung des BfG im
niedersächsischen Dorfmark bei Bad Fallingbostel (Heidekreis) veranstaltet. Winter- und Sommersonnenwenden werden in Nord- und Süddeutschland organisiert. Ganze Familienbünde reisen zu diesen „deutschen Festen“ Jahr für Jahr ins baden-württembergische Herboldshausen (Kreis Schwäbisch Hall), um dort zusammen das Sonnwendfeuer
zu entfachen und dem Volkstanz zu frönen.
Im Gegensatz zu anderen völkischen heidnischen Gruppen feiern die
Ludendorffer das Weihnachtsfest auch unter diesem Namen und nicht
als „Julfest“. Das heidnische Weihnachten sei im Laufe der Jahrtausende zum „jüdischen Christfest“ verkommen. So hielt auch Mathilde Ludendorff fest: „Das Weihnachtsfest ist urdeutsch.“
Geschichte der Ludendorff-Bewegung
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich der ehemalige Wehrmachts-General Erich Ludendorff, durch Novemberrevolution und
kommunistische Aufstände ideologisch erschüttert, der völkischen Bewegung zugewandt. Hier war er zusehends um politische Einflussnah210
me bemüht und betätigte sich in verschiedenen Organisationen. Bereits
1921 hatte er, vermittelt durch Rudolf Heß, Kontakt zu Adolf Hitler
aufgenommen (Martini 1949: 59).
Im Verbund mit seiner neuen Partei, der NSDAP, sowie der Deutschvölkischen Freiheitspartei organisierte dieser zusammen mit Ludendorff 1923 den gescheiterten November-Putsch in München. Im Gegensatz zu Hitler, der infolge des sich anschließenden Gerichtsprozesses eine einjährige Haftstrafe zu verbüßen hatte, entging Ludendorff
dank seines „Feldherrennimbus“ einer Verurteilung. Während Hitler in
Landsberg einsaß, versuchte Ludendorff seine Rolle als Integrationsfigur in der völkischen Rechten einzunehmen (Breuer 1999: 152f.).
Sein Ziel war es, die verschiedenen Strömungen und Parteien zu einer
handlungsfähigen, gesamtvölkischen Organisation zusammenzuschließen. Obwohl ihm dies zu Anfang mit der Fusionierung der in Süddeutschland starken NSDAP und der in Norddeutschland dominierenden DVFP sowie einiger kleinerer Splittergruppierungen zur „Nationalsozialistischen Freiheitspartei“ am 24. Mai 1924 zu gelingen schien,
sollte Ludendorff in kürzester Zeit sein Unvermögen zur politischen
Führungsperson unter Beweis stellen (Amm 2006: 153).
Dieser nämlich verstand es aufs Beste, sich mit nahezu allen in Frage
kommenden politischen Kooperationspartnern – vom bayerischen
Kronprinzen über Reichspräsident Hindenburg bis hin zu FreikorpsOrganisationen wie „Stahlhelm“ – unwiderruflich zu zerstreiten und
sich so zusehends in die politische Isolation zu begeben. Nachdem sich
schließlich auch Hitler, nach seiner Haftentlassung Ende 1924, von
dem in seinen Augen für die NSDAP gefährlichen Mann abgewendet
hatte, hielten ihm nur noch wenige Organisationen, vorwiegend Wehrverbände, die Treue (Amm 2006: 145f.).
Zusammen mit diesen gründete Erich Ludendorff am fünften September 1925 den Tannenbergbund. Diese Gründung ist entscheidend für
die spätere Entwicklung der Ludendorff-Bewegung, da diese Organisation als Keimzelle aller späteren Gruppierungen und Organisationen
diente (Breuer 1999: 151).
Der Tannenbergbund ähnelte in seiner Konzeption zunächst stark dem
nationalsozialistischen „Frontbann“ Ernst Röhms. Als Dachverband
für Jugend- und Wehrgruppen bestand sein Betätigungsfeld im Wesentlichen im Durchführen von Wehrsportübungen. Der Bund verstand
sich selbst als eine Organisation, die „unabhängig [ist] von parteipoliti211
schen Gruppierungen“ und „einen großdeutschen, völkischen Staat
zum Ziele hat“ (zitiert nach Amm 2006: 147). Ludendorff selbst war in
den Anfangsjahren wenig aktiv und unterstützte den Bund hauptsächlich durch seinen, für viele Deutsche attraktiven, Namen und diverse
Vortragsveranstaltungen. Zwar war er der offizielle Schirmherr des
Tannenbergbundes, dessen Namen auch er selbst ausgewählt hatte, organisatorisch trat er vorerst allerdings kaum in Erscheinung. Der Tannenbergbund unterstand seit seiner Gründung dem Bundesführer General Bronsart und untergliederte sich darunter, streng hierarchisch, in
Landes-, Gau-, Kreis- und Ortsgruppenleiter. Die Mitgliedschaft war
bis 1927 ausschließlich Männern vorbehalten.
Doch bemühte er sich auch um die ideologische Schulung seiner Mitglieder. So erschienen zwei offizielle Zeitschriften des Tannenbergbundes: der „Völkische Kurier“ und die „Deutsche Wochenschau“, welche
ersteren nach einigen Jahren ablöste. Beide Presseorgane gehörten dem
„Verlag für völkische Aufklärung“ an. In der „Deutschen Wochenschau“ publizierte auch Ludendorff regelmäßig. Ihm war es zusehends
an ideologischer Einflussnahme gelegen. Denn der Tannenbergbund
war keine ideologisch homogene Organisation, vielmehr existierten verschiedene Strömungen nebeneinander und Ludendorff zielte darauf ab,
die im Verbund mit seiner Frau entwickelte „Deutsche Gotterkenntnis“, samt ihrer politischen Implikationen, als alleingültige Verbandsgrundlage zu etablieren (Amm 2006: 146). Ab 1927 durchlief der Tannenbergbund daher eine grundlegende Transformation. Das Ehepaar
Ludendorff, geeint durch den paranoiden Glauben an die „Überstaatlichen Mächte“ Erichs und die „philosophischen Erkenntnisse“ Mathildes, trat fortan unter dem Label „Haus Ludendorff“ auf und demonstrierte seine ideologische Einheit auf diese Weise nach außen. Gleichzeitig begannen die beiden, ihre Arbeit im Tannenbergbund zu intensivieren. Es galt diesen nach ihren Vorstellungen umzubauen. Bereits
Anfang der dreißiger Jahre würde er sich vom paramilitärischen Wehrbund zu einer sektenartigen Weltanschauungsgemeinschaft gemausert
haben.
Erich Ludendorff veröffentlichte 1927 seine „Kampfziele“, welche
frappierende Ähnlichkeiten zum NS-Gedankengut aufwiesen. Das
„Haus Ludendorff“ betonte bezeichnenderweise allerdings ab jetzt immer entschiedener seine Verschiedenheit zum erstarkten Nationalsozialismus, der sich zur Hegemonialströmung innerhalb der völkischen
212
Bewegung entwickelte. Wie viele kleinere völkische Organisationen,
neigte auch die Ludendorff-Bewegung zum entsprechenden Sektierertum, um ihr Profil wahren zu können (Breuer 1999: 149).
Die tatsächlichen Unterschiede zur NS-Ideologie bestanden jedoch bei
allen Forderungen, die dieses Pamphlet aufwarf – völkisches Großdeutschland, Brechung der „jüdischen Zinsknechtschaft“, Aufhebung
des Staatsbürgerrechts für Juden, Verhinderung der „Rassenschande“
und Kampf gegen Freimaurerei, Marxismus und Judentum im Allgemeinen – , in einer ungleich radikaleren Einforderung solcher Politik.
Besonders wegen der als christenfreundlich verstandenen, tatsächlich
jedoch bloß kühl kalkulierten Kirchenpolitik der NSDAP, welche sie als
„romhörig“ bezeichnete, griff das „Haus Ludendorff“ die Nationalsozialisten heftig an. Kurz: Den Ludendorffs war die NSDAP zu lasch
(Martini 1949: 70ff.).
Doch auch organisatorisch änderte sich einiges im Tannenbergbund.
Um die Mitarbeit Mathilde Ludendorffs als Teil der neuen „Doppelspitze“ der Organisation neben Erich Ludendorff zu ermöglichen,
wurde die Satzung des Bundes dahingehend geändert, dass nun auch
Frauen Mitglieder werden konnten. Diese „Doppelspitze“ war fortan
die tonangebende Institution der Vereinigung (Amm 2006: 161f.).
1930 wurde der Verein Deutschvolk als Nebenorganisation des Tannenbergbundes gegründet. Dieser ist von Bedeutung, da er eigens der Etablierung der „Deutschen Gotterkenntnis“ als anerkanntem religiösem
Bekenntnis in der Weimarer Republik dienen sollte. Vom Schirmherrenehepaar gegründet, besaß der Verein keinerlei Struktur. Es war ein
loser Verein, dem Mathilde Ludendorff als „Religionsstifterin“ vorstand und dessen Ziel, neben dem genannten, die Erziehung von Kindern und Jugendlichen im „deutschgläubigen“ Sinne war. Dementsprechend gestalteten sich die Aufnahmebedingungen: dem völkischen
Prinzip folgend, durften nur „Deutschblütige“ beitreten, sofern sie sich
zur neuen „Religion“ bekannten und keiner anderen Organisation, insbesondere einer Kirche, mit Ausnahme des Tannenbergbundes angehörten (Amm 2006: 159). Wie der Bund besaß auch Deutschvolk ein
eigenes Presseorgan, die Zeitschrift „Am heiligen Quell Deutscher
Kraft“, welche ab 1930 als eigenständige Zeitschrift im „LudendorffVerlag“ erschien.
Die – trotz der ideologischen Nähe zur NSDAP – seitens der Ludendorffer in der Vergangenheit gegen den Nationalsozialismus abgelas213
senen Tiraden führten nach der Machtergreifung 1933 schließlich zum
Verbot des Tannenbergbundes und seiner Sub- und Nebenorganisationen durch die Landesregierungen des Reiches. Gegen das Ehepaar Ludendorff wurde jedoch keineswegs vorgegangen. Auch deren Verlag
durfte nahezu uneingeschränkt weiterpublizieren, von den Verboten
von „Ludendorffs Volkswarte“ und vereinzelten antichristlichen bzw.
antikirchlichen Broschüren abgesehen.
Doch dies traf die Bewegung weit weniger schwer, als man annehmen
könnte. Zum einen waren bereits vor dem Verbot die Bundesstrukturen
auf den Verlag übertragen worden – die Führer der Suborganisationen
waren etwa als Verlagsredakteure eingestellt worden – zum anderen
verlagerte sich die Publikationstätigkeit der Ludendorffer nun einfach
auf den „Heiligen Quell Deutscher Kraft“, der weiter erscheinen durfte. Neben den ursprünglich rein philosophischen Themen öffnete man
das Themenspektrum des Blattes nun auch für Artikel, die vorher in
„Ludendorffs-Volkswarte“ behandelt worden waren. Dessen Auflage
schnellte bis 1937 dementsprechend in eine Höhe von 86.000 Exemplare pro Ausgabe (Amm 2006: 197).
Insgesamt schlugen die Ludendorffer in ihren Publikationen nun einen
versöhnlicheren Ton an. Auch auf antikirchliche Hetzartikel wurde
weitgehend verzichtet. So kam es wieder zu einer Annäherung zwischen der Ludendorff-Bewegung und den Nationalsozialisten. Am 30.
März 1937, wenige Monate vor dem Tod Erich Ludendorffs, kam es
schließlich zu einer Aussprache zwischen ihm und Hitler. Als Ergebnis
dieses Gesprächs wurde die „Deutsche Gotterkenntnis“ nun sogar als
religiöses Bekenntnis zugelassen. Der „Bund für <<Deutsche Gotterkenntnis (Ludendorff)>>“ entstand als Nachfolgeorganisation von
Deutschvolk und wurde offizieller Verband dieser neuen „Religion“
(Amm 2006: 195).
Überblick über die Strukturen heute
Das Flaggschiff der Ludendorff-Bewegung ist der heutige „Bund für
Gotterkenntnis (Ludendorff)“, der seinen Sitz im oberbayrischen
Tutzing am Starnberger See hat. Er bezeichnet sich als „Weltanschau214
ungsgemeinschaft“. Jährlich führt der BfG zahlreiche Vortragsveranstaltungen und Tagungen durch, die sich auf die „Gotterkenntnis“
Mathilde Ludendorffs beziehen.
Laut Verfassungsschutzämtern hat der BfG 240 Mitglieder. Des Weiteren finden sich über die Bundesrepublik Deutschland verteilt örtliche
Ludendorffer-Zirkel, genannt „Freundeskreise“. Die „Freundeskreise“
führen zahlreiche interne Veranstaltungen durch. Da die Treffen zumeist nicht öffentlich beworben werden und die Einladung nur über
interne Rundschreiben läuft, ist eine Einschätzung der Gesamtgröße
schwer möglich.
Für die Jugenderziehung der Ludendorff-Bewegung ist der Verein „Arbeitskreis für Lebenskunde“ (AfL) zuständig. Der im Januar 1969 in
Essen gegründete „Arbeitskreis“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, „ausgehend von der Philosophie Mathilde Ludendorffs, der Jugend durch entsprechende
Veranstaltungen bei einer sinnvollen Lebensgestaltung zu helfen“. „Jugenderzieher“ sollen durch den Verein ausgebildet werden. Jahr für Jahr organisiert der AfL zahlreiche „Ferienlager“ in Deutschland und dem europäischen Ausland. Der „Lebenskunde“-Unterricht soll dabei „suchende
junge Menschen des ganzen Volkes“ ansprechen. Volksmusik und
Volkstänze stehen ebenso auf dem Programm wie Wanderungen und
Veranstaltungen zur „Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung“.
Die Ludendorffer unterhalten auch eigene Friedhöfe, sogenannte „Ahnenstätten“. Auf den Grabsteinen finden sich keine christlichen Symbole, sondern germanische Runen und völkische Embleme. Heute finden sich solche „Ahnenstätten“ in Niedersachsen, Schleswig-Holstein
und Nordrhein-Westfalen.
Ferner verfügt die Ludendorff-Bewegung über ein weites Netz an Verlagen und Vertrieben, über welche die Weltanschauung verbreitet wird.
Eine herausragende Stellung hat dabei der „Verlag Hohe Warte“ mit
Sitz im oberbayrischen Pähl (Kreis Weilheim-Schongau) inne. Neben
Schriften Ludendorffs und deren Anhängern vertreibt der Verlag auch
das wichtigste Mitteilungsblatt der Bewegung – die monatlich erscheinende Zeitschrift „Mensch und Maß“, deren Auflage rund 2000 Stück
betragen soll. Weitere Verlage sind vor allem in Schleswig-Holstein ansässig.
Über einige Immobilien verfügen die Ludendorffer in Deutschland und
Österreich. So besitzt der BfG in Brandenburg an der Havel ein Haus
und unterhält ein „Jugendheim“ in Kirchberg an der Jagst (Landkreis
215
Schwäbisch Hall). In Schleswig-Holstein wird ein „Ferienheim“ von
Ludendorff-Anhängern betrieben.
Auch das einstige Landhaus des Ehepaars Ludendorff, die sogenannte
„Villa Ludendorff“, befindet sich in Besitz eines Vereins, in dem zahlreiche Ludendorffer-Funktionsträger aktiv sind. Die „Villa Ludendorff“, die vom Verein „Ludendorff-Gedenkstätte“ unterhalten wird,
dient dem BfG als offizieller Vereinssitz. Im österreichischen Werfenweng im Salzburger Land wird bereits seit Jahrzehnten ein Wanderheim
von Ludendorffern betrieben, das den Namen „Konrad-DeublerHeim“ trägt.
Verwendete Literatur:
Bettina Amm (2006): Die Ludendorff-Bewegung. Zwischen nationalistischem Kampfbund und
völkischer Weltanschauungssekte, Hamburg.
Stefan Breuer (1999): Grundpositionen der deutschen Rechten – 1871 bis 1945, Tübingen.
Winfried Martini (1949): Die Legende vom Hause Ludendorff, Rosenheim.
Rudolf Radler (1987): Ludendorff, Mathilde, geborene Spieß, in: Neue Deutsche Biographie 15, S. 290-292, München.
Annika Spilker (2013): Geschlecht, Religion und völkischer Nationalismus – Die Ärztin und
Antisemitin Mathilde von Kemnitz-Ludendorff (1877-1966), Frankfurt am Main.
Gideon Thalmann, Felix Reiter (2011): Im Kampf gegen „überstaatliche Mächte“. Die völkische Ludendorff-Bewegung – von „Jugenderziehung“ bis „Ahnenpflege“, Braunschweig.
216
FEINDBILD MENSCH - ÖKOFASCHISMUS, ESOTERIK UND
BIOZENTRISMUS UND IHRE VERBINDUNGSLINIEN
Peter Bierl
Einleitung
Seit einigen Jahren versuchen Nazis das Thema Ökologie wieder zu
besetzen. Die NPD in den Landtagen von Mecklenburg-Vorpommern
und Sachsen und vor Ort agitiert für ökologische Landwirtschaft, gegen
Gentechnik und Massentierhaltung und für die Förderung regenerativer
Energien. NPD-Funktionäre sind aktiv gegen Braunkohleabbau, Autonome Nationale Sozialisten wenden sich gegen Schweinemastbetriebe,
Nazis mischen in Bürgerinitiativen mit. In Mecklenburg-Vorpommern
und in Niederbayern siedeln Nazis in der Tradition der Artamanen auf
dem Land und präsentieren sich vor Ort als heimat- und umweltbewusste Ökobauern.422
Eine wichtige Publikation ist die Zeitschrift Umwelt & Aktiv, deren
Macher ein enges Verhältnis zur NPD pflegen.423 Die Zeitschrift beansprucht für sich ein „gesamtheitliches“ Denken und führt im Untertitel die Begriffe Umweltschutz, Tierschutz, Heimatschutz. Das Titelbild einer Ausgabe von 2009 zeigt eine Großstadt und den Titel „Die
acht Todsünden der modernen Menschheit“ nach einem Buch von
Konrad Lorenz, dem prominenten Umweltschützer, Nazi-Biologen und
Rassenhygieniker. Eine Geschichte wird auf der Frontseite unter dem
Titel „Blühende Landschaften durch völkischen Selbstmord?“ angekündigt. Wichtige Themen sind in dieser Zeitschrift wie zur NS-Zeit das
Schächten, als angeblich besonders grausame Methode der Juden und
Muslime, die Verklärung der alten Germanen und Israel.
422 Speit, Projekte und Positionen völkischer Ökologie, S.62, S.70ff.; Johannes Melchert, Die ökologische Frage als
Aktionsfeld der NPD in Mecklenburg-Vorpommern, S.85ff., beide Aufsätze in: Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg.,
Braune Ökologen. Hintergründe und Strukturen am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns, 2012
423 Speit, 2012, S.65
217
Herausgeber ist ein Verein Midgard e.V., der Name verweist auf den
germanischen Begriff für die Welt, erinnert aber auch an Willibald
Hentschel (1858-1947), der im Kaiserreich ländliche Mustersiedlungen
zum Zweck der Zucht reinrassiger Arier propagierte. Der Herausgeber
des Blattes, Christoph Hofer, war Bezirksvorsitzender der NPD in Niederbayern.
Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass die Braunen auf grün
machen. Dem liegt ein populäres Missverständnis zugrunde. Ökologie
und Umweltschutz sind nicht per se links, sondern haben in Deutschland im Kaiserreich nationalistische, reaktionäre, antisemitische, rassistische und esoterische Wurzeln.
Bereits 1973 nahm die NPD in ihr Programm einen Passus über
„Volksgesundheit und Umweltschutz“ auf, in dem es um das „gesunde
Erbgut“ des deutschen Volkes ging und der „Schutz der Umwelt und
Natur“ als Bedingung der „Volksgesundheit“ angeführt wurde.424 Der
Jugendverband Junge Nationaldemokraten (JN) verabschiedete 1976 ein
ökologisches Manifest, in dem ein neues Ökologieverständnis propagiert wird. Die Republikaner schrieben sich 1987 die „Erhaltung des
deutschen Volkes und seines ökologischen Lebensraumes“ in ihr Programm.425 Im aktuellen NPD-Programm (2010) werden Massentierhaltung und gentechnisch veränderte Produkte abgelehnt und regenerative
Energien gefordert, um die Unabhängigkeit vom Ausland zu erreichen.
Der NPD geht es stets um rassistische Abgrenzung, etwa in Form eines
Plakats mit der Parole „Atomtod aus Polen“, den rassenhygienischen
Schutz deutschen Erbguts, ähnlich wie der FPÖ in Österreich, die gegen tschechische und slowakische Atomkraftwerke agitiert.
Das Problem ist nicht bloß, dass die Braunen auf grün machen, sondern dass die Grünen braune Wurzeln haben. Die Grünen, nicht bloß
die Partei gleichen Namens, sondern die gesamte moderne Umweltbewegung, die sich im Lauf der 1970er Jahre entwickelte, wurde von
Gruppen und Personen mitgeprägt, die aus dem braunen Sumpf der
424 Speit, 2012, S.66; Melchert, S.82f.
425 Die Republikaner, Programm 1987, S.4
218
Lebensreform und der NSDAP stammten.
Aus diesem Spektrum und dieser Tradition übrig geblieben sind die
Unabhängigen Ökologen Deutschlands (UÖD), die dem bioregionalistischen
Netzwerk Planet Drum Foundation angehören, sowie die Herbert-GruhlGesellschaft e.V., deren Hauptthema neben der Pflege des Gruhl-Erbes
das Thema Bevölkerungspolitik ist. Beide Gruppen sind klein und verfügen nicht über den Einfluss, den etwa der Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL) in den 1960er und 1970er Jahren genoss. In Frankreich verfügt die Schwesterorganisation der UÖD mit Brigitte Bardot, vormals
Sympathisantin des Front National, zwar über eine Prominente, die es
allerdings nicht schaffte, bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten.
Dazu gibt es die Szene der Tauschringe und Regionalgeld-Initiativen,
die auf der Zinsknechtschaftslehre Silvio Gesells (1862-1930) basieren.
Einflüsse und Elemente aus dieser Traditionslinie finden sich heute in
der Globalisierungskritik, bei Attac, im Ökofeminismus sowie in der
Tierrechtsszene.
Generell gilt: Vom Kaiserreich bis heute greifen Völkische und Nazis
jedes politische Thema, jeden Konflikt und jeden Widerspruch auf,
interpretieren diesen gemäß ihrer Weltanschauung und versuchen darüber, Anhänger zu rekrutieren. Das gilt für die soziale Frage, die Frauenbewegung und die Ökologie. Sie sind dabei durchaus flexibel, widersprüchlich, untereinander nicht immer einig.
Definitionen und ideologische Komponenten
Unter Ökofaschismus verstehe ich Ansätze, in denen Ökologie/Umweltschutz in einen völkisch/nationalistischen, rassistischen und/oder
antisemitischen Kontext gestellt werden.
So meint Werner Georg Haverbeck vom Weltbund zum Schutz des Lebens
(WSL): dass die „Unterarten des Menschen ebenso wie die Pflanzen und Tiere
einem jeweiligen Ökosystem zugeordnet“ sind, und Umweltschutz deshalb
„Völkerschutz“ ist, Schutz der „biologischen Substanz vor Überfrem219
dung“.
„Ökologie öffnet uns die Augen dafür, dass Völker nicht nur menschliche Komplexe
darstellen, die durch Sprache, Verhaltensweise, Kultur und Geschichte zu einem
Ganzen zusammengewachsen sind, sie sind auch in ihrem Werden und ihrer unverwechselbaren Eigenart geprägt durch den Boden, aus dem sie wuchsen, durch den
Raum, der sie umfängt, und daraus nicht nur erklärbar in ihrer unverwechselbaren
Eigenart, sondern diesem auch verbunden.“ 426
Im Heidelberger Manifest, 1981, heißt es, „Völker sind biologisch und kybernetisch lebende Systeme höherer Ordnung mit voneinander verschiedenen Systemeigenschaften, die genetisch und durch Traditionen weitergegeben werden.“ Daraus
leiten die Rassisten für „das deutsche Volk ... ein Naturrecht auf Erhaltung
seiner Identität und Eigenart in seinem Wohngebiet“ ab. „Die Rückkehr der Ausländer in ihre angestammte Heimat wird für die Bundesrepublik Deutschland als
eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt nicht nur gesellschaftliche, sondern auch ökologische Entlastung bringen.“ 427
Arne Naess, Begründer der Tiefenökologie, hält eine angebliche Überbevölkerung der Erde für das Hauptproblem. Tiefenökologen wollen
deshalb die Zahl der lebenden Menschen drastisch vermindern.428
Naess lehnt antirassistisches Engagement und eine liberale Einwanderungspolitik ausdrücklich ab, weil „jeder Einwanderer von einem armen in ein
reiches Land ökologischen Streß“ schaffe, weil dessen Kinder das Konsummuster übernehmen.429
Die NPD schreibt, „Umweltschutz ist Heimatschutz“. „Alle Deutschen
müssen sich wieder bewusst werden, dass sie gemeinsam für ihren Lebensraum die
Verantwortung tragen und auch gegenüber kommenden Generationen eine Verpflichtung einhalten müssen, damit diese auch in Zukunft in der Lage sind, die
Kultur der deutschen Volksgemeinschaft zu bewahren.“
426 Haverbeck, Ökologie und Ökumene. Lebensschutz ist Menschenschutz und Völkerschutz, in: Mut, 1983, zitiert
nach Volkmar Wölk, Natur und Mythos, Duisburg 1992, S.37f.
427 Die Zeit, 4.2.1982, nach: Thomas Jahn, Peter Wehling, Ökologie von rechts, Frankfurt/New York, 1990, S.35
428 Arne Naess und George Sessions, bei: Andrea Klepsch, Zur Geschichte der Tiefenökologie, in: Franz Theo
Gottwald, Andrea Klepsch, Hrsg., Tiefenökologie. Wie wir in Zukunft leben wollen, München, 1995, S.18f.;
Interview mit Naess, ebd., S.46f.
429 Naess, Politik und ökologische Krise, in: Franz Theo Gottwald, Andrea Klepsch, Hrsg., Tiefenökologie. Wie wir
in Zukunft leben wollen, München, 1995, S.294
220
Zentrale Begriffe sind Heimatschutz und Volk, Überfremdung und
Überbevölkerung. Zur Begründung wird auf eine angeblich natürliche
Ordnung der Welt, auf ewige Naturgesetze verwiesen, die eine ganzheitliche, organische Ordnung begründen und jedem Lebewesen, jedem
Menschen und Gruppen von Menschen bestimmte Lebensräume und
Plätze in gesellschaftlichen Hierarchien und Einheiten zuweisen. Auf
historisch belastete Begriffe wie Rasse, Rassenhygiene oder Rassentrennung kann verzichtet werden, obwohl es genau darum geht. Die
Forderung „Ausländer raus“ wird ökologisch begründet.
Zwei wichtige Begriffe im ökofaschistischen wie esoterischen Spektrum
sind „ganzheitlich“ und „organisch“.
1.
Der Begriff „ganzheitlich“ meint, dass ein allmächtiges
kosmisches, göttliches Prinzip die Welt durchdringt, strukturiert und ihren Lauf determiniert. Dieses Göttliche und
die darauf basierende Ordnung der Welt kann jeder durch
Erfahrungen, Intuition entdecken (Meditation etc.), ein
solches Wissen jenseits von Wissenschaft, Philosophie und
herkömmlichen Religionen soll für den einzelnen eine
Wende zum Besseren, zu einem glücklicheren, zufriedeneren Leben bewirken.
2.
Aus dieser Perspektive einer göttlichen Ordnung folgt: Das
Subjekt muss sich unterordnen. Ableitung: Kosmisches /
göttliches Prinzip, ewige Naturgesetze, Volks- und Rassengeister und Ganzheiten: Rasse, Volk, Stamm, Sippe, Familie, gesellschaftliche Ordnung, individuelles Schicksal.
Die Vorstellung von einer angeblich natürlichen Ordnung der Welt,
ewigen Naturgesetzen, ganzheitlichen, organischen Ordnungen verbindet den Ökofaschismus im Kern mit esoterischen Gruppen.
Die ganzheitlich-organische Ideologie geht zurück auf Theoretiker der
deutschen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die die bürgerliche
Aufklärung und die Französische Revolution ablehnten. Sie entwickelten einen Begriff der Nation nicht, um wie in Frankreich die Interessen
des Dritten Standes gegen Adel, Klerus und absolutistisches Regime
auszudrücken, sondern im Gegenteil, um deren Macht zu stützen und
221
die Hegemonie des napoleonischen Frankreichs zu brechen. Anders als
in Großbritannien, den USA und Frankreich entstand der Begriff einer
deutschen Nation also nicht aus einer - wie auch immer beschränkten bürgerlichen Revolution, sondern als Projekt der Herrschenden gegen
eine solche Umwälzung. Die Vorstellung von der Nation fußte nicht
auf einem existierenden staatlich verfassten Territorium, sondern wurde von deutschen Dichtern und Denkern biologistisch und spirituell,
aus „deutschem Blut“ und „deutschem Geist“ bzw. „deutschem Wesen“ abgeleitet.430
Der „Volksgeist“, der bei Rudolf Steiner oder David Spangler von der
schottischen Findhorn-Kommune spukt, stammt aus jener Periode.
Gottfried Herder, die Grimm-Brüder und der preußische Rechtsgelehrte und Minister Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) entwickelten
den „Volksgeist“ bewusst als Gegenkonzept zum aufklärerischen Begriff „Volkssouveränität“.
Dieser Volksgeist habe seinen Sitz „in der höheren Natur des Volkes als
eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen“ und erzeugt das
Bewusstsein des einzelnen, ebenso wie Recht, Sprache, Sitte und den
Staat als „die organische Erscheinung des Volkes“, erklärte Savigny.431
Adam Müller leitete aus der „Ganzheit“ Natur die Völker als UnterGanzheiten ab, jedes in sich homogen, nach außen heterogen. Abgrenzung und Krieg waren für Müller und den antisemitischen Lyriker Ernst
Moritz Arndt (1769-1860), um dessen Namenspatronat für die Universität Greifswald vor einiger Zeit gestritten wurde, notwendig, damit ein
Volk sich selbst in dieser „Ganzheit“ spürt. Der Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl (1802-1861) begründete die Einheit des Volkes schließlich auf dem Blut.
Aus dieser Perspektive ist die Welt bzw. die Gesellschaft ein spirituell
fundierter, biologischer Organismus mit verschiedenen Gliedern und
Individuen, die sich dem Ganzen/der Gemeinschaft unterzuordnen haben. Dies beinhaltet der Begriff von der „natürlichen“, „ganzheitli430 Otto W. Johnston: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms, Stuttgart, 1990;
Georg L.Mosse: Die völkische Revolution, Frankfurt/M., 1991, Lutz Hoffmann: Das deutsche Volk und seine
Feinde. Die völkische Droge, Köln, 1994
431 Hoffmann, S.108ff.
222
chen“ oder „organischen“ Ordnung.“ Anstelle von politischen Konflikten und Interessengegensätzen, die Entwicklung und Veränderung
ermöglichen, wird Harmonie gepredigt und erzwungen.
Fritjof Capra, einer der Begründer der Tiefenökologie, spricht von einem kosmischen Geist, einer Selbstorganisationsdynamik, als dessen
Manifestation die Materie erscheint.432 Systeme oder Organismen beschreibt er als sich selbst organisierend, mit relativer Autonomie und in
Wechselbeziehung zur Umwelt, als Teil des Kosmos. „Jeder Organismus
(...) ist ein integriertes Ganzes und somit ein lebendes System. Zellen sind lebende
Systeme, ebenso wie die verschiedenen Gewebe und Organe des Körpers ... Aber diese Systeme sind nicht nur auf einzelne Organismen und ihre Teile beschränkt. Dieselben Ganzheitsaspekte zeigen sich auch in Sozialsystemen - zum Beispiel in einer
Familie oder einer Gemeinschaft - und ebenso in Ökosystemen, die aus einer Vielfalt
von Organismen in ständiger Wechselwirkung mit lebloser Materie bestehen.“ 433
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft interpretiert Capra
biologistisch als Beziehung analog von Zelle und Organ: Verhält sich
die Zelle gegen das System/die Ganzheit Organ, entsteht Krebs.
Alle Übel dieser Welt, gerade auch die ökologischen Zerstörungen, werden von Autoren wie Capra als Ausdruck fehlender Verbindung zum
kosmischen Ganzen diagnostiziert. Die Lösung lautet denn auch „Wertewandel“ (Capra) bzw. sich wieder in die „Große Ordnung“ (Bahro)
eingliedern.434 Es bedürfe innerer Erleuchtung, um zu begreifen, dass
sich hinter den materiellen Erscheinungen das Göttliche verbirgt. Konsequent lehnt Capra sozialrevolutionäre Bestrebungen und marxistische
Analyse ab. Auch die Bioregionalisten und Erdbefreier, die sich auf ihn
beziehen, wollen keine Revolution, sondern prophezeien den Zusammenbruch der Zivilisation. Danach beginnt die bioregionale Stammesordnung beziehungsweise die Wildnis.
432 Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, München 1991, S.322f., S.331
433 Capra, Tiefenökologie - Eine neue Renaissance, in Gottwald/Klepsch, a.a.O., S.123ff., S.126
434 Capra, Wendezeit, S.26f., S.86, S.95, S.208
223
Zur Geschichte der Umweltbewegung in Deutschland
Entwicklung des Begriffs Ökologie
Der Begriff Ökologie wurde 1866 von dem deutschen Zoologen Ernst
Haeckel (1834-1919) geprägt. Er meinte damit: „Die Oecologie der Organismen, die Wissenschaft von den gesamten Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, zu den organischen und anorganischen Existenzbedingungen;
die so genannte Ökonomie der Natur, die Wechselbeziehung aller Organismen, welche an einem und demselben Ort wohnen, ihre Anpassung an die Umgebung, ihre
Umbildung durch den Kampf ums Dasein,…“.435
Schon in dieser Definition verknüpft er Ökologie als Wissenschaft von
den Beziehungen der Organismen zur Umwelt mit der sozialdarwinistischen Idee vom Kampf ums Dasein. Zu diesen Organismen zählen
für Haeckel Rassen, als verschiedene Spezies oder Arten der Gattung
Mensch. Im gleichen Werk, einer Sammlung von Vorlesungen, entwickelt Haeckel eine Rassentypologie nach den Kriterien Haare, Hautfarbe und Kopfform: Lang- und Kurzköpfe, woll- und schlichthaarige,
schief- und geradzähnige Menschen.436
Die Evolution bezeichnete er als kosmische Kraft, die sich in der Natur
verkörpert, Mensch und Natur seien ein zusammenhängendes Ganzes,
beseelt vom pantheistischen Geist. Haeckel propagierte die „Umkehr
zur Natur“, eine „naturgemäße Gesellschaftsordnung“, die den „ewigen
Naturgesetzen“ entsprechen müsse und nach modernsten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltet werden sollte.
Während Haeckel eine „natürliche Gesellschaft“ durch moderne Naturwissenschaft und Technik errichten wollte, distanzierten sich Ökologen nach der Jahrhundertwende unter dem Einfluss der so genannten
„Lebensphilosophie“ von so viel Fortschritts- und Technikoptimismus.
435 Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die
Entwicklungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die
Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen
der Naturwissenschaft, Berlin 1868, S.539
436 Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, S.512, S.514-20
224
Die zentrale These der Lebensphilosophie lautete, dass die neuzeitliche
Geschichte eine Geschichte des Verfalls ist, weil die Ratio herrscht. Unter der Herrschaft der Vernunft werde die menschliche „Ganzheitlichkeit“ aufgelöst, Gefühl und Intuition zurückgedrängt. Der Geist spalte
Leib und Seele, schrieb etwa Ludwig Klages (1872-1956). Er plädierte
für die Rückkehr zu einem naturhaft-unbewussten Leben. Gegen eine
„mechanistische“ Naturwissenschaft, gegen den „lebensfeindlichen“ Intellekt setzte Klages das Herz, das Gefühl und die Instinkte.
Ihren Höhepunkt erreichte die Lebensphilosophie mit Oswald Spenglers (1880-1936) Buch Der Untergang des Abendlandes. Der Mensch gilt als
Raubtier und der Kampf als „Urtatsache“ des Lebens, woraus sich
Herrschaft und Rangunterschiede „natürlich“ ergeben. Geschichte interpretiert Spengler als Aufeinanderfolge verschiedener Kulturen, wobei
jede Kultur ein Organismus ist, Ausdruck einer bestimmten Volksseele.
Auch Spengler setzt die Seele gegen den Geist, Intuition gegen Ratio,
das Organische gegen das Mechanische, das Land gegen die Stadt als
Symbol von Verfall und Dekadenz. Der „Untergang des Abendlandes“
kann nach Spengler verhindert werden durch die Herrschaft einer „unverbrauchten“ weil „jungen“ deutschen Rasse.
In Anlehnung an Spenglers Kulturtheorie entwickelte sich ein neuer
Ökologiebegriff: Die Idee einer linearen Evolution zu immer vollkommeneren Formen wird aufgegeben. Stattdessen gingen Ökologen nun
davon aus, dass Pflanzen- und andere Lebensgemeinschaften einem
Kreislauf von Entstehen, Wachsen, Reifen und Vergehen unterliegen.
Unabhängig von Umweltfaktoren sei im Keim eines Organismus dessen weitere Entwicklung schon vorherbestimmt. Ökologen wie Karl
Friederichs und August Friedrich Thienemann setzten in den 1930er
Jahren diese „ganzheitliche“ intuitive Sichtweise gegen die analytische
Naturwissenschaft, gegen den „mechanistischen Aufklärungsaberglauben“ (Friederichs). Eine ganzheitliche Ökologie sollte, wie schon bei
Haeckel, Leitwissenschaft für menschliches Handeln überhaupt werden.
Friederichs schrieb 1934: „Weiter aber breitete sich die Welle der ökologischen Auffassung aus über alle Lebensgebiete: Heimatpflege und Heimatschutz, Naturschutzbewegung, Städtebau, Volk als Gemeinschaft,
225
Wirtschaft als Organismus.“437
Das einzelne Individuum hatte sich gemäß dem Organismus-Ansatz
dem Ganzen unterzuordnen. Der Ökologe Thienemann legitimierte
damit 1944 weitere Anstrengungen für den faschistischen Endsieg: Die
Welt sei „ ... ein wohlgeordnetes Ganzes ... dessen einziger Sinn in der Erhaltung
dieses Ganzen mit all seiner Dynamik liegt! Dieser Erhaltung des Ganzen wird,
wenn nötig, auch das größte Einzelglied geopfert ... Nicht das Bestehen des Einzelnen liegt, wenn man so sagen darf, im Interesse des Weltgeschehens.“ 438
Nach 1945 verlor der ganzheitliche Ansatz seine Hegemonie in der
Wissenschaft an das Ökosystem-Konzept. Der Begriff wurde 1935 von
dem britischen Verhaltensforscher Arthur George Tansley geprägt. Der
ganzheitliche Ansatz war durch den Faschismus diskreditiert und schien
aufgrund seiner irrationalen Komponente ungeeignet, ökologische Zusammenhänge in quantitativen Größen - mathematisch, physikalisch,
chemisch - auszudrücken; Voraussetzung sowohl für weitere Erkenntnisse als auch für deren kapitalistische Verwertung.
Ganzheitlicher Anspruch und Ökosystem-Denken schließen sich jedoch nicht aus. So definiert etwa Carl Amery, ein Mitgründer der Grünen, Ökologie einerseits als naturwissenschaftliche Disziplin, die mit
quantitativen Methoden die vielfältigen Abhängigkeiten und Verknüpfungen zwischen verschiedenen Arten erforscht, andererseits erhebt er
sie in den Rang einer „Leitwissenschaft“. Die Ökologie soll den Platz
des Menschen in einem „Netz planetarischer Beziehungen“ bestimmen
und den „Anthropozentrismus“ überwinden.439
Anthropozentrismus ist ein Kampfbegriff. Gemeint ist eine Sichtweise,
die vom menschlichen Standpunkt ausgeht und andere Lebewesen bzw.
die gesamte Umwelt in Bezug zum Menschen interpretiert. Für Amery
wie Rudolf Bahro ist dies bereits der Sündenfall, der zur ökologischen
Zerstörung führt. Manche Tierrechtler und Tiefenökologen bevorzugen darum den Begriff „Mitwelt“.
437 Antifa-Gruppe Freiburg, Beiträge zur Kritik des Ökologismus, Freiburg 1989, S.8
438 Antifa-Gruppe Freiburg, S.8
439 Carl Amery, Natur als Politik, Reinbek, 1978, S.36
226
Manche Ökologen interpretieren den Anthropozentrismus als Ausfluss
des Judentums. Aus Sätzen des Alten Testaments wie „Macht Euch die
Erde untertan“ wird abgeleitet, letztlich habe die jüdische Religion eine
rein instrumentelle Sichtweise auf die „Mitwelt“ begründet. Für Antisemiten steht seit dem Kaiserreich fest, dass die Juden als Wüstenvolk
damit schuld an der Umweltzerstörung seien. Die „Reklamekrankheit“,
also die Aufstellung von Werbeplakaten, ein Ärgernis für deutsche Natur- und Heimatschützer, führte Walther Schoenichen (1939), einer der
führenden Naturschützer, auf „eine Infektion mit jüdischem Giftstoff“
zurück. Sein schwäbischer Kollege Hans Schwenkel attackierte 1937 das
Judentum, weil dieses „dem ersten Buch Mose“ nach angeblich „keinen
Naturschutz“ kenne.
Das Stereotyp, das Judentum wäre aufgrund seiner Religion grundsätzlich patriarchal und umweltfeindlich, kursiert bis heute in umweltorientierten und feministischen Kreisen. So etwa bei Franz Alt (1989) in seinem Bestseller über Jesus als den „ersten neuen Mann“, der als umweltbewusste, feminine Lichtgestalt vor dem Hintergrund einer patriarchalen, aggressiven und ausbeuterischen Religion gezeichnet wird, oder in
Schriften von Reinhard Falter, einem ehemaligen Mitglied der Grünen,
der sich als Naturphilosoph und Historiker bezeichnet. Nach Ansicht
Falters gehört eine „religiös bedingte Naturfeindschaft“ zur kulturellen
„Tradition des Judentums“. Der „Kampf des Wüstengottes gegen die
Göttlichkeit der Naturmächte“ wirke bis heute fort.440 Er publizierte in
anthroposophischen Blättern, im Jahrbuch der „Herbert-Gruhl-Gesellschaft“ und dem Blatt Ökologie der „Unabhängigen Ökologen Deutschland“, und will den Naturschutz als elitären, romantischen Heimatschutz wiederbeleben. 2006 verfasste Falter einen Aufsatz über „Strömungen im frühen Naturschutz“ in einem Band, den das bayerische
Umweltministerium herausgab.
Der Gegenbegriff zum Anthropozentrismus ist der Biozentrismus, wie
er heute von Tiefenökologen und Tierrechtlern vertreten wird, aber
auch von Hubert Weinzierl, dem ehemaligen Vorsitzenden des BUND
und Freund des Nazi-Biologen Konrad Lorenz: Die Erde, auch Mutter
440
Reinhard Falter, Das Umweltproblem neu formulieren. Ein Versuch jenseits von Naturalismus und Soziologismus, in: Naturkonservativ heute, 3. Jahrgang 2003, S.25
227
Erde oder Gaia genannt, gilt als ein Lebewesen, ein Organismus. Menschen, Tiere und Pflanzen hätten alle den gleichen, in ihnen selbst liegenden Wert, der Mensch habe kein Recht, diese Vielfalt zu verringern,
außer um „überlebensnotwendige Bedürfnisse“ zu befriedigen. Praktisch bedeutet Biozentrismus, dass Menschen abgewertet werden.441
Selbstverständlich sollten wir die Umwelt, die Tiere und Pflanzen pfleglich behandeln. Wir können ihnen einen eigenen Wert zuschreiben, wir
können ihnen Rechte geben und diese in Gesetzen und Verordnungen
fixieren. Aber immer sind es Menschen, die dies tun. Bei Tierrechten im
pathetischen Sinn von Aufklärung und Revolution zu sprechen, ist unsinnig, weil es einen fundamentalen Unterschied zwischen Menschen
und Tieren gibt: Tiere können fühlen, kommunizieren und Werkzeuge
benutzen, aber sie sind nicht zu einem kollektiven, solidarischen Kampf
um solche Rechte fähig, Tierschützer wie Tierrechtler führen einen
Stellvertreterkampf.
Als Menschen können wir keinen anderen als den „anthropozentrischen“ Standpunkt einnehmen. Ökologie, schreibt Jürgen Dahl, „beschreibt, was ist und nicht was sein soll“.442 „Was ökologisch falsch und was
richtig ist“, so Dahl weiter, „die Auskunft darüber ist gar nicht aus der Ökologie
zu erlangen, vielmehr ist jedes Urteil darüber von den Wünschen und Wertsetzungen
dessen abhängig, der das Urteil abgibt.“ Eine Stubenfliege würde von optimalen ökologischen Bedingungen sprechen, wenn die Hauskatze unter
den Tisch kotzt. 443 Der Mensch braucht Wasser, Luft und Nahrung in
einer bestimmten Qualität sowie bestimmte klimatische Bedingungen,
um zu leben. Ein Planet aus Eis oder Gas oder ein Wüstenplanet böte
für uns keine angenehmen ökologischen Bedingungen.
Ein solcher anthropozentrischer Ansatz, der Ökologie als Naturwissenschaft begreift, nicht als moralisierende und mystifizierende Leitwissenschaft, wird von Ökofaschisten und Esoterikern angegriffen. So argumentiert Herbert Gruhl, ökologische Systeme wären zu komplex, um
441 Peter Bierl, Bioregionalismus und Tiefenökologie: Statt Befreiung des Menschen die Mystifikation der Erde, in:
ÖkoLinX, Nr. 23, 1996, S.36ff.; Dieter Asselhoven, Andrea Capitain, Wenn Gedanken wie Wildgänse rauschen:
Die Reinkarnation der präfaschistischen Lebensreform, in: ÖkoLinX, Nr.25, 1997, S.11ff.
442 Jürgen Dahl, Ökologie pur, in: Natur 12/1982, S.74ff.
443 Dahl, 1982, S.74
228
verstanden zu werden. Organische/ökologische Prinzipien seien „unergründlich“, nicht wissenschaftlich zu erklären, sondern von „geheimnisvollen Antrieben“ bestimmt wie Hass, Neid oder Hilfsbereitschaft.
Fritjof Capra behauptet, rationales/wissenschaftliches Denken sei linear und deshalb prinzipiell antiökologisch. Das Verständnis ökologischer
Zusammenhänge werde „durch die innerste Natur des rationalen Geistes behindert“. Ökologisches Bewusstsein könne deshalb nur aus einer
„intuitiven Erkenntnis“ entstehen.444
Ökologie und Rassismus/Rassenhygiene
Ein weiteres konstantes Element ökofaschistischen Denkens ist die Eugenik. Haeckel meinte, das Aussterben schwacher oder kranker Menschen wäre ein „Naturgesetz“, das durch die moderne Zivilisation aufgehoben würde, weshalb er wie Darwin eine Degeneration der „Culturvölker“ befürchtete. 445 Haeckel forderte (1879) rassenhygienische Maßnahmen: „Direkt wohltuend wirkt als künstlicher Selektionsprozess auch die Todesstrafe. ... Wie durch sorgfältiges Ausjäten des Unkrauts nur Licht, Luft und
Bodenraum für die edlen Nutzpflanzen gewonnen wird, so würde durch unnachsichtliche Ausrottung aller unverbesserlichen Verbrecher nicht allein dem besseren
Teil der Menschheit der Kampf ums Überleben sehr erleichtert, sondern auch ein
vorteilhafter künstlicher Züchtungsprozess ausgeübt werden ...“ 446.
Solche Ideen waren um 1900 Konsens zwischen Rechten und Linken,
Völkischen und Sozialreformern, Lebensreformern und Frauenbeweg444 Capra, Wendezeit, S.39;
445 Darwin schreibt 1871: „Bei Wilden werden die an Geist und Körper Schwachen bald beseitigt und die, welche
leben blieben, zeigen gewöhnlich einen Zustand kräftiger Gesundheit. Auf der anderen Seite tun wir civilisierten
Menschen alles nur Mögliche, um den Process dieser Beseitigung aufzuhalten. Wir bauen Zufluchtsstätten für
die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken, wir erlassen Armengesetze und unsere Ärzte strengen
die größte Geschicklichkeit an, das Leben eines jeden noch bis zum letzten Moment noch zu erhalten.“ Beispiel
die Pockenimpfung, früher seien tausende wegen ihrer schwachen Konstitution den Pocken erlegen. „Hierdurch
geschieht es, daß auch die schwächeren Glieder der civilisierten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand,
welcher der Zucht domesticierter Thiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, daß dies für
die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muß.“ (Darwin, Die Abstammung des Menschen,
1871, S.148) Darwin entwickelte seine Evolutionstheorie unter Einfluß der ökonomischen und bevölkerungspolitischen Theorien von Adam Smith und Thomas Malthus. Der Konkurrenzkampf des Kapitalismus wurde
so auf die Entwicklung der Natur übertragen. Wie Malthus lehnte auch Darwin jede Sozialgesetzgebung als
„gegen die Natur“ ab (Jeremy Rifkin, Biotechnik - Schöpfung nach Maß, Reinbek, 1988, S.61ff.).
446 Antifa-Gruppe Freiburg, 1989, S.7f.; Mosse, 1991, S.109ff.
229
ten aus der Mittelschicht. Deren Verfechter und Anhänger wollten die
Eugenik zu einer rassistisch fundierten Technik zur Manipulation
menschlicher Fortpflanzung entwickeln.
Durch finanzielle und ökonomische Vorteile sollten als erbbiologisch
wertvoll angesehene Menschen der Ober- und Mittelschicht sowie – in
der deutschen Rassenhygiene – die Bauern animiert werden, mehr Kinder zu zeugen, während Minderwertige durch Sterilisierung und Internierung davon abgehalten werden sollten, Kinder zu bekommen.
Ausgangspunkt war ein Horrorgemälde: Demnach führten die moderne
Zivilisation und ein entfesselter Kapitalismus zur Degeneration der
Rasse. Reiche lebten in Luxus und Müßiggang, Spekulanten errafften
ein arbeitsloses Einkommen, arbeitsame Proleten litten an miserablen
Arbeits- und Wohnverhältnissen, während der medizinische Fortschritt
verhindere, dass das Lumpenproletariat ausgejätet werde. Moderne
Kleidung, Genussmittel und falsche Ernährung seien Gift für den nordischen Körper, behaupteten Lebensreformer. Die Menschen würden
durch die Reize der Großstadt und den Materialismus verdorben, dadurch würden bestehende soziale Ordnungen, Familie und Ehe, unterminiert.
Diese Ideologie spiegelte die Unsicherheit der Mittelschicht und des
Bildungsbürgertums wider: In England als Reaktion auf den relativen
Abstieg des Empire gegenüber der Konkurrenz, in Deutschland und
den USA, den beiden Hauptkonkurrenten, in einer Periode der Industrialisierung und Urbanisierung, der kapitalistischen Neustrukturierung
der Gesellschaft.
Die rasante Entwicklung, die Deutschland nach 1871 zu einem führenden Industriestaat machte, verschärfte den wirtschaftlichen Konzentrationsprozess. Während Modernisierungsgewinner die Raubzüge des
Imperialismus planten und organisierten, hofften kleinbürgerliche
Schichten, Bauern, Handwerker, Händler, auf einen Anteil an der Beute
und projizierten als treue Untertanen alles Übel auf angebliche Feinde
der Nation. Die Stadt wurde zum Symbol des Bösen: Brutstätte der
Sozialdemokratie und der Frauenbewegung, Sitz der Intelligenz und des
Geldes, die wiederum im Stereotyp des Juden personifiziert wurden.
230
Lebensreform im Kaiserreich
Die ersten Umweltbewegungen in Deutschland speisten sich aus solchen Ressentiments. Sie protestierten, weil die heile Welt der Kleinstädte, das Idyll des schollenverwachsenen Bauern und der deutsche
Wald zugrunde gingen. Der Musik-Professor Ernst Rudorff (18401916), Gründer der ersten deutschen Umweltorganisation, dem Deutschen Bund Heimatschutz (1904) verknüpfte Naturschutz mit „Heimatschutz“ und zielte damit auf den verhassten „Materialismus“ und die
„Ideen der roten Internationale“. Als es um die Unterzeichner des Aufrufs zur Gründung des Heimatschutzbundes ging, wollte Rudorff zunächst weder Frauen noch Juden dabei haben, lenkte aber wegen der
„jüdischen Presse“ ein.447 Der Schriftsteller Hermann Löns erklärte,
„dass Naturschutz gleichbedeutend mit Rassenschutz“ sei.448
Die Lebensreformbewegung, die Anthroposophie samt ihren Projekten
in Medizin, Pharmazie und Landwirtschaft sowie die Zinslehre Silvio
Gesells, auf der die heutigen Tauschringe und das Regionalgeld basieren, propagierten nicht nur das einfache, natürliche Leben, gesunde Ernährung, frische Luft und Bewegung, Heilkunde und Naturschutz, sondern auch Rassenhygiene.
Diese Öko-Bewegung kämpfte gegen Alkohol und Nikotin, predigte
Tierschutz und Vegetarismus und „nordische Freikörperkultur“ statt
Erotik. Die historisch überlieferte Landschaft, die mittelalterliche ständische Sozialordnung, die Qualitätsarbeit des „bodenständigen“ Handwerkers, das rassisch reine Landvolk sollten erhalten bleiben.449
Ein wichtiger Aspekt der Lebensreformer war die Vorstellung eines
wirtschaftspolitischen dritten Weges, also eines Modells zwischen Kapitalismus und Sozialismus, was dem kleinbürgerlichen Background entsprach. Die Scholle und das Landleben werden idealisiert und bilden
447 Gert Gröning, Siegfried Lichtenstaedter: „Naturschutz und Judentum“, in: Gröning, Joachim Wolschke-
Bulmahn, Hrsg., Naturschutz und Demokratie, München 2006, S.138f.
448 Hans Werner Frohn, Friedemann Schmoll, Natur und Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906-2006,
Bonn 2006, S.60
449 Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassen-
hygiene in Deutschland, Frankfurt/M., 1992, S.188 bis 196, Ulrich Linse, Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München, 1986, S.14 bis S.41, Projektgruppe „Volk und
Gesundheit“, Hrsg., Volk und Gesundheit: Heilen und Vernichten im Nationalsozialismus, Frankfurt/M., 1988,
S.60-67
231
den Kern der reaktionären Utopie eines beschränkten agrarisch-handwerklichen Kleinkapitalismus.
Beispiel dafür ist die Obstbaugenossenschaft Eden. Sie wurde 1895
westlich von Oranienburg auf 150 Morgen Land gegründet, aufgeteilt
in „Heimstätten“. Es gab eine Siedlungsbank, in die man einzahlen
konnte (bei 3,5 Prozent Zinsen), die Kredite an Genossenschaft und
einzelne Siedler gab (zu 4 Prozent Zinsen).450 Die Genossenschaft verkaufte Säfte, Marmeladen und Gelees aus Obst an Reformhäuser in
ganz Deutschland. In Eden wurden die „Pflanzenbutter“ und das
„Pflanzenfleisch“ erfunden. Ideologisch war Eden nach einer kurzen
Anfangsphase völkisch ausgerichtet. Die Genossenschaft warb jahrelang in der Zeitschrift Hammer, dem Zentralorgan des Antisemiten
Theodor Fritsch. In einem Programmheft von Eden heißt es 1917:
Zum „natürlichen“ Leben in der Siedlung sei vegetarische Ernährung
und „deutsch-völkische Gesinnung Voraussetzung. Und dazu befähigt nur deutsches Ariertum“.451
Eden war auch eine frühe Hochburg der so genannten Freiwirtschaftslehre. Dort lebte Silvio Gesell viele Jahre, sowie viele seiner engsten Anhänger und Mitarbeiter, wie der völkische Antisemit Gustav Simons,
der ein Vollkornbrot entwickelte. Dort brachte sein Anhänger Ernst
Hunkel die Zeitschrift Neues Leben heraus.452
Fritsch, der Großmeister des Antisemitismus, von dem Hitler später
sagte, er habe viel von ihm gelernt, war auch der Erfinder der Gartenstadt. Ländliche Siedlungen wie Eden und Gartenstädte sollten den
Rassenverfall durch viel Grün, Schrebergartenidylle und Ackern auf
eigener Scholle aufhalten. Vorsitzender der Deutschen Gartenbaugesellschaft war Bernhard Kampfmeyer, sein Bruder Hans fungierte als Geschäftsführer. Beide waren Sozialdemokraten des revisionistischen Flügels. Zum erweiterten Vorstand gehörten der sozialdemokratische Ras450 Onken, Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld, S.12-18
451 Louis Lerouge, Rinks und lechts kann flau/mann nicht velwechsern - odel doch?, in: Contraste 106/107,
Juli/August 1993
452 Selbst der Gesell-Anhänger Onken schreibt, Eden sei ab 1914 völkisch gesinnt gewesen, der NSDAP seien die
Siedler nach 1933 mit „Naivität und Opportunismus“ gegenübergestanden und hätten sich mit der Blut-und-Bodenideologie gleichschalten lassen (Onken, Modellversuche, S.26, ebenso Fidus-Buch, S.38). Onken, Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Leben und Werk, Lütjenburg, 1999
232
senhygieniker Alfred Grotjahn nebst den bürgerlichen Kollegen Alfred
Ploetz, Max von Gruber und August Forel, der völkische Verleger Eugen Diederichs und Künstler und Architekten wie Paul von SchultzeNaumburg, der sich schließlich in Alfred Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur engagierte und 1933 die Bücherverbrennungen mit initiierte.
Gleichschaltung
Diese bürgerliche Protestbewegung lieferte Personal und Ideen für die
Nazis. Der NS-Führung gelang es, Ideologie und Praxis der diversen
völkischen und lebensreformerischen Gruppen in griffige Parolen und
eine effektive Massenorganisation umzusetzen.
Viele Gruppen und Anhänger dieser Lebensreformbewegung liefen zu
den Nazis über, die anderen schaltete das NS-Regime sukzessiv als organisatorisch eigenständige Gruppen aus, wobei Anpassungsfähigkeit
belohnt wurde. Rudorffs Nachfolger Werner Lindner, seit 1914 Geschäftsführer des Deutschen Bundes Heimatschutz, leitete ab 1933 die
Reichsfachstelle Heimatschutz. Er sorgte zusammen mit Alwin Seifert dafür,
dass die neuen Autobahnen an den Rändern mit heimischen Bäumen
bepflanzt wurden.
Der Landschaftsarchitekt Seifert (1890-1972) zählte bis in die 1960er
Jahre zu den einflussreichsten deutschen Umweltschützern. Seifert war
beim Wandervogel und schon vor dem Ersten Weltkrieg Mitglied einer
kleinen völkischen Gruppe in München. Von 1920 bis 1923 war er Mitglied der rechtsextremen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Seifert
sympathisierte mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, kooperierte mit deren Vertretern und entwickelte ein besonderes Faible für
Kompost, weswegen er den Spitznamen „Herr Muttererde“ bekam.
Seit 1934 war er als „Reichlandschaftsanwalt“ an der Gestaltung der
neuen Autobahnen beteiligt und arbeitete bis Kriegsende als Einsatzleiter der „Organisation Todt“ (OT) an Tarnungen für die Wehrmacht
in Italien und Österreich. Er verlangte, dass die Landschaft im von der
Wehrmacht eroberten Osteuropa „wieder eingedeutscht werden“ müsse. „Der Deutsche muss Wald haben, wo er glücklich sein soll.“ Dage233
gen sei der Slawe „ein Steppenmensch“, der den Osten in eine Kultursteppe verwandelt habe, in der sich der Deutsche unwohl fühle.453
Er deklarierte Steppenlandschaften als undeutsch und forderte, die von
der Wehrmacht im Osten eroberten Gebiete mittels Feldhecken einzudeutschen. Nach Todts Tod 1942 arbeitete Seifert für Rüstungsminister
Albert Speer, dessen Nachfolger, und erhielt Unterstützung von SSObergruppenführer Oswald Pohl. Spätestens ab 1941 scheint Seifert
Verbindungen zur SS aufgebaut zu haben und stand mit Himmler in
Briefverkehr. Seifert war auch an Versuchen in der KZ-Kräuterplantage
in Dachau beteiligt.
Ab August 1933 fasste Werner Georg Haverbeck (1909-1999) im Auftrag von Rudolf Heß, der mit Lebensreform-Projekten sympathisierte,
alle Natur- und Heimatschutz-Gruppen in einem „Reichsbund Volkstum und Heimat“ (RVH) zusammen.454 Haverbeck, Jahrgang 1909, bewegte sich in Kreisen der bündischen Jugend, 1923 trat er der Hitlerjugend bei, 1928 wurde er Mitglied im NS-Studentenbund und der SA,
1929 trat er in die NSDAP ein, 1931 wurde er Reichsschulungsleiter der
Hitlerjugend bis zum Streit mit dem HJ-Führer Baldur von Schirach.
1935 war er Mitarbeiter des SS-Ahnenerbe und bekam ein Promotionsstipendium von Himmler. 1936 wurde Haverbeck Mitglied der SS, 1937
kam es zum Bruch zwischen Himmler und Haverbecks Mentor Herman Wirth, Haverbeck wurde aus der SS entlassen. 1939 war er Kriegsfreiwilliger und ab 1940 machte er Rundfunkpropaganda für das Auswärtige Amt. Nach dem Krieg, 1950, wurde Haverbeck Pfarrer der anthroposophischen Christengemeinschaft.
Bis Anfang 1934 wurden dem RVH rund 10.000 Vereinigungen und
Arbeitsgruppen einverleibt, darunter der Bund Heimatschutz, der Bund
Naturschutz in Bayern als größter Umweltverband, der Volksbund Naturschutz, der Bund für Vogelschutz (heute NABU/LBV), dazu allerlei
Trachtenvereine, Männerchöre, der Plattdeutsche Verband, Reichsbünde für Volksbühnenspiele und Volksspielkunst, Volkshochschulen, Mu453 Alwin Seifert, Die Zukunft der ostdeutschen Landschaft, SdF, Heft ½, Juli 1941, S.20ff.
454 Bundesarchiv Berlin (BA), SS 71 A, Bild 1512, Haverbeck, Lebenslauf (vermutlich 1936 verfasst), Das deutsche
Führerlexikon, Berlin 1934/35, Nachtrag, S.551, Haverbeck, Grundlagen und Aufbau des Reichsbundes
Volkstum und Heimat, in: ders., Hrsg., Volkstum und Heimat (Zeitschrift), Heft 1, April 1934, S.17
234
seen und die Stellen des amtlichen Naturschutzes, insgesamt etwa vier
Millionen Menschen. Der Verband wurde schon im Frühjahr 1935 wieder aufgelöst, weil sich Goebbels, Heß, Alfred Rosenberg und Robert
Ley (DAF) um die Macht stritten und die inzwischen nazifizierten Vorstände der Mitgliedsverbände gegen den Zentralismus Haverbecks waren.
Schoenichen (1876-1956), langjähriger Vorsitzender der Staatlichen
Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen und späterer Direktor der
Reichsstelle für Naturschutz, war ein eifernder völkischer Pädagoge, der
ein „Urdeutschland“ vor undeutschen, zersetzenden Einflüssen retten
wollte. Das Verhältnis zur Natur werde durch die „Erbmasse der Arier“
bestimmt, und Kennzeichen der Germanen sei die Naturverbundenheit, diese „muss auch in Zukunft Merkmal unserer Rasse bleiben“, forderte er. Schoenichen beantragte 1932 die Aufnahme in die NSDAP.
1933 wollte er Dämme bauen gegen eine „wahre Sintflut undeutscher,
ja deutschfeindlicher Kulturströmungen“ und forderte die „Reinigung
des deutschen Volkes“ und der „deutschen Landschaft“. Schoenichen
dankte 1934 dem Führer, weil der den „Wahnwitz der liberalistischen
Weltanschauung“ bekämpfe, jene „Gifte, die unter der Aufschrift ›Aufklärung‹“ verbreitet würden und schon „allzu tief“ sich „eingefressen“
hätten in „unserem Volke“.
Umweltverbände wie der Vogelschutzbund oder der Volksbund Naturschutz führten den Arierparagraph ein.455 Naturschützer, die den
Nazis als Juden galten, wurden hinausgedrängt, wie Benno Wolf (18711943), der 1943 in Theresienstadt ermordet wurde.456
Die biodynamischen Landwirte kooperierten mit den Nazis, wurden
von Darré und Heß gefördert, Himmler ließ in den KZs Dachau und
Ravensbrück mit biodynamischen Methoden experimentieren.
1935 erhielt der Biologe und Lehrer Hans Klose (1880-1963), der 1922
455 Zur Verflechtung des Vogelschutzes mit der Rassenhygiene: Aufruf des Bundes für Vogelschutz 1907, mehr
Nistplätze schaffen, weil die „Verödung unserer Heimat“ drohe. Den Aufruf unterzeichneten die Vorsitzende
Hähnle, Conwentz, Marie Ebner-Eschenbach, Ernst Haeckel, Gerhart Hauptmann, Paul Heyse, Humperdinck,
von Kaulbach, Peter Rosegger, Franz von Stuck, Bertha von Suttner, August Weismann (ARGB, 4. Jahrgang
1907, S.908).
456 Hans-Werner Frohn, Friedemann Schnoll, Bearbeiter, Natur und Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland
1906-2006, Bonn/Bad Godesberg, 2006, S.66, S.130, S.135, S.158f., S.161, S.177, S.191, Andre Andersen, Heimatschutz, in: Brüggemeier, Rommelspacher, 1987, S.154ff.
235
den Volksbund Naturschutz gegründet hatte, den Auftrag, ein Reichsnaturschutzgesetzes zu erarbeiten, das Hermann Göring als Reichsforst- und Reichsjägermeister im Mai 1935 erließ.457 Dem Gesetz folgten bis zum Frühjahr 1937 Durchführungsbestimmungen, Verordnungen zur Erhaltung der Wallhecken, zum Schutz wildwachsender Pflanzen und nichtjagdbarer Tiere. 1940 wies das »Reichsnaturschutzbuch«
schon über 800 eingetragene Naturschutzgebiete auf, in den Naturdenkmalbüchern der Kreise waren mehr als 50.000 Naturdenkmale
verzeichnet. Die nazifizierten Umweltverbände dienten als Feigenblatt,
diese Reservatspolitik als Alibi. Gleichzeitig verursachte die Aufrüstungs- und Autarkiepolitik der Nationalsozialisten einen ungeheuren
Schub an Landschafts- und Energieverbrauch und Umweltzerstörung.
Klose übernahm Ende 1938 die Leitung der Reichsstelle für Naturschutz.
Die Stunde Null:
Klose urteilte 1948 über die NS-Zeit: „Alles in allem: die wenigen Jahre
Friedensarbeit von 1935 bis 1939 bedeuteten zweifellos die hohe Zeit des Naturschutzes in 50 Jahren.“ 458 Eine kritische Aufarbeitung in der Szene fand
nicht statt, im Gegenteil: Entnazifizierung bedeutete auch für die Vertreter des Umweltschutzes Rehabilitierung und den Anfang ihrer Nachkriegskarrieren.
Klose war von 1945 bis 1954 Leiter der Zentralstelle für Naturschutz und
Landschaftspflege. Diese hieß ab 1952 Bundesanstalt für Naturschutz und
Landschaftspflege, aus der das heutige Bundesamt für Naturschutz hervorging.
1950 war Klose aktiv an der Gründung des Deutschen Naturschutzringes,
des Dachverbands der deutschen Naturschutzverbände, beteiligt.
Seifert schloss das Entnazifizierungsverfahren als Unbelasteter ab. 1950
wurde er Professor und 1954/55 Ordinarius für Landschaftspflege und
-gestaltung, Straßen- und Wasserbau an der Technischen Hochschule
München (TH) in Weihenstephan. Er wurde Vorsitzender und Ehrenvorsitzender des Bundes Naturschutz. Eine große Breitenwirkung er457 Frohn, 2006, S.166ff., S.213
458 Frohn, 2006, S.156
236
zielte Seifert mit Werken zur Kompostierung und zum Gartenbau. Sein
Buch „Gärtnern, Ackern – ohne Gift“ (1967) wurde mehrfach aufgelegt und galt einige Zeit als Bibel der ökologischen Bewegung.459
1958 wurde in Salzburg unter Führung des Försters Günther Schwab
der internationale Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL) gegründet, eine
Vereinigung in Deutschland und Österreich, in der sich alte und junge
Nazis, Anthroposophen und Gesellianer sammelten. Konrad Lorenz,
Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, fungierte als
Schirmherr. Bis 1974 hatte der deutsche WSL enge Kontakte zur nazistischen „Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung“, der auch Schwab angehörte und die von dem bekannten Nazi Jürgen Rieger geleitet wurde.
Schwab schrieb in den 50er-Jahren Bestseller wie „Der Förster vom
Silberwald“, „Dackelglück“ oder „Die grüne Glückseligkeit: Ein Handbuch vom edlen Waidwerk“. Er verfasste Broschüren und gab Interviews zu den Gefahren der Atomkraft. Nach Ansicht Schwabs führt die
moderne Zivilisation mit ihren Giften zur Degeneration der weißen
Rasse, weshalb die Amerikaner nicht in der Lage seien „das kleine tapfere und gesunde Volk der Vietnamesen zu besiegen“.
Der Österreicher Schwab war im Oktober 1930 in Wien in die NSDAP
und SA eingetreten, wo er es bis zum Sturmführer brachte. Wegen NSBetätigung wurde er mehrfach als Förster aus dem Staatsdienst entlassen. 1938 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht und bat um eine
Vormerkung für den kolonialen Forstdienst, weil er anscheinend überzeugt war, die Nazis würden Kolonien erringen. Zu dieser Zeit, 1938,
waren von den deutschen Forstbeamten 85 Prozent Mitglieder der
NSDAP.
Eine wichtige Figur war auch der Ernährungspapst Max Otto Bruker,
(1909-2001), Mitglied der SA, Anwärter des NS-Ärztebundes und für das
Amt für Volksgesundheit der NSDAP zugelassen.460 Er gilt in der Umweltbewegung als Experte für gesunde Ernährung. Bruker war Präsi459 Walter Habel, Hrsg., Wer ist Wer?, XVI. Ausgabe, Bd1, Berlin, 1970, S.1227
460 Jörg Melzer, Vollwerternährung, Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus und sozialer Anspruch, Stuttgart
2003, S.358
237
dent des WSL-D und 1969 Kandidat der Freisozialen Union (FSU), der
Partei der Gesell-Anhänger, für den Bundestag. In seinen Büchern predigte er ähnlich wie Gesell eine sozialdarwinistische Ideologie. So konstruiert er einen Zusammenhang zwischen „Frauenkrankheiten“ und
Verhütungsmitteln bzw. gesundheitsschädlicher Lebensweise.461 Wenn
eine Frau dadurch „ihren Körper schädigt“, so hoffte Bruker aus Selektionsgründen auf Sterilität: „vom biologischen Standpunkt aus eine sinnvolle
Maßnahme, weil dadurch der Anteil der Bevölkerung von der Fortpflanzung ausgeschlossen wird, der keine gesunde Nachkommenschaft gewährleisten kann“.462
Weil Frauen Erziehungsarbeit scheuen, komme es zu immer mehr verweichlichten Einzelkindern. „Zur Vorbereitung für die späteren Lebensaufgaben sind drei Kinder geeigneter als nur zwei. Dies entspricht dem Kampf ums Dasein im späteren Leben mehr. Bei drei Kindern sieht sich das eine meist einer Mehrheit von zweien gegenüber.“ 463
Bruker war 1976 bis 1986 Vorsitzender des Deutschen Naturheilbundes
e.V., und von 1972 bis 1986 Schriftleiter des Vereinsorgans Der Naturarzt. Zu seinen Mitarbeitern dort gehörten neben Schwab auch Helmut
Creutz und Margit Kennedy, zwei Gesell-Anhänger, sowie Barbara Rütting, später Landtagsabgeordnete der Grünen. Die drei schrieben auch
für die Zeitschrift Der Gesundheitsberater, die Bruker herausgab. Kennedy
ist eine führende Verfechterin von Tauschringen und Regionalgeld.
In den 1970er Jahren erlebte die Umweltbewegung einen Aufschwung,
hunderte von Bürgerinitiativen entstanden, die Anti-AKW-Bewegung
kämpfte gegen das Atomprogramm der sozialliberalen Koalition. Der
Bericht des Club of Rome (1972) über die „Grenzen des Wachstums“
und seine Resonanz signalisierten eine internationale Sensibilität für das
Umweltthema.
Neben der FSU versuchte die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher
(AUD), die 1965 aus der „Deutschen Gemeinschaft“ hervorging, sich
als grüne Partei zu profilieren. Die AUD engagierte sich zunächst im
nationalistischen Spektrum, gegen die Supermächte und für eine deutsche Einheit, wobei Antiamerikanismus und scharfe Kritik an der
461 Max O. Bruker, Gesund durch richtiges Essen, München, 16. überarbeitete Auflage, 1989, S.146ff.
462 Bruker, 1989, S.147f.
463 Bruker, Lebensbedingte Krankheiten, Hopferau, 1982, S.280
238
CDU/CSU wegen deren Westorientierung charakteristisch waren. Im
Oktober 1973 hielt die Partei einen Kongress „Gesellschaft der Zukunft“ in Kassel ab, auf dem neben Parteiführer August Haußleiter
auch Haverbeck referierte.464
Haverbeck widmete sich der Umweltzerstörung, als deren Ursache er
den „American Way of Life“ ausmachte, der entstanden sei durch Einwanderer, „die ihre Wurzeln aus der Heimaterde herausgezogen haben,
traditionslos einer grenzenlosen Weite ausgesetzt sind“. Diese Kolonisten und ihre Nachfahren würden sich wie Freibeuter benehmen, wie
Wikinger. Die rot-weißen Streifen der Wikinger-Raubschiffe wiederholten sich in der US-Flagge. Diese Haltung verbinde sich mit Aufklärung
und Fortschrittsgläubigkeit zum „Amerikanismus“, der seit 1945 auch
in Deutschland herrsche. Im Ergebnis, so Haverbeck „stehen wir 1973
einer seelischen Verödung und Nivellierung in unserem Lande gegenüber; wir sind überfremdet, wir sind kolonisiert“. Die Grenzen des
Wachstums seien nun offensichtlich, „die Endstation des American way of
life erreicht, und es heißt für uns: Alles aussteigen! Das heißt: die nationale Überfremdung muss nun überwunden werden, der eigene Weg muss wieder beginnen, der
Weg zu uns selbst, der Heimweg zum Menschen.“ 465
Dieser Beitrag ähnelt einem Aufsatz, den Haverbeck in den NS-Monatsheften im Februar 1933 publiziert hatte: Damals hatte er „Fortschrittswahn“, „Vergroßstädterung“ und eine seelische Entwurzelung
angeprangert.466 Positives Wachstum bedeute, so erklärte er 1973, „Samenkorn und Sterben, Geburt und Tod und ist ein Prozeß von Werden
und Vergehen, von ‚Stirb und Werde‘, um immer wieder neues Leben
hervorzubringen, um sich zu verwandeln“.467 1933 beschwor er die
„ewigen Gesetze des Werdens und Vergehens“, den „Rhythmus des
Naturgeschehens“ und das „Bewusstsein des Blutes“, das neu erwache.468
464 Deutsche Gemeinschaft, 24. Jahrgang, Nr. 42, 20.10.1973, Notwendiger Wandel, S.1
465 Haverbeck, Es geht um unser Leben, in: Deutsche Gemeinschaft, 25. Jahrgang, Nr.2, 12.1.1974, S.3
466 Haverbeck, Aufbruch der jungen Nation. Ziel und Weg der nationalsozialistischen Volksjugendbewegung, in:
NS-Monatshefte, Heft 1933, S.57
467 Haverbeck, Es geht um unser Leben, 1973/74, S.4
468 Haverbeck, Aufbruch der jungen Nation, 1933, S.57, S.63f.
239
Die Gründungsphase der Grünen
Die Gründungsphase der Grünen dominierten Anthroposophen wie
die Gruppe um Joseph Beuys, Anhänger Gesells, etwa die „Grüne Liste
Umweltschutz“ aus Niedersachsen, geführt von Georg Otto, vormals
FSU, der WSL, Haußleiters AUD und Fans des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl. Insofern kann man es durchaus
als Erfolgsgeschichte werten, wenn aus der Partei später eine Bio-FDP
geworden ist.
Gruhl hatte in seinem Bestseller „Ein Planet wird geplündert“ (1976)
einen brutalen Sozialdarwinismus vertreten, wonach die Natur angeblich nur die kräftigsten Lebewesen überleben ließe. „Das Individuum ist
unwichtig, die Art wird erhalten und entwickelt.“ Sesshafte Bauern seien Umweltbewahrer, Nomaden dagegen wären „Umweltverderber“,
weil sie keinen Landbesitz kennen, behauptete er, um damit das Privateigentum, für Gruhl das Maß aller Dinge, als Grundlage wahren Umweltschutzes zu rechtfertigen.469
In Baden-Württemberg mischte der wichtigste Ideologe der so genannten Neuen Rechten, Henning Eichberg, mit, ohne Parteimitglied
zu werden. Sein nationalrevolutionäres Hausblatt Wir selbst berichtete
wohlwollend. Beuys publizierte in dem Nazi-Blatt.
Haußleiter, seit dem Saarbrücker Parteitag 1980 einer von drei gleichberechtigten Vorsitzenden, war einer der wenigen prominenten Grünen, der wegen seiner Vergangenheit von interessierter Seite in den
Medien attackiert wurde. Ein ehemaliger AUD-Vorstand erklärte,
Haußleiter habe 1965 mit der NPD über ein Wahlbündnis verhandelt.
In einer Propagandaschrift hatte Haußleiter 1942 „die kämpferische
Zucht der deutschen Wehrmacht“ gerühmt und ihr „die entfesselte
Bestialität der Bolschewiken“ gegenübergestellt.
Nach dem Krieg war Haußleiter 1946 Mitglied der CSU, trat aber 1949
469 In dem Artikel „Fahrt in den Abgrund“, der 1992 in „Wir selbst“ erschien, diffamierte Gruhl den Menschen als
globalen Parasiten. Allenfalls könne der Norden die von ihm prophezeite Apokalypse überleben, vorausgesetzt
die Europäer koppeln sich ab und würden sich einer „Einwanderungsflut erwehren“ können. In seinem letzten
Werk „Himmelfahrt ins Nichts“ zitiert Gruhl zustimmend den Biologen René Dubos: „Für einige überfüllte
Populationen mag dann Gewalt oder sogar die Atombombe eines Tages keine Drohung mehr sein sondern
Befreiung“.
240
wieder aus, wegen der Westorientierung der Union, die er aus einer
deutschnationalen Position bekämpfte. Mit seiner Splitterpartei „Deutsche Gemeinschaft“, die mit organisierten Heimatvertriebenen kooperierte, kämpfte Haußleiter dafür, die Entnazifizierung zu beenden. 1952
schmähte Haußleiter die Nürnberger Prozesse und die Entnazifizierung
als „das dümmste und infamste aller Strafgerichte“ und warf den Alliierten vor, die Konzentrationslager weiter zu benutzen. Nach Ansicht
Haußleiters „plapperten“ deutsche „Papageis“ „Kempners Kollektivschuld-Geschwätz gelehrig nach.“ Er projizierte die deutsche Schuld
auf die Alliierten und die „Phosphorgeneräle von Dresden“.
Haußleiter musste aufgrund der Kritik im Juni 1980 als Bundesvorsitzender der Grünen zurücktreten. In Bayern blieb er weiter aktiv. 1986
zog er in den Landtag ein und konnte allein aus gesundheitlichen Gründen dessen Legislaturperiode nicht als Alterspräsident eröffnen. Auch
Werner Vogel hatte 1983 kein Glück. Auf der Liste der Grünen von
Nordrhein-Westfalen in den Bundestag gewählt, wäre er Alterspräsident
geworden. Vogel musste sein Mandat aufgeben, nachdem die Presse
über seine Mitgliedschaft in NSDAP und SA berichtet hatte.
Nicht wirklich thematisiert wurde hingegen die braune Vergangenheit
von Haverbeck und Baldur Springmann. Vielleicht liegt es auch daran,
dass beide die Grünen 1980/81 schon wieder verließen und in die
Rechtsabspaltung ÖDP wechselten.
Haverbeck war am Gründungsprozess der Grünen führend beteiligt,
auch Linksradikale kooperierten mit ihm.470 Er war beteiligt an jenen
Verhandlungen, die zur Liste „Die Grünen – Sonstige Politische Vereinigung“ zur Europawahl 1979 führte.471
1963 gründet Haverbeck das Collegium Humanum in Calw in BadenWürttemberg. Pläne, dort ein Schulungszentrum einzurichten, scheitern
mangels Baugenehmigung. Stattdessen kaufen Haverbeck und Ursula
Wetzel ein Anwesen in Vlotho. Seit 1968 finden dort Seminare statt:
Die IG Metall soll Betriebsräte dort geschult haben, das Kapital nutzte
470 Jutta Ditfurth, Das waren die Grünen. Abschied von einer Hoffnung, München, 2001, S.80
471 Deutsche Gemeinschaft, 30. Jahrgang, Nr. 6, 10.2.1979, S.2; Nr. 12, 24.3.1979, S.1; Nr. 18, 5.5.1979, S.4ff.,
Richard Stöss, AUD, 1980, S.276f.
241
die Stätte für Führungskräfte-Seminare und Lehrlingsausbildung. Dazu
traten Anthroposophen und Anhänger Gesells wie Helmut Creutz bzw.
Vertreter der FSU auf, in den 1970er Jahren Vertreter der so genannten
Neuen Rechten.472 Haverbeck seinerseits trat als Referent bei der Freien
Akademie auf, die von Mitgliedern der alten NS-Deutschen Glaubensbewegung, darunter Wilhelm Jakob Hauer persönlich, gegründet wurde.473
1974 wird Haverbeck Vorsitzender des WSL, 1980 unterzeichnet er,
zeitweise Professor für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule Bielefeld, den Dortmunder Appell, mit dem die Friedensbewegung gegen
neue amerikanische Atomraketen agitierte, und ein Jahr später das so
genannte Heidelberger Manifest, das große Aufmerksamkeit erregte
und in der öffentlichen Debatte klar als rassistisch verworfen wurde.
Trotz seines Engagements, vielleicht wegen seiner Vergangenheit, befindet sich Haverbeck 1979 nicht auf der Kandidatenliste der Grünen
zur Europawahl, dafür ein anderer ehemaliger NSDAP-Mann und SSBewerber sowie WSL-Funktionär, Baldur Springmann, ein Freund von
Haverbeck.
Springmann prägte einige Zeit das Bild der Grünen, weil er als Ökobauer mit weißem Haar und Vollbart und farbigem Bauernkittel öfter
im Fernsehen auftrat. Er gründete 1978 die Grüne Liste Schleswig-Holstein mit, deren Vorstand er angehörte, und war beteiligt am Zustandekommen jener „Sonstigen Politischen Vereinigung Die Grünen“ zur
Europawahl im Juni 1979. Seit dem Wahlabend war Springmann ein
gefragter Interviewpartner.
Von November 1933 bis März 1934 war Springmann bei der SA, seit
November 1936 SS-Bewerber. In einem Fragebogen für SS-Angehörige
von 1940 für das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS bezeichnet er
sich als gottgläubig, wie viele Nazis, die aus den Kirchen ausgetreten
waren. Außerdem beantragte Springmann im November 1939 die Auf472 Andreas Ferch, Viermal Deutschland in einem Menschenleben: Werner Georg Haverbeck - Genie der Freund-
schaft, Dresden 2000, S.56ff.
473 Ferch, 2000, S.58. Zur Freien Akademie: Stefanie von Schnurbein, Transformation völkischer Religion nach
1945, in: dies., Justus H. Ulbricht, Völkische Religion und Krisen der Moderne, Würzburg, 2001, S.410ff.
242
nahme in die NSDAP und wurde drei Monate später mit der Mitgliedsnummer 7.433.874 aufgenommen.
Während Springmann in seiner Grünen-Zeit stets behauptete, er habe
sich geweigert den Eid abzulegen und sei darum nur SS-Bewerber geblieben, handelt ein mehrjähriger Briefwechsel aus der NS-Zeit mit einer SS-Dienststelle von seiner Ahnengalerie, weil die Angaben zu einigen Urururgroßeltern unvollständig blieben.
Als Marineoffizier während des Krieges wird Springmann zum NSFührungsoffizier ernannt und referiert über ein künftiges deutsches
„Bauernreich“. Seine Schautafel aus der Nazizeit führte er 50 Jahre später noch vor und verstand nicht den Unmut einiger Zuhörer. Er habe
bloß „die Kontinuität der großen Auseinandersetzung unseres Jahrhunderts zwischen profitorientierter Wachstumsökonomie mit ihren großstädtischen und großindustriellen Ballungen einerseits und einer dezentralen, lebensgesetzlichen Ökowirtschaft andererseits aufzeigen“ wollen.474
Nach dem Zweiten Weltkrieg bewirtschaftete Springmann einen Hof in
Schleswig-Holstein. 1954 stellte er den Betrieb auf die biologisch-dynamische Methode um und produzierte für den Demeter-Verband, blieb
aber auf Distanz zu den Anthroposophen, deren Lehre ihm zu christlich schien. Springmann wurde aktiv in der „Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft“ (DUR), einem von naturreligiösen Ex-Nazifunktionären gegründeten Verband. Im „Weltbund zum Schutz des Lebens“
fungierte der Ökobauer als Landesvorsitzender, ebenso war er in der
AUD aktiv.
Wenige Monate vor seinem Tod trat Springmann im August 2003 noch
auf dem Pressefest der NPD-Zeitung Deutsche Stimme in Sachsen
auf.475 Als der Ökobauer starb, wurde er in den Medien als Gründervater der Grünen gewürdigt, ohne dass seine Naziaktivitäten erwähnt
worden wären.
474 Baldur Springmann, Das weiße Wolkenschiff, Koblenz 1995, S.263
475 Dort schmähte der NPD-Chef Udo Voigt das Holocaustmahnmal in Berlin als „Schandmal“, während der 91-
jährige Springmann seine „Aktionsgemeinschaft der Deutschlandliebenden“ vorstellte und das Ende des US-Imperialismus prognostizierte. Als Wehrmachts- und NS-Führungsoffizier hatte Springmann einst den „Amerikanismus“ als Gegenbild seines „deutschen Bauernreiches“ attackiert.
243
New Age, Tiefenökologie, Biozentrismus und Globalisierungskritik
Hippies & Braungrüne Esoterik
Eine zweite Wurzel der modernen Umweltbewegung ist die Esoterikszene, die sich unter der Bezeichnung New Age Ende der 60er Jahre in
den USA ausbreitet, bald Westeuropa erreicht und seit den 80er Jahren
in der BRD boomt.476 Neben alten Organisationen wie der Theosophischen und der Anthroposophischen Bewegung formieren sich neue
Gruppen, die teilweise als Jugendsekten bezeichnet werden. Dazu expandiert das kommerzielle Spektrum mit seinen Verlagen, Zeitschriften
und Unternehmen, Wunderheilern und Therapeuten.
In diesem „Neuen Zeitalter“ werde das irdische Dasein nach kosmischen beziehungsweise göttlichen Gesetzen geregelt: Es herrschen Frieden und Harmonie, Einheit mit Natur und Kosmos. Voraussetzung dafür ist ein „neuer“ spiritueller Mensch, der sich durch die diversen esoterischen Praktiken selbst erschafft.477
In den USA entwickelt sich die Bewegung im Umfeld der überwiegend
weißen Protestbewegung der Mittelschicht gegen den Vietnamkrieg.
Die amerikanische Esoterikerin Marilyn Ferguson betont eigens die Abkehr von der Linken, der sie einen äußerlichen Aktionismus vorwirft.478
In der BRD knüpft die New-Age-Szene inhaltlich und personell an die
APO an. Ihre Anhängerschaft rekrutiert sich vor allem aus der akademischen Mittelschicht. Unter den führenden Ideologen befinden sich
eine Reihe ehemaliger Linker, etwa Rudolf Bahro, Rainer Langhans
oder Dieter Duhm (bei den Anthroposophen Leute wie Lorenzo Ravagli und Christoph Strawe, Ex-Vorsitzender des MSB-Spartakus). Die
476 In den 50er Jahren entwickelte sich in den USA eine Ufo-Bewegung mit Endzeitstimmung. Die Anhänger
glaubten, spirituell höher entwickelte Außerirdische seien mit Raumschiffen erschienen und würden mit einigen
Erdbewohnern kommunizieren und sie vor einer bevorstehenden Apokalypse retten. Die Überlebenden würden
die Pioniere einer neuen Gesellschaft. Die Bezeichnung New Age geht auf die Theosophin Alice Ann Bailey
(1880-1949, eigentlich: Alice La Trobe-Bateman) zurück. (Hans Gerald Hödl in Johann Figl, Handbuch Religionswissenschaft, S.500ff., Jens Schnabel, Das Menschenbild der Esoterik, S.53ff.)
477 Eduard Gugenberger, Roman Schweidlenka, Mutter Erde, Magie und Politik, Wien 1986, S.147ff., Christof
Schorsch, Die Krise der Moderne, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr.40/89, S.3f.
478 Marilyn Ferguson, Die sanfte Verschwörung, Basel 1982, S.241ff. (im Knaur-Verlag mit einer Auflage von 33.000
Exemplaren erschienen)
244
Traditionslinie beispielsweise der Gruppe ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung) in Berlin-Brandenburg reicht zurück
bis in jene Periode der antiautoritären Rebellion, als die Schriften des
Kommunisten und Psychoanalytikers Wilhelm Reich rezipiert wurden.
Eine wichtige Rolle für die europäische Szene spielte die Findhorn-Gemeinschaft, die 1962 in Schottland auf einem Atom- und Luftwaffenstützpunkt gegründet wird. Erster Führer ist der ehemalige Luftwaffenoffizier Peter Caddy. Seine Frau Eileen behauptet, Mitteilungen eines
höheren Wesens bekommen zu haben. Die geistige Hierarchie habe ein
neues Zeitalter angekündigt, das mit dem Erscheinen eines kosmischen
Christus beginne.
Die anfänglich kleine Gruppe knüpft Kontakte zur „Soil Association“,
einer anthroposophischen britischen Adelsvereinigung, und schafft bei
der EG-Kommission eine Findhorn-Meditationsgruppe. Von der UN
wird Findhorn 1997 als NGO anerkannt, Vertreter arbeiten seit Jahren
in diversen Komitees mit.479 Eine Einnahmequelle von Findhorn waren
Seminare und Wirtschaftskonferenzen von Konzernen wie Volvo, Shell,
Rank Xerox, IBM, Philips in ihrem schottischen Hauptquartier, dessen
Grundbesitz von Steuern befreit wurde. Die Gemeinschaft hat heute
etwa 300 Mitglieder und verzeichnet jährlich tausende von Besuchern.480
Findhorn definiert sich als „spiritual community, ecovillage and an international centre for holistic education, helping to unfold a new human consciousness and create a positive and sustainable future“.481 Diese Darstellung verweist auf einen für die Szene typischen Mix aus Esoterik und Umweltschutz sowie auf die ganzheitlich-holistische Ideologie.
Anfangs akzeptierten alle Findhorn-Mitglieder „die Notwendigkeit der
Führung durch einen starken Mann“, durch Caddy, heißt es in einer
Selbstdarstellung. In den 1970er Jahren etabliert sich eine Führungs-
479 http://www.findhorn.org/whatwedo/ecovillage/un_findhorn.php
480 spiritual community, ecovillage and an international centre for holistic education, helping to unfold a new human
consciousness and create a positive and sustainable future
(http://www.findhorn.org/whatwedo/ecovillage/un_findhorn.php)
481 http://www.findhorn.org
245
gruppe 482, danach war David Spangler Chefideologe. Spangler ist für
Gentechnik und Atomkraft 483 und behauptet, wirtschaftlicher Erfolg
und hoher Profit signalisierten gesteigertes spirituelles Bewusstsein 484.
Nach theosophischer Lehre werden nur die am höchsten entwickelten
Angehörigen der fünften arischen Wurzelrasse eine Zukunft im New
Age haben. Für „Materialisten“ und „Eingeborene“ ist da kein Platz,
Herrenmenschen sind gefragt. Spangler meint, die „Schöpfung einer neuen
Zivilisation ... ist kein Werk für Schwache, sondern für die im inneren Leben und
in der äußeren Manifestation Starken, die bereit sind, die Energien zu empfangen
und den Gesetzen ihres sicheren Einsatzes zu gehorchen.“ 485
Findhorn bezeichnet er als Übungsplatz und Heiligtum der „fünften
Wurzelrasse“, gemäß einer Rassentypologie der Theosophie und Anthroposophie, wonach eine fünfte Wurzelrasse die in der Gegenwart
führende sei.486 Die internationale Politik werde bestimmt von „Volksseelen“ als dem „kollektiven Unbewussten oder der Gruppenseele einer
meist ethnischen oder rassischen Gruppe“ sowie „nationalen Wesenheiten“ als „Gruppenseele einer Nation, eines Staates“.487 Wie Helena P.
Blavatsky und Rudolf Steiner bezeichnet er „die Eingeborenenvölker
der Erde“ als spirituell nicht entwicklungsfähig und deshalb „dazu bestimmt ... zu vergehen“.488 Das sei nicht weiter tragisch, schließlich können sie ja als Angehörige einer höheren Kultur wiedergeboren werden.489
Sterben beschreibt Spangler als eine Art Reinigung: „Der Tod von Millionen von Menschen ist nicht an sich eine Tragödie für uns, denn er bedeutet einfach
ihre Geburt in unsere [gemeint ist eine kosmische, PB] Sphäre.“ Für viele
sei „der Tod ein großer Segen“, weil das irdische Dasein nur spirituelle
Energie durch Angst, Gier, Trägheit etc. bindet und schädigt: „Der Tod
482 Edwin Maynard, Hrsg., Leben in Findhorn, Freiburg 1981, S.85ff., Interview mit Peter Caddy in Connection,
Nr.7/8, 1990
483 David Spangler, New Age. Die Geburt eines Neuen Zeitalters, Kimratshofen 1985, S.68, S.90
484 Spangler, 1985, S.71
485 Spangler, 1985, S.95
486 Schweidlenka, Altes blüht aus den Ruinen, Wien 1989, S.54
487 Spangler, Der Geist der Synthese, Kimratshofen, 1985, S.27
488 Spangler, Geist der Synthese, S.45
489 Spangler, Geist der Synthese, S.48
246
ist die kreative Zerstörung der Gewohnheiten“.490 George Trevelyan, ein weiterer Findhorn-Guru, meinte: „Der Atomkrieg ist für die Spirituellen eine
Aussicht auf höchste Freude, nur für Materialisten wird es schrecklich werden.“ 491
1980 erhielt Trevelyan von dem späteren Europaabgeordneten der Grünen, Jakob v. Uexküll, den Alternativen Nobelpreis überreicht.
Tiefenökologie
Den Begriff Tiefenökologie entwickelte der norwegische Philosoph
Arne Naess (1912-2009) 1973 in einem Aufsatz. Seine Absicht war,
Ethik, Normen, Werte und Verhalten mit Ökologie zu verbinden, den
„Übergang von ökologischer Wissenschaft zu ökologischer Lebensweisheit und ganzheitlicher, also allseitig lebensfördernder Praxis ... “ zu
schaffen.492 Er versteht Ökologie also nicht als Naturwissenschaft, sondern als Weltanschauung.
Naess meint, es wäre notwendig, die menschliche Bevölkerungrate zu
stabilisieren und auf ein „vertretbares Mindestmaß zu reduzieren“.493
Auch gegen die Zerstörung der Regenwälder fällt Naess als erste Abhilfe wieder die „Bevölkerungsreduzierung“ ein.494 Naess definiert das
ökofaschistische Standardthema als Markenzeichen der Tiefenökologie:
Er befürwortet die Kooperation mit der Anti-AKW-Bewegung und anthropozentrischen Ökologen: „Jedoch brauchen wir auch Programme, die denen nichts bedeuten, die keine Tiefenökologen sind - zum Beispiel die Reduzierung
der Bevölkerung.“ 495
Die norwegischen Grünen kritisiert Naess wegen einer angeblich zu
liberalen Einwanderungspolitik: „Nachdem der heutige Lebensstil in den reicheren Ländern der Welt im Vergleich zu den ärmeren Ländern eine gigantische
Pro-Kopf-Verschwendung zur Folge hat, schafft jeder Einwanderer von einem armen
490 Spangler, Geist der Synthese, S.54f.
491 Schweidlenka, 1989, S.47
492 Franz-Theo Gottwald, Zur Geschichte der Tiefenökologie, in: Gottwald/Andrea Klepsch, Hrsg., Tiefenöko-
logie. Wie wir in Zukunft leben wollen, München, 1995, S.17ff.; der Sammelband entstand im Auftrag der
Schweisfurth-Stiftung in Kooperation mit der Gesellschaft für angewandte Tiefenökologie e.V.
493 Naess, Einfach an Mitteln, reich an Zielen, Interview, in: Tiefenökologie, 1995, S.47
494 Naess, 1995, S.49f.
495 Naess, 1995, S.51
247
in ein reiches Land ökologischen Stress. Es liegt auf der Hand, dass die Kinder der
Einwanderer gleichermaßen das fatale Konsummuster der reichen Länder übernehmen und so weiterhin zur ökologischen Krise beitragen.“ 496
„Bevölkerungswachstum“ wird bereits im Bericht des Club of Rome
von 1972 als eine Hauptursache ökologischer Zerstörungen und Armut
bezeichnet. Hunger wird nicht analysiert als eine Frage der Verfügbarkeit über Boden oder Einkommen, sondern als das Ergebnis einer
simplen mathematischen Beziehung von Kopfzahl zu bebaubarem
Land. Dem Unternehmer-Club of Rome stellt sich nicht die Frage, was
Hunger beispielsweise damit zu tun hat, dass multinationale Konzerne
in Kenia Blumen oder im Sahel Erdbeeren für den Export anbauen
oder Todesschwadrone Bauern und Bäuerinnen im Trikont von ihrem
Land verjagen.
Die Ökologisch Demokratische Partei (ÖDP) glaubt, „die Bevölkerungsexplosion bedroht das Leben auf der Erde.“497 „Störungen des ökologischen Gleichgewichts ... gehen mit der Bevölkerungsdichte Hand in
Hand“498. Während sie deshalb den „Kinderreichtum der Armen“499
durch Kontrollmaßnahmen in den Griff bekommen möchte, vertritt sie
für weiße deutsche Frauen eine andere Position: Als „wertkonservative“
Partei ist sie „gegen die Tötung ungeborenen Lebens“, Abtreibung dürfe nicht „öffentlich gefördert werden“, indem die Krankenkassen die
Kosten übernehmen.500
Das ÖDP-Grundsatzprogramm von 1997 geht von einem „Teufelskreis aus Armut, Hunger und Bevölkerungswachstum“ und einer „Begrenztheit der Mittel auf dem Planeten Erde“ aus. Im Bundesprogramm von 2002 wird eine Verschwendungswirtschaft auf einem begrenzten Planeten beklagt. Das erinnert an Gruhls Raumschiff-Theorie.
Deutlich wird der nachwirkende Einfluss des Gründers, wenn die ÖDP
eine „Bevölkerungsexplosion“ unterstellt, die das Leben auf der Erde
bedrohe. Einschränkend heißt es, der Lebensstil der Reichen sei schlim496 Naess, Politik und ökologische Krise. Eine Einführung, 1991, in: Tiefenökologie, 1996, S.283ff., S.294
497 ÖDP, Bundeswahlprogramm 1990, S.27
498 ÖDP, Leitlinien zur Zuwandererpolitik
499 ÖDP, Bundeswahlprogramm 1990, S.27
500 ÖDP, Bundeswahlprogramm, 1990, S.16f.
248
mer als der Kinderreichtum der Armen. Der bayerische Landesvorsitzende Suttner rühmte in einer Rede 2006, „das große Problem des Bevölkerungszuwachses in vielen Teilen der Erde haben wir frühzeitig als
Folge mangelnder sozialer Stabilität erkannt und debattiert.“ Die ÖDP
übergeht, dass die Geburtenrate auch in Ländern der Dritten Welt
sinkt, insbesondere für Indien und China bereits eine Überalterung prognostiziert wird, und dass ältere Prognosen zum Bevölkerungswachstum längst nach unten korrigiert wurden. Von einer Bevölkerungsexplosion zu reden ist also nicht bloß eine menschenverachtende Metapher, sondern sachlich falsch.
Gruhl, der Gründer der Grünen, später Vorsitzender der ÖDP, betrachtete Hungerkatastrophen als natürlichen Ausgleich der „Bevölkerungsexplosion“. Der Mensch sei „ein globaler Parasit“ bzw. - Nietzsche zustimmend zitierend - „die Hautkrankheit des Planeten“. Rettung
vor dem drohenden Untergang der Zivilisation gibt es nach Gruhl nur
für einzelne Regionen der nördlichen Hemisphäre: „Die Völker vermehren sich hier nur wenig ... der Bildungsstand erscheint ausreichend.“ Voraussetzung sei aber die Abwehr „der Einwanderungsflut
aus allen Teilen der Welt.“501 In seinem letzten Buch Himmelfahrt ins
Nichts zitiert Gruhl zustimmend René Dubos: „Für einige überfüllte Populationen mag dann Gewalt oder sogar die Atombombe eines Tages keine Drohung
mehr sein sondern Befreiung“.502 Wegen der „völlig anderen Grundeinstellung zum Leben“, so Gruhl, macht dies den Menschen im Trikont
nichts aus: „ ... der eigene Tod wird wie der der Kinder als Schicksal hingenommen“.503
Das Bild von der „Bevölkerungsexplosion“, von der „Menschenflut“
aus dem Süden und Osten wird nicht nur von ÖkofaschistInnen beschworen, sondern auch von liberalen Blättern wie dem SPIEGEL, der
ZEIT oder GEO („Sprengstoff Mensch“) verbreitet.
Sie unterstützen die Praxis westlicher Regierungen und Institutionen
wie IWF und Weltbank: Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika
werden zwangssterilisiert und gesundheitsgefährdenden Verhütungsex501 Gruhl, Die Fahrt in den Abgrund, in der Faschisten-Zeitung „wir selbst“, Nr.1/2, 1992, S.6ff.
502 Gruhl, Himmelfahrt ins Nichts, München 1992, S.244
503 Gruhl, Himmelfahrt ins Nichts, München 1992, S.242
249
perimenten ausgesetzt. Weiße, nichtbehinderte Frauen in den kapitalistischen Zentren hingegen durch Propaganda und Abtreibungsverbote
zum Gebären genötigt. Auch im Weltbevölkerungsbericht des UN-Bevölkerungsfond von 1990 wird das Bevölkerungswachstum als „Hauptursache für die Zerstörung des Bodens in den Entwicklungsländern“
benannt, keineswegs die von multinationalen Konzernen durchgesetzte
Agroindustrie mit Monokulturen, genetisch manipuliertem Saatgut,
Dünger und Giften und dem Anbau von Pflanzen, die als Ersatz für
Ölprodukte dienen und den unsinnigen Autoverkehr künftig antreiben
sollen. Hingegen rechnete die FAO (Welternährungsorganisation der
UN) aus, dass bei einer Umstellung der Landwirtschaft im Trikont auf
bessere Produktmischung, weniger Einsatz von Dünger und Gift, Maßnahmen zur Bodenerhaltung sowie Orientierung am Eigenbedarf 15
Milliarden Menschen ernährt werden könnten.
Insofern greift die Tiefenökologie einen „Klassiker“ ökofaschistischen
Denkens und der Rassenhygiene auf, die sich seit 100 Jahren darum
sorgt, dass eine weiße „Rasse“ von den „Farbigen“ überholt wird.
Die ideologische Grundlage der Tiefenökologie ist ein biozentrisches
Weltbild: Die Erde, auch Mutter Erde oder Gaia genannt, gilt als ein
Lebewesen. Menschen, Tiere und Pflanzen hätten den gleichen, in ihnen selbst liegenden Wert, der Mensch habe kein Recht, diese Vielfalt
zu verringern, außer um „überlebensnotwendige Bedürfnisse“ zu befriedigen.
Zusammen mit dem US-amerikanischen Tiefenökologen George Sessions entwickelte Naess ein Acht-Punkte-Konzept. Als fünften Punkt
formulierten Sessions und Naess, dass „das Wohlsein des Menschen und
seiner Kulturen und das Überleben der nichtmenschlichen Daseinsformen (...) einen
deutlichen Rückgang der Weltbevölkerung voraus(setzt).“ Gefordert werden
vage „andere“ ökonomische, technische und ideelle Strukturen sowie
ein geistiger Wandel, ein anderer Maßstab von Lebensqualität, der anstelle materieller Güter die Wahrnehmung von Situationen mit innerem
Wert setzt.504
504 Gottwald, Zur Geschichte der Tiefenökologie, Tiefenökologie, 1996, S.18f.
250
Ein weiterer zentraler Begriff ist die Bioregion. Zunächst wird „Bioregion“ definiert als „ökologischer Lebensraum, in dem die Natur,
Pflanzen, Tiere und auch Menschen eine umfassende, das Überleben
sichernde Gemeinschaft bilden (sollten).“505
Thomas Berry (1914-2009), ein katholischer Priester, der als „Theologe
der Bewegung“ galt [und Direktor des Riverdale Centre of Religious
Research bei New York war], definierte Bioregion als „häuslichen Schauplatz einer Gemeinschaft wie das Heim der häusliche Schauplatz einer Familie
ist.“ 506 Er leitet daraus sechs Prinzipien ab: Das erste ist die „SelbstFortpflanzung“ als Anerkennung des Rechts jeder Gattung auf ihren
Standort, auf Heimat und auf ihren Platz in der Gemeinschaft.“ Weiter
propagiert Berry jede Bioregion als eigenen, weitgehend autarken Staat
mit regionalspezifischer Religion.507
Jede Bioregion verkörpere obendrein einen bestimmten spirituellen
Sinn, die der Mensch als „Wiederansiedler“ dort intuitiv finden kann.
Das Ziel ist, diese Bioregionen als „natürliche Gemeinschaften“ politisch wiederherzustellen.508 So wie die Erde ursprünglich in Bioregionen
untergliedert war, werde es nach dem Zerfall der zentralistischen Zivilisationen wieder sein: Die Menschen werden sich in regional begrenzten politischen Systemen und ortsgebundenen Bauernwirtschaften wiederfinden.
Der Nation als künstlichem Gebilde wird die Bioregion gegenübergestellt als „gewachsene Einheit“ und „alle Lebensbereiche umfassende
Gemeinschaft.“ So wird ein biologistisches Konstrukt durch ein anderes ersetzt: Rasse und Nation durch Bioregion, Recht auf Heimat und
Naturgesetze. Die Bioregion definiert sich scheinbar natürlich durch
ökologische Gegebenheiten wie Wasserscheiden, in Wahrheit aber sozial durch Abgrenzung nach außen.
Während Naess, Capra und Ferguson eher die bürgerlichen Grünen beeinflussten (Naess war Mitglied und mehrfach Kandidat der norwegischen Grünen), entwickelte sich als radikaler und militanter Flügel der
505 Eduard Gugenberger, Roman Schweidlenka, Bioregionalismus. Bewegung für das 21. Jahrhundert, 1995, S.10
506 Gugenberger, Schweidlenka, 1995, S.12
507 Gugenberger, Schweidlenka, 1995, S.15
508 Gugenberger, Schweidlenka, 1995, S.11
251
Tiefenökologie die Szene der Tierrechtler und Erdbefreier. In diesen
Kreisen wird als weiterer Vordenker der australische Killerphilosoph
Peter Singer angesehen. Singer lehnt als Utilitarist zwar die Tiefenökologie als esoterisch ab, prägte jedoch 1975 den Begriff der Tierrechte
und der Tierbefreiung. Singer hat etwa vorgeschlagen, für medizinische
Versuche geistig behinderte menschliche Säuglinge statt Menschenaffen
zu verwenden und trifft sich damit in seiner Menschenfeindlichkeit mit
dem Biozentrismus.
Dass der Mensch verderbt ist durch die Zivilisation und der Planet von
der Plage befreit werden muss, ist der Kern des Biozentrismus und der
Lehre von der so genannten Erdbefreiung. Namen wie Earth First!
(EF) sind Programm. EF propagierte eine drastische Reduzierung der
Erdbevölkerung sowie einen Einwanderungsstopp in den USA, weil die
„Tragefähigkeit“ begrenzt sei.509
Die US-Bioregionalisten prägten auf einer nationalen Konferenz im
Juni 1993 den Begriff der „Carrying Capacity.“ Diese Tragfähigkeit
meint die Anzahl der Menschen, die mit einem bestimmten Lebensstil
in einer Region leben können, ohne dabei die natürliche, soziale und
kulturelle Umwelt zu vernichten. Abgeleitet wird daraus die Forderung,
für jede Bioregion die jeweilige Carrying Capacity festzustellen, gesetzlich zu fixieren und die Bevölkerungszahl entsprechend zu regulieren.510
Dave Foreman, Herausgeber von Earth First!, faselt von einem „Zurück in die Eiszeit”, allerdings gebe es dafür „viel zu viele Menschen
auf der Erde”, weshalb die Menschheit zugunsten der „Wildnis” ruhig
aussterben könne. „Das Schlimmste, was wir in Äthiopien machen können, ist helfen - das Beste, die Natur ihre eigene Balance finden und die
Leute dort einfach verhungern lassen”, sagte Foreman in einem Interview. „Ebensowenig nützt es, die USA zum Überlaufventil lateinamerikanischer
Probleme zu machen ... das würde bloß zu größerer Zerstörung unserer Wildnis
führen.” 511
Earth First! entstand 1979 in den USA und breitete sich von dort aus
509 Gugenberger, Schweidlenka, Die Fäden der Nornen, Wien, 1993, S.234
510 Gugenberger, Schweidlenka, 1995, S.121ff.
511 Ulrike Heider, Die Narren der Freiheit, Berlin 1992, S.114f.
252
nach Großbritannien und auf den europäischen Kontinent und erreichte Mitte der 1990er Jahre die Bundesrepublik. Im März 1995 erscheint
eine „Übereinkunft aller AnhängerInnen“, unterzeichnet von sechs EFGruppen mit Anschrift. Die Rede ist von einer „Philosophie der totalen
Ökologie“, verlangt wird „das rücksichts- und kompromisslose Verteidigen der natürlichen Artenvielfalt.“ Die Wildnis wird gepriesen als „die
wahre Welt ..., der Lebensfluss, der Ablauf der Evolution, der Aufbewahrungsort
untereinander geteilter Bewegungen innerhalb von 3,5 Milliarden Jahren.“
Der Ausgangspunkt ist ein prinzipieller Antihumanismus: „Der Mensch
ist das einzige Wesen, das in maßloser Gier und Unverständnis unter all
dem Lebenden gewütet hat und nach mehr griff, als ihm zusteht. (...)
Diese Schuld hat sich die Menschheit kollektiv aufgeladen, Reiche und
Mächtige teilen sie mit all ihren Unterdrückten und AuftraggeberInnen.“ Nicht Kapitalverwertung und Staat, rassistische und sexistische
Gewaltverhältnisse sind die Ursachen von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern unterschiedslos wird der Mensch zum Feind erklärt.
Verlangt wird innere Umkehr und Rettung der verklärten Mutter Erde.
„(...) Beginne bei Dir eine Veränderung und Entwicklung. (...) Unser Ziel ist es,
die Industrienationen in Biotope aufzulösen, das imperialistische System in familiäre
Gemeinschaften zu zerschlagen, die geliebte Erde zu verteidigen.“ 512
Tiefenökologie als Globalisierungskritik
1990 gründet Doug Tompkins, vormals Anteilseigner des Modekonzerns Esprit, die Foundation for Deep Ecology (Stiftung für Tiefenökologie).513 Die Stiftung besitzt ein Kapital von etwa 170 Millionen Dollar.
Ihre Mitglieder meinen, der Planet und seine Artenvielfalt würden
durch Wirtschaftswachstum, Industrialisierung, Globalisierung, Überbevölkerung und eine „kulturelle Homogenisierung“ zerstört. Darum
gelte es, die Erde zu schützen, die Wildnis zu verteidigen und wiederherzustellen und „die Homogenisierung der Welt [zu] stoppen“.514
Mitte der 1990er Jahre initiierte die Tiefenökologie-Stiftung das Inter512 Earth First! Deutschland, Übereinkunft aller AnhängerInnen, März 1995, S.2
513 Doug Tompkins, Looking Backward & Forward, www.deepecology.org/lookingback.html
514 Mission Statement der Foundation for Deep Ecology, www.deepecology.org/mission.html
253
national Forum on Globalization (IFG), das seinerseits die Proteste in
Seattle 1999, die Aktionen gegen die Treffen des World Economic Forum in Davos sowie gegen die Weltsozialforen mitorganisierte. Die Verbindung ist eng: Jerry Mander, Gründer und zeitweise Leiter des IFGStabes, war zugleich Programmdirektor der Tiefenökologie-Stiftung.
Die Mitglieder dieses Forums repräsentieren Verbände und Forschungseinrichtungen (NGOs) in Amerika, Asien und Europa.515 Dem
Direktorium gehören an (Stand Mai 2011) Vandana Shiva, Jerry Mander, Walden Bello. Dazu als Emeritus der britische Millionär Edward
Goldsmith.
Goldsmith, Herausgeber des britischen Magazins The Ecologist, kämpft
für eine „natürliche soziale Ordnung“, die hierarchisch sein soll. Vorbild
ist die feudale Ständegesellschaft des Mittelalters.516 Er kooperiert mit
Faschisten in Frankreich und Belgien sowie der „Herbert-Gruhl-Gesellschaft“ in Deutschland.517
Zusammen mit Jerry Mander ist Goldsmith Herausgeber von dem
„Schwarzbuch Globalisierung“, das in Deutschland von der gewerkschaftsnahen Büchergilde Gutenberg publiziert wurde und überwiegend
Beiträge von Mitgliedern des „Internationalen Forum on Globalization“ enthält.518
Besonders beklagen die Autoren eine „Homogenisierung der Kultur“.
So rügt Mander die „aggressive Befürwortung eines einheitlichen Entwicklungsmodells“, weshalb sich alle Länder, „selbst wenn ihre Kulturen so unterschiedlich sind“, sich für dasselbe Wirtschaftsmodell entscheiden würden. Als wäre der weltweite Kapitalismus das Ergebnis
von souveränen Entscheidungen von Ländern, die als kulturell und sozial homogene, voneinander abgrenzbare Einheiten aufgefasst werden,
515 Homepage des International Forum on Globalization (IFG), www.ifg.org, dort: History oft the IFG, Board of
Directors, IFG Associates
516 Eric Krebbers, Goldsmith and his Gaian hierarchy, in: Anti-Fashist Forum, Hrsg., My Enemy’s Enemy,
Montreal, 2001, S.87-95
517 Die Herbert-Gruhl-Gesellschaft ist eine Nachfolgeorganisation der ökofaschistischen „Unabhängigen Ökologen
Deutschlands“, ihrerseits eine Rechtsabspaltung von der konservativen ÖDP. Im Jahrbuch Naturkonservativ
heute, 2001, schrieben neben Goldsmith auch Franz Alt und Baldur Springmann.
518 Edward Goldsmith, Jerry Mander, Hrsg., Schwarzbuch Globalisierung, München 2002, Beiträge lieferten Carl
Amery, Naomi Klein, der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer sowie vom International Forum on
Globalization Vandana Shiva, Walden Bello, Martin Khor und Lori Wallach.
254
und nicht das Produkt von physischer und ökonomischer Gewalt und
Machtausübung durch die kapitalistischen Zentralstaaten seit der Epoche des Kolonialismus. Das Ergebnis ist laut Mander eine „Monokultur –
die globale Homogenisierung von Kultur, Lebensstil und Technologieeinsatz und die
damit einhergehende Zerstörung lokaler Traditionen und Wirtschaftssysteme.“ 519
Als Alternative propagiert Mander lokale, mindestens teilweise autarke
Wirtschaftssysteme.520 Goldsmith schwärmt von einer „Vielfalt locker
miteinander verbundener kommunaler Wirtschaftssysteme“, mit vielen
kleinen Unternehmen, lokalen Währungen und an Silvio Gesell orientierten Tauschringen.521
Goldsmith fordert, dass „eine menschliche Gemeinschaft exklusiven
Zugang zu dem Reichtum haben (sollte) (...), der ihrem lokalen Ökosystem entspringt“. Denn würden die Reichtümer „für jeden Neuankömmling, insbesondere jedoch für vagabundierende transnationale
Konzerne geöffnet“, seien sie schnell ausgebeutet und zerstört.522 Gesellschaften sollten sich abschließen, weil angeblich jede ethnische
Gruppe sowie biologische Organismen Fremdkörper abstoßen, meinte
Goldsmith in einem anderen Werk.523
So werden Kulturen als homogene, statische, unveränderliche Einheiten
definiert, was sie in Wirklichkeit nicht sind und niemals waren, die voneinander getrennt und unvermischt bleiben sollen. Diese Vorstellung
findet sich in der Grundsatzerklärung des International Forum on Globalization und der Tendenz nach in vielen programmatischen Erklärungen
von Globalisierungskritikern wieder.
Dieser Grundsatzerklärung zufolge beherrschen supranationale Handelsbürokratien den Planeten. Das Resultat sei eine „weltweite Homogenisierung von verschiedenen, lokalen und indigenen Kulturen und
Lebensformen, ebenso von Werten und Gewohnheiten zu einer globalen Monokultur.“ Als Alternative betrachtet das Forum die „Entwicklung autonomer, regionaler und lokaler Produktionskreisläufe“ sowie
519 Goldsmith, Mander, 2002, S.11f.
520 Goldsmith, Mander, 2002, S.27
521 Goldsmith, Mander, 2002, S.486, S.499
522 Goldsmith, Mander, 2002, S.496
523 Krebbers, 2001, S.92
255
die „Unterstützung von Biodiversität, kultureller Verschiedenheit und
Verschiedenheit von sozialen und politischen Systemen.“ Das Ziel sind
lokale oder regionale ökonomische Einheiten, die nur lose miteinander
verbunden sind.524
Der vermeintlich linke Professor Bello, Mitglied des IFG, Träger des
Alternativen Nobelpreises, argumentiert, es gebe nicht eine Alternative
zur Globalisierung, also etwa Sozialismus, sondern der Markt müsse
wieder in die Gesellschaft „eingebettet“ werden, in die Werte von Gemeinschaft, Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit. Jede Gesellschaft
müsse dies auf ihre Weise tun, gemäß ihren Werten, ihrer Persönlichkeit
als Gesellschaft.525
Damit ließe sich theoretisch auch ein islamisch eingebetteter Kapitalismus, mit Zinsverbot und Scharia, rechtfertigen oder das frühere Feudalregime der Lamaisten in Tibet. Bello verwendet den Begriff Markt positiv im Gegensatz zu Kapitalismus. Markt suggeriert eine heimelige
Idylle, den Bauernmarkt um die Ecke. Tatsächlich bedeutet Marktwirtschaft immer Warenproduktion, Konkurrenz und Akkumulation von
Kapital bei Strafe des Untergangs, also des betrieblichen Ruins. Marktwirtschaft ist Kapitalismus – das gilt mindestens für unsere moderne
Welt seit 200 Jahren und für die Entwicklung seit dem Mittelalter.
Ökofeminismus
In Deutschland beteiligen sich Anthroposophen und Anhänger Silvio
Gesells samt ihren Tauschringen und Regionalgeld-Projekten sowie die
Ökofeministinnen um Maria Mies an der globalisierungskritischen Bewegung. Die Kölner Soziologie-Professorin sitzt im Beirat von Attac
Deutschland und hat das Frauennetzwerk von Attac mit initiiert. Ihr
Netzwerk gegen Konzernherrschaft und neoliberale Politik hat sich in der Agitation gegen Multilaterale Abkommen für Investitionen (MAI) hervor524 International Forum on Globalization, Position Statement, Januar 1995, www.ifg.org/about/statemnt.htm,
Kommission für Alternativen des IFG, Eine bessere Welt ist möglich! Alternativen zur ökonomischen
Globalisierung, in: Netzwerk gegen Konzernherrschaft, Infobrief Nr.10, Oktober 2002, S.32ff.
525 Walden Bello, Rede vor dem International Strategy Meeting in Beirut, 17. bis 19. September 2004, in: Z-Net,
www.https://zcomm.org/znetarticle/beirut-2004-by-walden-bello/ (abgerufen 15.01.2017)
256
getan.
Die Vision der Gruppe ist reaktionär. Mies verlangt die Rückkehr zu
Mutter Natur und Konsumverzicht und will eine Subsistenzökonomie
einrichten.526 Die Soziologin setzt gemeinsam mit Vandana Shiva (IFG)
auf eine „spirituelle Dimension“ gegen „kapitalistischen und marxistischen Materialismus“.527 Sie teilen die Annahme, dass die westliche Industriegesellschaft zu einer „Zerstörung der kulturellen als auch der biologischen Vielfalt geführt habe, zu einer Homogenisierung der Kulturen nach dem nordamerikanischen Coca-Cola- und Fast-Food-Modell“.528
Mies stellte 1998 in einem Interview klar, wie wichtig ihr die deutsche
Nation ist: „In Frankreich regt sich niemand darüber auf, dass für die nationale
Kultur gekämpft wird. Wenn wir das in Deutschland zum Thema machen würden,
wären wir sofort als Faschisten verschrien. Bei uns wirkt das wie ein Denkverbot und dagegen wehre ich mich.“ 529 Feministisch daran ist, dass Mies bei Nation an ein Mutterland denkt.530
Der Begriff Subsistenz bedeutet eine Wirtschaftsform, in der Menschen nur das herstellen, was sie selbst verbrauchen. Das impliziert geringe Arbeitsteilung und Autarkie, eine handwerklich-agrarisch geprägte
Gesellschaft. Mies und Shiva vermeiden konkrete Angaben, aus ihren
Schriften kann man schließen, dass sie an einen Lokal-Kapitalismus
denken. Ihre Subsistenzökonomie soll nicht näher definierte menschliche Bedürfnisse befriedigen. Lokale Gemeinwesen sollen „wieder Kontrolle über ihre natürlichen, lebenswichtigen Ressourcen gewinnen: über
Wasser, Land, Wälder, Artenvielfalt und diese weder privatisiert noch
verstaatlicht werden.“ Ziel ist eine weitgehende Autarkie auf nationaler
526 Maria Mies, Patriarchat und Kapital, Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, dritte Auflage, 1990, S.284-
286; Mies, Moral Economy und Subsistenz, Perspektive im Norden und Süden, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, Nr.118, September 1998, S.15ff. (der Text ist die gedruckte Version eines Vortrages von Mies auf einer
Tagung von CGW und INWO im Mai 1998); Mies, Globalisierung von unten - Widerstand und neue Perspektiven, Vortrag auf dem evangelischen Kirchentag, 16.6.2001; Mies, Piraten des 21. Jahrhunderts: Globaler
Freihandel als neokoloniales Kriegssystem, in: Freitag, Nr.21, 17.5.2002: in diesem Beitrag behauptet sie, erst der
„Krieg gegen den Terrorismus“ würde die „unabhängige Reproduktions- und Subsistenzfähigkeit“ in Zentralasien, Indien, Pakistan und Afrika zerstören.
527 Maria Mies, Vandana Shiva, Ökofeminismus. Beiträge zu Praxis und Theorie, Zürich 1995, S.27
528 Mies, Shiva, 1995, S.20
529 Mies, Regionalisierung statt Globalisierung, Jungle World, 15.4.1998
530 Mies, Frauen haben kein Vaterland, in: Mies, Shiva, 1995, S.172
257
und regionaler Ebene: „Die Produktion von Nahrung in der eigenen
Region ist wichtiger als die Produktion von Industriegütern.“ „Jedes
Land soll zunächst dafür sorgen, dass es, so weit möglich, die notwendige Nahrung auf dem eigenen Territorium anbaut.“ Der Welt- und
Fernhandel sollte auf Luxusgüter beschränkt bleiben.531
Mies und Shiva stellen sich so wenig wie andere Globalisierungskritiker
die Frage, warum sich der Kapitalismus aus bescheidenen Anfängen im
europäischen Mittelalter zur alles beherrschenden planetaren Gesellschaftsordnung entwickelt hat und ob es überhaupt möglich ist, dessen
Akkumulationsdynamik auf lokale oder nationale Räume zu begrenzen.
Der spezifisch feministische Beitrag von Mies ist, dass sie die Lohnarbeit nicht abschaffen, aber die „Nicht-Lohnarbeit“ zur Hälfte von Männern verrichten lassen will.
Schwundgeld und Tauschringe
Zwei Organisationen von Gesell-Fans, die Christen für eine gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) und die Initiative für eine Natürliche Wirtschaftsordnung
(INWO), sind Mitgliedsorganisationen von Attac Deutschland. GesellAnhänger treten auf Attac-Veranstaltungen als Referenten auf oder geben sich als Attac-Vertreter aus. Attac-Gruppen verbreiten Propagandamaterial von Gesellianern. In einer Reihe von Staaten organisieren Gesell-Anhänger seit 1983 so genannte Tauschringe, eine Art Mini-Kapitalismus mit eigenen Phantasiewährungen, um die Lehren ihres Meisters theoretisch und praktisch zu verbreiten.
Die Mitglieder tauschen nicht einfach Güter oder Dienstleistungen,
sondern es gibt Preise. Kauf und Verkauf werden auf Konten als Soll
und Haben in einer Phantasiewährung verbucht. Bei manchen Tauschringen gilt das Prinzip des „Schwundgelds“, in französischen Gruppen
auch „schmelzendes Geld“ genannt: Guthaben werden in regelmäßigen
531 Mies, Moral Economy und Subsistenz, Perspektive im Norden und Süden, in: Zeitschrift für Sozialökonomie,
Nr.118, September 1998, S.24, sowie Mies, Den kapitalistisch-patriarchalen Eisberg abschmelzen! SubsistenzLebenswelten aufbauen!, in: Netzwerk gegen Konzernherrschaft, Infobrief Nr.11, Januar 2003, S.7ff.
258
Abständen entwertet, können also nicht „gehortet“ werden. Eine finanzielle Vorsorge für Alter, Krankheit oder Behinderung ist prinzipiell
nicht vorgesehen.
Die deutschen und französischen Tauschringe durften auf den Europäischen Sozialforen ihre Ideen als Beitrag im Kampf für eine andere
Welt vorstellen. Eine neuere Variante sind die Regionalgeld-Projekte,
von denen es zur Zeit knapp zwei Dutzend in Deutschland gibt und in
denen Gesellianer und Anthroposophen kooperieren. Der Chiemgauer
hat es zu einer gewissen Prominenz gebracht, nachdem alle großen Zeitungen Jubelberichte druckten. Schüler und Lehrer der Waldorfschule
in Prien am Chiemsee haben dieses Regionalgeld entwickelt. Seit Oktober 2002 kann man in dem wohlhabenden Kurort in der Waldorfschule
Euros gegen Chiemgauer tauschen und damit in Geschäften am Ort
einkaufen.
Der Chiemgauer verliert automatisch alle drei Monate zwei Prozent
seines Wertes. Wer Chiemgauer wieder in Euro zurücktauscht, muss
fünf Prozent abgeben, drei Prozent für allerlei wohltätige Projekte,
zwei Prozent für den Verein „Chiemgauer Regional-Verein für nachhaltiges Wirtschaften“, den die Waldorfleute gegründet haben. Das Ganze
ist allenfalls ein Marketinggag für den heimischen Einzelhandel. Die
zwei- bis fünfprozentigen Abschläge können die Firmen als Werbekosten absetzen.
Tauschringe und Regionalgeld-Projekte beziehen sich auf die Lehren
des deutsch-argentinischen Kaufmanns Silvio Gesell (1862-1930), der
den Zins zur Wurzel allen Übels erklärte. Seine Lehre fußt auf der Annahme, dass Geld nicht „rostet“ oder „verfault“. Creutz, einer der wichtigsten Vertreter in der Bundesrepublik, illustriert das in Vorträgen und
Büchern mit einem Bild: Geldscheine, Obst und Arbeiter werden in
verschiedenen Räumen eingesperrt. Öffnet man diese nach zwei Wochen, sind die Menschen verhungert und verdurstet, die Früchte verfault, die Geldscheine und Münzen aber formschön wie zuvor. Das Bild
ist manipulativ und falsch. Würde man auch die „Geldbesitzer“, die in
der Gesellschen Lehre die Bösen sind, die horten, samt ihrem Geld einsperren, wären sie ebenfalls tot. Vor allem aber kann Geld durchaus an
Wert verlieren, als Folge ökonomischer und politischer Entwicklungen,
259
durch Inflation, Wechselkursschwankungen oder Währungsumstellungen.
Gesell und seine Anhänger behaupten, Geldbesitzer würden das
Tauschmittel horten, um Wucher und Spekulation zu treiben und höhere Zinsen zu erpressen. Ausdrücklich geht es nicht um soziale Umverteilung oder gar eine Überwindung des Kapitalismus. Gesell forderte
ein „rostendes“ Geld, später von ihm Frei- oder Schwundgeld genannt,
das in regelmäßigen Abständen an Wert verliert, so dass es ökonomisch
notwendig ist, es sofort auszugeben – für einen Kaufmann eine naheliegende Forderung.
Der Zins ist nicht das Resultat von Erpressung, sondern, wie Marx feststellte, ein Teil des Mehrwerts, der in der Produktion entsteht und im
Prozess der Zirkulation realisiert werden muss. Die Trennung von Produktion und Finanzsektor, wie sie Gesellianer, aber auch viele Globalisierungskritiker vornehmen, ist falsch.
Dazu wollte Gesell das Privateigentum an Boden abschaffen, um die
Bodenrente abzuschaffen. Das Land sollte an Bauern verpachtet werden. Seine Utopie war ein neuer Manchesterkapitalismus, ohne die Privilegien des Geld- oder Grundbesitzes, eine „natürliche Wirtschaftsordnung“, die zur „Hochzucht“ der Menschen führen sollte, während
die „Minderwertigen“, wie er sich ausdrückte, im Lauf der Zeit verschwinden würden. In dieser rassenhygienischen Horrorvision sind nur
Männer erwerbstätig, während Frauen als Gebärmaschinen dienen. Die
Frauen würden die Männer als Samenspender wählen, deren Erbgut
sich durch den ökonomischen Erfolg als hochwertig erwiesen hat und
darum ausbreiten soll.532
Mit solchen Leuten kooperiert die Feministin Maria Mies. Sie trat unter
anderem im Mai 1998 bei einer Tagung von CGW und INWO auf.
Mies arbeitet zusammen mit der Gesell-Anhängerin Regina Schwarz im
„Netzwerk gegen Konzernherrschaft“, gemeinsam geben sie den Infobrief der Gruppe heraus. Schwarz, im Januar 2003 Mitbegründerin des
Kölner Sozialforums, durfte in dem Infobrief die Lehre Silvio Gesells
vorstellen, wobei sie dessen „Lösung der Frauenfrage“ verschleiert.
532 Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung, 1911, vierte überarbeitete Auflage, Gesammelte Werke, Bd.20,
Lütjenburg 1991
260
Statt die mit NS-Lebensborn und Mutterkreuz kompatiblen Ideen zu
beschreiben, behauptet Schwarz, Gesell habe bloß ein „Entgelt für
Erziehungsleistungen“ vorgeschlagen, um die Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit von Männern zu befreien.533
Ihre Verfechter verklären Tauschringe und Regionalgeld als Selbsthilfe,
als lokales, ökologisches Gegengewicht zur „Globalisierung der Geldwirtschaft“. Die bunten Regionalgeldscheine würden die Wirtschaft vor
Ort stärken, die kulturelle Identität stärken und die heimelige Idylle vor
den „Unwägbarkeiten globaler Finanzspekulation“ schützen, behauptet
das Regionetzwerk, ein Zusammenschluss der deutschen Initiativen. Die
Zeit sprach schon vom „Geld der Antiglobalisierer“.
Praktisch ist Gesells Theorie gescheitert, wie der Großversuch in Argentinien zeigte. An der Tauschringbewegung dort beteiligten sich bis
Sommer 2002 etwa zehn von 36 Millionen Einwohnern. In Argentinien
entstand ein Netz von Tauschringmärkten; zunächst wurde eine
Tauschring-Währung, der Credito, kreiert, später das Schwundprinzip
ergänzt. Seine Anhänger versprachen blühende Landschaften, die
Marktteilnehmer wurden auch von Linken zu „Prosumenten“ verklärt.
Schon diese Wortschöpfung aus Konsument und Produzent beinhaltet
die Prognose, die Beteiligten würden beim Tauschring nicht bloß einkaufen, sondern animiert selbst zu produzieren.
Das setzt voraus, dass eine verarmte Bevölkerung über Produktionsmittel verfügt, über Land, um Nahrung anzubauen, über Werkstätten,
Fabriken und Rohstoffe, um Kleidung, Möbel, Medizin, Fahrräder usw.
herzustellen. Dazu hätten die Argentinier massenhaft Fabriken und
Land besetzen müssen, statt sich an Gesellschen Geldpfuschereien zu
beteiligen. Tatsächlich boten die argentinischen Tauschmärkte neben allerlei Dienstleistungen wie Haareschneiden, billigen Restposten aus Fabriken und Geschäften, nur ein Flohmarktsortiment. Die Teilnehmer
spekulierten mit knappen Gütern und Preisunterschieden oder fälschten Creditos. Die Armen verwandelten sich nicht in Prosumenten, dringend gebrauchte Nahrungsmittel gelangten nicht zum Tauschring. Das
System brach im Herbst 2002 zusammen.
533 Regina Schwarz, Tauschen ohne Wachstumswahn - Die Freiwirtschaft als humane und ökologische Alternative,
in: Netzwerk gegen Konzernherrschaft, Infobrief Nr.10, Oktober 2002, S.41ff.
261
Habseligkeiten zu tauschen, ist eine Überlebensstrategie. Das ist nicht
verwerflich, bleibt aber in jedem Fall Teil der kapitalistischen Ökonomie. Tauschringe wie in Argentinien sind Armutsselbstverwaltung, die
dem Staat hilft Geld und Ärger zu sparen. Sie funktionieren ohne jede
sozialstaatliche Absicherung.
Das ist ganz im Sinn ihres Vordenkers. Zwar versprach der Kaufmann
Gesell, alle Einkommen würden steigen, wenn Zinsen und Renten entfallen. Verteilt werden soll aber „nach den Gesetzen des Wettbewerbs“ gemäß
dem Prinzip: „Dem Tüchtigsten der höchste Arbeitsertrag.“ Gesell redete von einer Rückkehr zu einem Manchester-Kapitalismus, allerdings
ohne Rentiers und Grundeigentümer. Ausgegrenzt wird, wer als unproduktiv und faul gilt. Der Gesellianer und Anarchist Klaus Schmitt
spricht von einer Wirtschaftsordnung, die das „eigennützige Streben
der Menschen nutzt und die tüchtigen Produzenten belohnt und nicht
die unproduktiven Geldverleiher, Grundeigentümer und andere Parasiten bereichert“.
Eine solche Diffamierung von Menschen als Parasiten richtet sich auch
gegen Flüchtlinge, Sozialhilfeempfänger, Erwerbslose, Behinderte, Alte
und Kranke. Gesell selbst schrieb von „Arbeitsscheuen“ und „Bummelanten“. In seiner Utopie wären diese Menschen auf Almosen angewiesen, einen Sozialstaat hat er nicht vorgesehen.
Interessant ist eine Einschätzung, die die Journalistin Gaby Weber zitiert, die im Sommer 2002, also auf dem Höhepunkt der Entwicklung,
mit Sympathie aus Argentinien berichtete. „Wenn sich die Menschen
nicht mehr über die Tauschklubs ernähren könnten, würden sie alle auf
die Barrikaden steigen“, erklärte ihr ein Geschäftsmann. „Deshalb sehen
es die argentinische Regierung und die internationalen Finanzorganisationen mit
Wohlwollen, dass sich die Armen selbst über die Runden bringen und nicht länger
dem Staatshaushalt zur Last fallen.“ So sei eine informelle Wirtschaft entstanden, „mit privaten Tausch-Tickets, wo keine Steuern erhoben werden und wo vom Staat nichts erwartet wird, keine Krankenkassen, Renten und die Förderung von sozial Benachteiligten. So kann sich der
Staat aus der Sozialarbeit herausziehen, können Finanzmittel und Beamte eingespart werden.“
262
Politische Ökologie als Teil der politischen Ökonomie
Umweltschutz und Naturschutz, der Verbrauch von Rohstoffen, Energieerzeugung, Verkehr, Gentechnik werden auch in Zukunft zentrale
Themen sein, ihre Bedeutung zunehmen.
Denn die Bilanz staatlicher Umweltpolitik fällt 20 Jahre nach dem
großen Gipfel von Rio negativ aus. Auf dem Planeten breiten sich die
Wüsten aus, die Meere vermüllt, Flora und Fauna vernichtet, Böden
versiegelt, Wälder gerodet, die Atmosphäre zerstört. Der Einsatz von
Pestiziden in der Landwirtschaft, deren Giftigkeit bekannt ist, tötet
nach Angaben der Weltbank jährlich 350.000 Menschen.534 Diese Entwicklung wird durch einen neuen grünen Kapitalismus, einen grünen
New Deal, nicht gestoppt, sondern verschärft. Stichwort: Ersatz von
Benzin durch pflanzliche Produkte, Ausbreitung von Monokulturen
und Einsatz von Giften für den Anbau von Pflanzen zu solchen Zwecken, etwa auch hierzulande zum Betrieb von Biogasanlagen. Auch die
gerne propagierte Energieeffizienz hat bisher vor allem einen so genannten Rebound-Effekt. Eingesparte Energie wird für andere Produkte und Dienstleistungen eingesetzt, der Gesamtverbrauch wächst.
Allein die Verkehrspolitik der Bundesrepublik, die auf den Ausbau des
Flugverkehrs und des Autos als Massenverkehrsmittel setzt, von den
Grünen in der Variante Elektroauto, statt die öffentlichen Verkehrsmittel wie Zug, Tram und Bus auszubauen, zeigt, dass Umweltschutz
ein Thema für Sonntagsreden und eine Alibiveranstaltung ist, tatsächlich aber wenig passiert.
Die Probleme und Widersprüche bleiben. Und das bedeutet auch, dass
Ökologie ein Betätigungsfeld für Faschisten bleiben wird. Es gilt, sich
mit Ökofaschisten und Nazi-Ökologen, ihren Strukturen, Argumentationsweisen und Aktionsformen auseinanderzusetzen, auch die Geschichte der Umweltbewegungen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, aufzuarbeiten, um Kontinuitätslinien und Brüche zu entdecken.
Aktivitäten von NPD und anderen Nazis im Umweltbereich müssen
aufgedeckt und bekämpft werden, aber auch Elemente ökofaschistischer Ideologie in der linken und globalisierungskritischen Szene. Das
534 Philipp Mimkes, Gefährliche Pestizide, in: iz3w, Mai/Juni 2012, S.8
263
ist in gewisser Hinsicht ein größeres Problem als die NPD, weil wir hier
auf Verdrängung und Abwehr stoßen und es mit einer Mischung von
linken und rechten Versatzstücken zu tun haben.
Dazu brauchen wir einen emanzipatorischen Umweltschutz, der auf einem adäquaten Begriff von Ökologie basiert. Die Warnung von Marx,
wonach der Kapitalismus den gesellschaftlichen Reichtum produziert
und dabei nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur zerstört,
blieb, auch in der Linken, über Jahrzehnte unbeachtet. Die schrankenlose Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalistischem Regime
galt in der Tradition des Marxismus als Voraussetzung des Sozialismus,
dass dabei die Naturzerstörung zunahm und Destruktivkräfte wie gewisse Segmente der Chemieindustrie, Gentechnik oder Atomenergie
entstanden, wurde negiert. Nach 200 Jahren Industrialisierung unter
dem Regime der Kapitalakkumulation könnte die Menschheit sich und
viele Tiere und Pflanzen heute ausrotten.
Gefragt ist eine politische Ökologie als Teil der Kritik der politischen
Ökonomie. Diese politische Ökologie muss am Menschen als Maß aller
Dinge festhalten, weil der theoretische Antihumanismus in Irrationalismus und Ökodiktatur endet. Die Aufgabe bleibt, in einer Gesellschaft
jenseits der Kapitalverwertung den Stoffwechselprozess mit der uns
umgebenden Natur (Marx) so zu organisieren, dass weder Mangel
herrscht, noch die ökologischen Voraussetzungen menschlichen Lebens
auf diesem Planeten zerstört werden.
264
RASSERELIGIÖSE WURZELN - DARGESTELLT ANHAND DES
ARMANENORDENS
Willi Röder
Das Thema „Rechte Energie in esoterischem Zeitgeist“ stellt ein Spektrum an monströsen Weltanschauungsversuchen dar, die einerseits
schon längst als überholt oder gar vergessen geglaubt wurden und
andererseits sich in einem Gewand präsentieren, das eher einer wahnsinnig gewordenen Science Fiction Welt gleichkommt. Es verwundert
kaum, dass sich solche Ideen gerade im Esoterikmarkt verbreiten, ist
doch die heutige Esoterik fast gänzlich zu einer Worthülse verkommen
und der dazugehörige Markt ein Sammelbecken für Ehrgeizlinge, unter
denen ein Wettbewerb ausgebrochen scheint, den Schwachsinn ihrer
Vorgänger zu übertreffen, dies gilt auch für die Wahl der Mittel.
Vergleichbar mit Sekten und Psychokulten ist das Symptom, dass diesen rechtsbraunen Esoterikern Menschen zulaufen, von denen man eigentlich vorher nicht glauben wollte, dass sie sich einer totalitären und
menschenverachtenden Gruppierung oder Weltanschauung zuwenden
würden. Umso mehr, als die Hemmschwellen zu kriminellen Handlungen bis hin zu Mord und Totschlag gerade in diesen Kreisen abzunehmen scheinen. Freilich ist es noch ein zusätzlicher Schritt, von den
menschenverachtenden Ideologien, wie sie in den rechtsbraunen Zirkeln ausgebrütet werden, zur Tat zu schreiten. Den Zusammenhang
wird man jedoch ernsthaft nicht bestreiten können, wenn ein vom
religiösen Wahn ergriffener Mensch sich daran macht, „minderwertiges“ Leben auszulöschen, sei es das eines Asylbewerbers, eines Griechen, Juden oder Türken, eines Behinderten, eines Obdachlosen oder
eines politisch anders Gesinnten, und dabei vorgibt, der Willensvollstrecker Satans, Wotans oder seines Blutes zu sein. Dass sich die geistig
braunen Brandstifter trotz vorangegangenen Beschwörungen von Ehre,
Treue und Kameradschaft von den Vollstreckern ihrer Ideen distanzieren und sich damit ihrer Verantwortung entziehen wollen, scheint, wie
kurz nach dem Ende des Naziterrors im III. Reich, zum guten Ton
265
rechter Ideologen zu gehören.
Dabei möchte man vielleicht gerade wegen der Judenverfolgung während der Naziherrschaft guten Glaubens sein und meinen, man würde
aus diesen geschichtlichen Erfahrungen nicht mehr den Wahnvorstellungen über Rasse, Blut usw. auf den Leim gehen. Die in der Esoterik
gebotenen Kurse, Bücher, Reisen und Seminare der heutigen Tage belehren einen da eines Besseren.
Wie ein roter Faden ziehen sich bis heute völkisch religiöse Grundpositionen und Gedanken durch die Geschichte, zu der eben auch die
des III. Reiches gehört.
Wenngleich sich die Motive der zahllosen und ungeheuerlichen Verbrechen der Nationalsozialisten im III. Reich nicht allein in völkisch
religiösen Wahnvorstellungen erschöpfen, so wird man diesen allerdings einen erheblichen Einfluss zugestehen müssen. Nazigrößen wie
Himmler, Heß und Hitler unterhielten selbst Kontakte zu völkisch religiösen Gruppen oder waren gar deren Mitglieder.
Die im III. Reich tragenden ideologischen Vorstellungen eines arischen
Übermenschen, der aufgrund seiner Bluteigenschaften zur Herrschaft
über die Welt von der „Vorsehung“ bestimmt sei, ausgestattet mit dem
Recht, so genanntes minderwertiges Leben zu vernichten, sind nicht
aufgrund eigener Überlegungen gewachsen, sondern gehen bezüglich
der Urheberschaft wesentlich auf andere zurück.. Darüber soll dieser
Beitrag Auskunft geben.
Die Wurzeln
Zum Auftakt soll der Geschichte dieser Ideen Raum gegeben werden,
weil an ihr in besonderer Weise die unheilvolle Entwicklung esoterischokkulter Ideen deutlich wird und sie in anderer Hinsicht aufzeigt, dass
trotz der so unterschiedlichen Erscheinungsformen wie Satanismus,
Esoterik und völkischer Rechtsradikalismus heute von einer Geistesverwandtschaft seit jeher ausgegangen werden kann.
Rassistische Ursprünge gibt es in der Menschheitsgeschichte zur Genüge, freilich auch religiös motivierte. In Zusammenhang mit dem braunen Sumpf, wie man ihn in der aktuellen Esoterik vorfindet, lässt sich
266
dieser jedoch zumeist auf die Ausführungen von Helena Petrovna Blavatsky (HPB), der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, zurückführen und findet sich in einer der wohl bedeutendsten Gruppen
dieser Gesinnung, dem Armanenorden, wieder. Aus diesem Grunde
soll hier nicht die tiefere Geschichte des Rassismus erwogen werden.
Rassismus am Ende des 19. Jahrhunderts war zumeist sozialdarwinistisch inspiriert. Der Stärkere setzt sich durch und hat Recht auf Überleben. Der Umgang mit den Indianern Amerikas oder auch den Aborigines in Australien ist durchaus Auswirkung einer solchen unheilvollen
Inspiration.
Zwangsläufig muss man in der rassistisch ausgerichteten Halbintelligenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts Joseph Arthur Graf von Gobineau (14.7.1816 Paris – 13.10.1882 Turin) sowie Houston Stewart
Chamberlain (9.1.1855 – 9.1.1927) erwähnen. Sie gehörten zu denjenigen der „ersten Stunde“, die in ihren rassistischen Auslassungen von
einer kulturell-nationalistischen Überlegenheit der Arier ausgehen und
wirkten nachhaltig besonders in deutschen Kreisen.
Die „nordische Rasse“, so Gobineau, sei allen anderen Rassen körperlich wie geistig überlegen und zur Herrschaft berufen. Nur die „arische
Rasse“ besitze kulturschöpferische Fähigkeiten, jede Rassenvermischung führe zum Kulturverfall.535 und „Arier sein heißt Schöpfer sein, hierin liegt die Verwandtschaft dieser Rasse mit dem Göttlichen und die Überzeugung,
Gottes Söhne – nicht seine Knechte zu sein.“ 536
Chamberlains Kontakte zu deutschtümelnden und nationalistischen
Kreisen sind gut belegt, nicht zuletzt aus dem Grunde, dass er ein
Schwiegersohn Richard Wagners war.
Zu gutmütig-naiv wäre die Einschätzung, bei Gobineau und Chamberlain würde es sich lediglich um romantische Schwärmereien für das
„Deutsche Volk“ handeln. Ihre Aussagen über die arische Rasse beinhalten eine gleichzeitige Abwertung Anderer, und so muss man sie zu
den geistigen Brandstiftern rechnen. Inwieweit ihre Auffassungen von
der Theosophie beeinflusst waren, lässt sich leider nicht belegen.
Die theosophischen, von einer synkretistischen Religiosität durchtränkten Ausführungen sind wesentlich umfassender und schrecken auch
535 Hartung, Völkische Ideologie, S. 37f.
536 Chamberlain in IDGR, Informationsdienst gegen Rechtsextremismus, www.hschamberlain.net/citations/cita-
ten., S. 5
267
nicht vor den Konsequenzen rassistischer Denkart zurück. In ihrem
1877 erscheinenden Buch „Isis unveiled“ (Entschleierte Isis), beschreibt Helena Petrovna Blavatsky die Rassengeschichte der Menschheit in gekürzter Weise wie folgt:
Ausgehend von einer „polarischen Rasse“, die vor 300 Mill. Jahren lebte und noch über keinen physischen Leib verfügte, hat die Geschichte
der menschlichen Rasse über weitere Entwicklungsstufen zu so genannten „Wurzelrassen“ geführt. Auf die Lemurier, die erste Wurzelrasse, folgten später die Atlantier, die nach dem Untergang von Atlantis
die 5. Wurzelrasse, die Arier, hervorbrachten, aus denen sich wiederum
5 Unterrassen bildeten (die ur-indische, ägyptisch-chaldäische, ur-persische, griechisch-lateinische und die germanisch-nordische )537. Daneben
existieren niedere Menschenrassen, „die jetzt auf Erden durch ein paar elende aussterbende Stämme und die großen menschenähnlichen Affen repräsentiert werden. Letzte Reste seien z. B. die Tasmanier, Buschmänner, Negridos, usw.“
Die Juden werden von Blavatsky als „künstliche arische Rasse“ eingestuft.
Ihre Religion sei zu einer „Religion des Hasses und Übelwollens gegen jedermann entartet.“ 538
So finden sich bereits bei Blavatsky rassehygienische Hinweise. Unfruchtbarkeit sei die Folge von Unzucht mit Minderrassigen, „ ... deren
Vorfahren seelenlose und gemütlose Ungeheuer waren ... aufgrund des Gesetzes
karmischer Evolution und dem Zuwiderhandeln des Gesetzes, das den Untergang
dieser Restrassen vorsieht!“
„Der Decimierungsvorgang findet über die ganze Erde statt unter jenen Rassen,
deren ‚Zeit um ist‘. Es ist ungenau, zu behaupten, dass das Aussterben einer niederen Rasse ausnahmslos eine Folge der von Kolonisten verübten Grausamkeiten oder
Misshandlungen sei ...
Rothäute, Eskimos, Australier ... sterben aus ... Die Flutwelle der inkarnierten
Egos ist über sie hinausgerollt, um in entwickelteren und weniger greisenhaften
Stämmen Erfahrung zu ernten; und ihr Verlöschen ist daher eine karmische Notwendigkeit.“ 539
Diese Ausführungen sind das Fundament einer rassereligiösen Welt537 Hans-Jürgen Ruppert, Theosophie - unterwegs zum okkulten Übermenschen, Konstanz : Bahn, 1. Auflage 1993
538 Helena Petrovna Blavatsky, Die Geheimlehre
539 a.a.O.
268
anschauung, die sich in besonderer Weise in völkisch-nationalistischen
Kreisen in Wien niedergeschlagen hat. Deren Hauptbetreiber waren
Guido List (5.10.1848 – 7.5.1919) und Adolf Lanz (1.7.1874 – 1954),
welche die so genannte Ariosophie ins Leben riefen und auf die sich
bis heute die meisten völkisch religiösen Gruppen berufen. Mit großer
Sicherheit kann von einem Gedankentransfer theosophischer Wurzelrassenbetrachtungen auf die Ariosophie ausgegangen werden. Beide,
Lanz und List, waren Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft
Wiens.
Guido List, der sich, wie ebenso Adolf Lanz, zu Unrecht einen Adelstitel zulegte, gründete 1908 die „Guido von List Gesellschaft“, zu deren
Mitgliedern interessanterweise auch die gesamte Wiener Theosophische
Gesellschaft gehörte.
Der Guido von List Gesellschaft widerfuhr eine wechselvolle Geschichte Sie konnte sich allerdings bis heute behaupten und dürfte der
wichtigste völkisch religiöse Impulsgeber für alle anderen Gruppen dieser Couleur sein.
Das Blut – Schlachtfeld der Götter
Mit Adolf Schleipfer sowie seiner ehemaligen Frau Sigrun gewann die
Guido von List Gesellschaft etwa ab 1967 neuen Auftrieb. Die vor
allem von Adolf Schleipfer als Präsident der Guido von List Gesellschaft durchgesetzte neue Organisationsstruktur entsprach in geeigneterer Weise ihrer ideologischen Weltsicht. So gründete er 1976 den
Armanenorden, und mit der bereits von ihm schon vor 1967 herausgegebenen „Irminsul“ wurde in vierteljährlicher Erscheinungsweise das
rechtsbraun-religiöse Gedankengut gestreut. Die Guido von List Gesellschaft blieb bestehen, als innerer Kreis der Eingeweihten.
Die beiden Gruppen entsprechen nunmehr auch den zwei Erkenntnisbereichen, einerseits dem „Armanismus“, welcher die Geheimlehre
der Wissenden (vor allem die „ariogermanische Ursprache“) hütet und
versteht und dessen Auserlesene sich in die Guido von List Gesellschaft einreihen dürfen, andererseits dem „Wuotanismus“, der von all
269
denjenigen repräsentiert wird, die zwar der „allgemeinen Religionslehre
des Volkes“ angehören, jedoch in Unkenntnis der magischen Wirkung
der arischen „Ursprache“ leben.
Dieser magischen Ursprache bediente sich auch schon Guido von List,
der als ihr Wiederentdecker gilt: „Zu ihm (Guido von List; Anm. durch
d. Verf.) sprachen die Orts-, Flur- und Flussnamen aus der wieder entschlüsselten
deutschen Ursprache, er fand die germanischen Heilszeichen in Wappen, Maß- und
Fachwerken der mittelalterlichen Baukunst wieder, entdeckte die Mysterien der
Wiedergeburt und des Garmas, die wahre Abkunft der weißen Rasse von den Göttern! Was Wunder, das (sic!) die ‚feindlichen Brüder‘ Mime und Alberich mit
ihrem zahllosen Anhang wie eine Herde hungriger Schakale über die ‚Ungeheuerlichkeit‘ solcher ‚Behauptungen‘ herfiel, nachdem man diese – wie üblich – zunächst
tot zu schweigen, dann lächerlich zu machen versucht hatte.“ 540
Die Grundvoraussetzung dieses okkulten Wissens über die Ursprache
ist jedoch die arische Blutreinheit. Erst sie lässt die Stimme der Götter
vernehmen und führt zu jenem „Selbstbestimmungsgefühl“, das den „Arier“
über alle anderen Rassen stellt.541
In diesem Sinne zeterte schon Guido List über Mischlinge und NichtArier: „ ... der Herdenmensch der mittelländischen, der mongolischen Mischrassen
und der Tschandalas (Affenmenschenbrut), der ausgesprochenen Herdenmenschheit,
der unverbesserlichen Sklavenmenschheit, der Tiermenschheit. Diese haben im Gegensatz zum ario-germanisch-deutschen Herrenmenschen kein höheres Selbstbestimmungsgefühl, sondern nur den tierischen Selbsterhaltungstrieb; daher auch kein Ordnungsgefühl, wohl aber grenzenlose Selbstsucht ...“ 542
Ein anderes Zitat, vorgefunden auf der Internetadresse von „Rabenclan“, macht umso mehr deutlich: „Sie (die Hochschätzung der Sexualität, Anm.d.Verf.) soll für rassereinen Nachwuchs sorgen, um wieder ‚blutsverwandte Sippen im gleichrassigen Sinne‘ zu schaffen, die durch Rassenmischung und
den Einfluss fremder Religion zerstört worden seien. Zudem könne es den Höhepunkt menschlichen Daseins, die ‚wuotanistische Schöpfungswonne‘ nur zwischen
Partnern der weißen Rasse geben, da Nächstenliebe, Harmonie und gleiche Schwingung nur unter Artgleichen möglich sei. Weiterhin werden die ‚Dunkelhaarigen un540 Irminsul - Stimme der Armanenschaft 5/1977, S. 7,8
541 Guido von List, Armanenschaft, S. 67
542 Guido von List, Armanenschaft II, S. 67
270
seres Volkes‘ beruhigt, sie brauchten sich nicht minderwertig fühlen. Auch sie hätten
helle Anteile, die ‚hochgezüchtet‘ werden könnten. Sie müssten nur untereinander
heiraten und möglichst viele Kinder bekommen. Unter diesen wären dann sicher einige helle. Nur dürfe ein dunkler Mann nicht seinem Drang nach einer blonden Frau
nachgeben. Sein Lohn sei eine hellere Inkarnation im nächsten Leben. Dass für die
Aufnahme in den Meistergrad ein Ahnennachweis erforderlich ist, wie er für die
Mitgliedschaft in der Guido-von-List-Gesellschaft verlangt wird, folgt für die Armanen ebenfalls aus diesen Ideen.“ 543
Götterdämmerung
„Aus der Sicht der Entstehungsgeschichte des Menschen gilt der Arier als Gottessohn, der aus einer ‚reinrassigen Menschenhochzucht‘ der Götter hervorgegangen ist.
Die anderen Rassen gehen auf ehemalige Kreuzungen des Menschen mit Tieren zurück, so zum Beispiel die Schwarzen.“ 544
Alle Menschen, die sich laufend inkarnieren, verfügen über einen „inneren Strahl“ der Götter. Dieser Strahl bestimmt auch die völkische
oder Rasse-Zugehörigkeit. Je stärker reinrassig arisches Blut nun vermischt wird, umso dünner wird dieser Strahl und stärkt in gleicher Weise die fremden bösartigen Gottheiten, deren niederträchtiges Ansinnen
darin besteht, die „reinrassige Menschenhochzucht“ der edlen Asen (so
der Sammelbegriff germanischer Götter) zu zerstören. Die Folge für
den Menschen ist der Verlust seiner Selbstbestimmung.
Die Geschichte des Rassenkampfes spitzt sich nach Ansicht der Armanen mit der so genannten Götterdämmerung zu und die Götter werden ihrem Tod nicht entrinnen, so, wie in der Entsprechung die fortschreitende Rassenvermischung unter den Menschen ihren Tod regelrecht herausfordert. „Wie die deutschen Asen (Germanische Götter; Anm.
d.Verf.) an sittlicher Höhe die Olympier (Die griechischen Götter der Antike; Anm.d.Verf.) weit überragen, nicht nur darin, dass sie kämpfen, um den Bestand dieser Welt, um das möglichste Fernrücken von deren Untergang …“ 545
543 http://www.rabenclan.de/index.php/Magazin/HansSchuhmacherSzene02, RAK 52, abgerufen 10.12.16
544 Lanz v. Liebenfels, Theozoologie. Die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron. Wien /
Leipzig 1906 - Nachdruck 2001 Lanz (1906), Vorwort S. 2
545 Irminsul, 3/1976, S. 5
271
Der ständige Kampf der Götter führt schließlich zum großen „Endkampf“, dem Höhepunkt in der Phase der Götterdämmerung. „Im Endkampf seiner (Baldurs; Anm.d.Verf.) Volksgötter, in der Götterdämmerung, erlebte das mythische Volkstum der Vorzeit selbst seinen Untergang: Thor streitet
mit der Midgardschlange – zwar besiegt er sie, aber neun Schritte weiter wird er von
ihrem Gifte getötet. Odhin wird vom Wolf verschlungen, dessen Rachen klafft, wie
der Abstand von Himmel und Erde.“ 546
Heute stehen wir kurz vor dem Ende der Phase der Götterdämmerung.
Bisher hat sie deutliche Spuren hinterlassen, denn: „Seit langem ist weltgeschichtlich für jedermann erkennbar ein großer Umbruch im Gange. Der Eingeweihte weiß, dass dies mit dem Ende des Njörd (Fische-) –Zeitalters und dem Anbruch des Heimdal (Wassermann-) –Zeitalters zusammenhängt. Der Wissende, der
in Treue der Religion unserer Vorfahren anhängt, weiß, dass die im germanischen
Religionssystem als ‚Götterdämmerung‘ bekannte Zeitspanne sich ihrem Ende zuneigt, um der ‚Götter-Morgen-Dämmerung‘ zu weichen, was naturgemäß mit großen Umwälzungen und den Auswüchsen der sich nochmals aufbäumenden, dem
Untergang geweihten Kräfte einhergeht.“ 547
Der „Endkampf“ der Götter wird also nicht irgendwo fern der Erde
ausgetragen, sondern er bedeutet den Kampf zwischen den arischen
und nicht-arischen Rassen. Als Zeichen hierfür gelten die beiden letzten Weltkriege. Das geschichtliche Fazit beider verlorener Weltkriege
erschöpft sich bei den Armanen im Bedauern über den Verlust wertvollen arischen Blutes.
War nach Armanischer Ideologie der Beginn der Götterdämmerung
gleichzeitig der Beginn der Rassenvermischung und nahm diese Rassenvermischung im Laufe der Zeit immer stärker zu, so bedeutet das
Sterben der Götter am Ende der Götterdämmerung das Ende der Rassen, denn „Blutesdämmerung ist zugleich Götterdämmerung.“ 548
Die Rassenreinheit des Blutes bestimmt also das Schicksal der Götter
und ist gleichzeitig von der Götterdämmerungsdichtung schon vorgezeichnet. Vergossenes arisches Blut stärkt die bösartigen Götter, vergossenes Blut der Mischlinge und Andersrassigen stärkt die germani546 Irminsul 3/1976
547 Irminsul 4/1976
548 Irminsul 3/1978
272
sche Götterfront.
Der große „Endkampf“ der Götter, die sich in den Rassen verkörpern,
wird für den Menschen bisher noch nicht gekannte Ausmaße haben. So
wie die Götter beider Parteien sterben müssen, werden die menschlichen Rassen in diesem „Endkampf“ sterben. Allein für den „Arier“
birgt sich ein Vorteil in diesem Sterben, denn bald „ ... ereignet sich der
Umschwung: Odhins Sohn, der schweigsame Widar, tötet den Wolf, indem er seinen
Rachen zerreißt. Baldur kehrt wieder und erschließt dem auferstandenen Menschen
erneut die Göttergeheimnisse von Erde und Kosmos ...“ 549
Nach diesem widerlichen Göttergemetzel bleibt für den Armanen lediglich die traurige Verheißung: Es beginnt alles wieder von vorne. Eine
wirkliche Antwort auf die Sinnsuche des Menschen bleibt hier gnadenlos versagt.
549 a.a.O.
273
274
JUGENDKULTUREN UND IHR BEZUG ZUM
RECHTSEXTREMISMUS IN GESCHICHTE UND GEGENWART
Dr. Roman Schweidlenka
Spätestens seit der Renaissance griffen jugendbewegte Strömungen auf
antik-heidnische oder slawische, keltische und germanische Kulturen
und Kulte zurück, um die eigene Identität urkulturell zu verankern und
um zum herrschenden (katholischen) System in politischer und weltanschaulicher Hinsicht eine Alternative zu entwickeln. Diese Strömungen vermengten sich oft mit esoterischen Elementen, u. a. wurden angeblich alte Rituale neu belebt, Mythen erhielten eine wichtige Bedeutung, oft in Gegensatz zum seit der Aufklärung sich allmählich durchsetzenden rational-wissenschaftlichen Weltbild. Im Zeitalter des Nationalismus vermengten sich derartige jugendkulturell geprägte Strömungen immer wieder mit weit rechts stehenden bzw. rechtsextremen politischen Einstellungen. Die extremste derartige Ausformung finden wir
im Nationalsozialismus.
Im Kontext des Beitrages550 greife ich zwei ideelle Strömungen heraus,
die jugendbewegte Elemente, eine naturreligiöse bzw. neuheidnische
Komponente und eine rechtsextreme Rezeption aufweisen. Es handelt
sich um
die Rezeption indianischer Mutter Erde-Spiritualität und
die Rezeption neogermanischer Weltbilder.
Sodann folgen Ausführungen zur zeitgenössischen rechtsextremen bzw. neonazistischen Jugendkultur und zu rechtsextremen
Tendenzen im Black Metal und bei den Gothics.
550 ausführliches Quellenverzeichnis am Ende des Beitrages
275
Die Rezeption indianischer Mutter Erde-Spiritualität durch das
rechtsextreme Lager im deutschsprachigen Sprachraum
Seit der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus beschäftigten sich
Europäer mit den dortigen Ureinwohnern, die je nach Zeitgeistströmung als barbarische Wilde verachtet oder als edle (Öko-)Wilde bewundert wurden. Der politische Einfluss indianischer Kulturen auf das
europäische Geschehen reicht von Einflüssen auf die Französische Revolution bis zur modernen Ökologiebewegung unserer Tage. Neben
den politischen Einflüssen, die man mit den Begriffen „egalitäre Gesellschaften“ und „Dezentralisation“ charakterisieren kann, faszinierte
bereits vor der französischen Revolution das naturreligiöse Weltbild der
Ureinwohner alle jene gesellschaftskritischen Kräfte, die dem Christentum vor allem wegen dessen Beteiligung an der Erhaltung feudaler
Machtstrukturen ablehnend gegenüberstanden.
Die Begeisterung für indianische Lebenswelten machte sich im 18.
Jahrhundert auch in Deutschland breit und verband sich u. a. mit den
nationalen Strömungen jener Zeit, die im Gefolge der Romantik eine
große Offenheit für naturreligiöse Perspektiven aufwiesen. Der germanengläubige Schriftsteller Karl Freiherr von Münchhausen, 1806 und
1809 bei den Plänen einer Volkserhebung gegen Napoleon und für eine
deutsche Republik aktiv, reiste in dieser Zeit nach Kanada und war von
den auch spirituellen Gemeinsamkeiten zwischen den dortigen Huronen und den „germanischen Ahnen“ beeindruckt. Münchhausen ebnete so der „germanisch-indianischen“ Verbrüderung den Weg; einer Verbrüderung, die nur im deutschen Sprachraum Fuß fasste.
Keiner hat das Indianerbild der Deutschen und Österreicher so nachhaltig geprägt wie Karl May, der dem rechten deutschnationalen Lager
zuzuordnen ist und aus dieser seiner Einstellung in seinem umfassenden Werk auch kein Hehl machte. Zu den begeisterten May-Anhängern
zählte auch Adolf Hitler, der selbst noch in seiner Zeit als Führer des
Großdeutschen Reiches May las und seine Umgebung immer wieder
mit Zitaten aus dessen Werk zwangsbeglückte. So waren die „edlen“
Indianer im Dritten Reich akzeptiert, sie galten als eine Art nordamerikanischer Blut- und Bodenvariante, die zugleich auch heidnische Wildheit und heroischen Edelmut verkörperte. In diesem Sinn kam das NS276
Klischeebild der Indianer den neuheidnischen Strömungen, die das
Dritte Reich ganz maßgeblich mitprägten, sehr gelegen.
SS-Ahnenerbe-Mitbegründer Herman Wirth konstruierte die angebliche rassische Verbindung der „germanischen Deutschen“ mit den
nordamerikanischen Indianern, die seiner Ansicht nach von einer gemeinsamen nordatlantisch-arischen Urheimat abstammten und dieselben Runenzeichen, dieselbe Spiritualität, denselben rassebezogenen
monotheistischen „Lichtglauben“ aufweisen würden. Diese Akzeptanz
der Indianer, die wohl auch als natürliche politische Bundesgenossen
nach dem Eintritt der USA in das Kriegsgeschehen angesehen wurden,
kontrastierte zu der ansonsten als NS-Dogma vertretenen Lehre von
der Überlegenheit des arisch-deutschen Herrenmenschen. Aber gerade
der Nationalsozialismus zeichnete sich durch die irrationale „unio mystica“ einander widersprechender Ideologiefragmente aus. So kam es zu
der bekannten erdreligiös-germanophilen Strömung bei gleichzeitiger
Förderung moderner technologischer Entwicklungen, zu einer oft auch
esoterisch untermauerten Idealisierung des Bauerntums bei gleichzeitig
fortschreitendem Bauernsterben etc.
Herman Wirth war es sodann, der ab 1973, als die erste indianische
Delegation Deutschland in spiritueller und politischer „Mission“ bereiste, seinen Fuß in die aufkeimende, mit der damaligen Gegenkultur
verbundene deutsche Indianer(unterstützer)szene setzen konnte. Über
seinen Schüler Andreas Lentz (Verlag Mutter Erde, später Neue Erde)
und der mit der ariosophischen Armanenschaft zumindest sympathisierenden Geomantin Waltraud Wagner wurden erste Berichte über Indianer und ihr spirituelles, erdbezogenes Bewusstsein immer wieder mit
Aussagen des angeblich das Matriarchat fördernden Wirth verbunden.
Werner Haverbeck und sein Collegium Humanum, das in den Medien
wiederholt als Drehscheibe für ökofaschistische, völkisch-esoterische
und rechtsradikale Aktivisten bloßgestellt wurde, organisierte 1980-81
auch die ersten, von Wagner und Lentz ebenfalls geförderten Deutschlandtourneen und Seminare des umstrittenen, im indianischen Amerika
als Plastikmedizinmann titulierten „Medizinmannes“ Sun Bear, dessen
deutscher „Bärenstamm e.V.“ und dessen „Medizinrad“-Lehre auch
nach seinem Tod weiterexistiert.
Die Unterstützungsgruppen, wie u. a. die „Gesellschaft für bedrohte
277
Völker“, die sich in den späten siebziger Jahren bildeten, distanzierten
sich von den braunen Kooperationsversuchen, die u .a. von der „Hilfsgemeinschaft Freiheit für Rudolf Heß“ oder der „Aktionsgemeinschaft
Unabhängiger Deutscher“ ausgingen. Die berühmte, wenn auch umstrittene Rede des Häuptlings Seattle, die in einer beachtlichen Anzahl
linker und bürgerlicher Medien nachgedruckt wurde, zählte ebenso wie
Zitate verstorbener Indianerchiefs auch zu den Dauerthemen rechtsextremer Magazine wie „Sieg“, „Mut“, „Identität“, „Nation und Europa“
oder den Zeitschriften der als einem esoterischen Faschismus nahestehend geltenden international expandierenden Gruppierung Neue Akropolis, die seit 1996 in Österreich einen deutlichen ideologischen
Schwenk in Richtung multikulturelle Gesellschaft unternommen hat.
Die extreme politische Rechte sieht im Kampf der nordamerikanischen
Indianer für den Erhalt ihrer Kultur einen ihren eigenen Zielsetzungen
wesensverwandten „Kampf gegen Überfremdung“: So verkündete z. B.
die in Wien erscheinende „Kritische Studentenzeitung“ (KSZ) in ihrer
Ausgabe vom Juni 1996: „Die Indianer konnten die Einwanderer nicht
stoppen. Jetzt leben sie in Reservaten. Droht das nun auch den Völkern
Europas? Wehren Sie sich!“ Derartige Pamphlete werden bis heute von
der nunmehr skandalgeschüttelten Lega Nord verbreitet, die ihren
Kampf gegen Ausländer und Süditaliener mit Hinweisen auf die „Reservatsindianer“ als warnendes Beispiel verknüpft(e).
Das Gleiche gilt auch für Stefan Ulbrich, einem aus dem rechtsextremen Lager stammenden Verleger und Buchautor, der neben einer Vielfalt von spiritueller Indianerliteratur auch Werke der neuen Hexen, der
spirituellen Ökologie, des Neoschamanismus und verwandter Themen
anbietet. Wäre nicht Ulbrichs Biographie vorhanden, würde heute (fast)
nichts mehr auf rechtsextreme Berührungspunkte des Gaia Versands
hindeuten. Ulbrich distanziert sich heute von seiner Vergangenheit bei
der Wiking-Jugend, die er als „Sekte“ darstellte, ist aber zugleich als bekannter Verleger („Arun Verlag“) im rechtsextremen Spektrum tätig.
Seine Bücher, die auch die Palette der kommerziell aufbereiteten „Visionssuche“ abdecken, finden sich heute vielfach in der offenen Jugendarbeit wieder, die teilweise nicht ohne Schwitzhütten und pseudoindianische Rituale auszukommen scheint.
278
Ganz allgemein muss festgehalten werden, dass historisch betrachtet im
rechtsextremen Bereich eine starke Akzeptanz für neuheidnische Spiritualität und religiös-mythisches Bewusstsein besteht, die auch nordamerikanische Indianer, ideologisch instrumentalisiert, integriert. Im Faschismus war ungeachtet des realpolitischen Engagements für technologische Weiterentwicklungen die Erhöhung von wilder, „wölfischer“
„Natur“ über alles künstlich Geschaffene eine zentrale ideologische
Forderung, in die das mythische Bild vom Indianer als edlem, heroischen Wilden gut passte. Indianer mit ihren Landrechtskämpfen dien(t)en als Beispiel für den vom neuheidnischen Autor Henning Eichberg
in die rechtsextreme Diskussion eingeführten und inzwischen dort fest
etablierten Begriff des Ethnopluralismus. Im Wesentlichen besagt dieser Begriff, dass Völker ihr jeweils eigenes Land besitzen und sich dort,
relativ ungestört von „fremden“ Einflüssen, entwickeln sollen. Dabei
wird von etlichen, allerdings nicht allen Autoren der Neuen Rechten
von einem ethnisch homogenen, in letzter Konsequenz reinrassigen
Volk ausgegangen. Demgegenüber verfolgte z. B. die Irokesenkonföderation immer schon die Politik der Völkervermischung.
Im Zusammenhang mit dem Anti-Amerikanismus erscheinen Indianer
als Bündnispartner im neurechten (und auch von anderen politischen
Gruppierungen geführten) Kampf gegen die sich anbahnende Welteinheitszivilisation unter US-amerikanischer Führung, bei dem regionale
Kulte und eine ortsgebundene Spiritualität als Gegenkraft gegen Universalismen - wie es in neuheidnisch-rechtsextremer Perspektive u. a.
das Christentum ist - eingesetzt werden sollen.
Die ökospirituelle Landverbundenheit der Indianer ist nicht nur für viele Ökofreaks, sondern auch für neurechte neuheidnische Gruppierungen ein Vorbild geworden. So meinte u. a. Otto J. Golger, der sieben
Jahre das Institut für Umweltforschung am Forschungszentrum Graz
leitete, in der rechtsextremen Zeitschrift Aula: „Amerika ist aber die
Wiege jahrtausendealter Konzepte für das Zusammenleben von Menschen und das Verhältnis der Menschen zur Natur, zu Tieren und
Pflanzen, zu Bergen und Flüssen. Man könnte es eine ‚indianische
Ideologie‘ nennen.“
Die alte Freundschaft zwischen Indianern und „Germanen“, die
Münchhausen postuliert hatte, scheint bis auf den heutigen Tag lebendig zu sein. Das gilt aber primär für den deutschen Sprachraum.
279
Rechtsextreme Gruppierungen der USA, wie etwa die Aryan Nation,
verachten Indianer mit rassistischer Mentalität, arbeiten gegen deren
Landrechtskämpfe und sind immer wieder an gewalttätigen Übergriffen
gegen indianische Bürgerrechtskämpfer beteiligt. Ihrer Utopie von einem arischen, reinrassigen, weißen Amerika stehen die Ureinwohner im
Weg. Das gilt auch für den ariergläubigen, rechtsextremen Ku Klux
Klan, der Verbindungen zur englischen und deutschen Skinhead-(Musik-)Szene unterhält und der u. a. in Washington State vermehrt um jugendliche Mitglieder an den Schulen wirbt und damit zur Verschärfung
des gesellschaftlichen Rassismus, der sich u. a. auch gegen Indianer
richtet, maßgeblich beiträgt. Die Liebe der „Germanen“ zu ihren naturreligiösen indianischen Brüdern ist, wie es scheint, nach ihrer Niederlassung im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ erloschen.
Indianer: Auch heute können sich Jugendliche für indianische Spiritualität und damit verbundene alternative Lebenswelten begeistern. Eine
regelrechte „weiße Indianerbewegung“ wie in den siebziger Jahren gibt
es zur Zeit nicht.
Die Rezeption neogermanischer Weltbilder durch das rechtsextreme Lager
Seit der Frühromantik können wir das Neuheidentum nachweisen, eine
naturreligiös geprägte Spiritualität, die an (angeblich) alten Mythen und
Kulten anknüpft, um zu einer, wie ihre Anhänger meinen, ganzheitlichen Identität zu gelangen, die die Entfremdung des modernen Menschen aufhebt und die vielzitierte „Wiederverzauberung der Welt“ einleitet. Feindbild ist dabei in den meisten Fällen das Christentum, im
rechtsextremen Kontext mit seiner „internationalistischen“ Ausrichtung. Christentum wird hier als „Wüstenreligion“, d. h. „unfruchtbare
geistige Tradition“ verteufelt.
Seit der Romantik wurden germanische Götter in die geistige Schlacht
getragen: Gegen Industrialisierung und Zivilisation, gegen Aufklärung
und Rationalität. Sie standen für die „Sehnsucht nach dem Ursprung“
(Mircea Eliade), für die Suche nach den Wurzeln der geschichtlichen
280
Entwicklung, oft auch für utopische Alternativen gegenkultureller,
frühsozialistischer oder - am anderen Ende des politischen Spektrums deutschnationaler und nationalsozialistischer Prägung. Im Dritten Reich
wurde der germanische Mythos bzw. seine von den Ideologen des NSStaates vorgegebene Interpretation als heldisches Erbe und arischer
Sonnen- und Körperkult zur Staatsdoktrin erhoben. Weltanschauliche
mythische Elemente, die von der deutschen Jugendbewegung vor dem
Dritten Reich bereits in Umlauf gesetzt worden waren, fanden im Nationalsozialismus ihren rassistisch radikalisierten Ausdruck.
Nach 1945 war der Ausbruch der alten Götter vorerst beendet. Seit der
Mitte der achtziger Jahre findet ihre neue Wiedergeburt statt. Ihr Mantel ist nun vielfach grün, ökologisch.
So formulieren etwa die englischen Odinanhänger, zusammengeschlossen in der Londoner Organisation „Odinshof“: „Unsere Einstellung
zur Erde war gesünder, als wir Heiden waren, die daran glaubten, dass
die Geistwesen überall wohnen, dass Mensch und Tier gleichberechtigt
sind und dass Bäume versöhnt werden müssen, bevor sie gefällt werden. Diese spirituelle Essenz ist noch immer im Land, in den Bäumen,
in der Luft, lediglich durch Beton und Straßen maskiert. Das Land, das
einst als heilig und lebendig verehrt wurde, ist nun verwüstet und verseucht. Heute sind wir grün und ökologisch auf eine Weise, die früher,
als die Erde respektiert und nicht ausgebeutet wurde, nicht nötig war.“
Zu den neuen Heiden werden die Anhänger alteuropäischer Naturreligionen gezählt, die neuen Hexen und jene, die sich im Bereich des
Neoschamanismus, einer europäisch eingefärbten, vielfach mit moderner Esoterik vermengten, oft kapitalistisch vermarkteten, in Österreich
von der oberösterreichischen Wirtschaftskammer anerkannten Spielart
archaischer Ekstasetechniken, tummeln. Zentrum des neuheidnischen
Erdbebens sind England und die USA. Weltweit existieren Tausende
neuheidnische Gruppierungen mit Millionen Anhängern. Genaue Daten existieren nicht. In Deutschland belaufen sich die Schätzungen auf
5000 bis 50.000 Personen. Das Neuheidentum hat, über die engeren,
die alten Götter verehrenden und die alten Mythen studierenden Kreise
hinausgehend, Teile der ökologischen Bewegung erreicht und boomt
gegenwärtig primär in den aus dem Boden schießenden Hexenschulen
und -ausbildungen.
281
Deutschlands Neuheiden - und ihre etwas dünner gesäten österreichischen Kollegen - tummeln sich zu vermutlich 50% in rechtsextremen
und neonazistischen Gefilden. Das Neuheidentum dient in den Kreisen
der Neuen Rechten als verbindende Ideologie, die regionale Mythen
mit einer als heidnisch-heroisch angenommenen gesamteuropäischen
indogermanischen bzw. arischen Identität verbindet. Neuheidnisches
Rebellentum wird hier zu den marschierenden Legionen, die gegen
Christentum, Liberalismus, Demokratie und Sozialismus zu Felde ziehen - alles geistige Traditionen, die laut der Ansicht der neurechten
Vordenker mit „Europas eigener Religion“ unvereinbar sind.
Eine Schlüsselrolle in der am rechten Rand angesiedelten Rezeption
alter Götterfreuden spielt der bereits erwähnte Björn Ulbrich, u. a. mit
seinem Buch „Im Tanz der Elemente“, erschienen im Arun Verlag.
Ulbrich beschreibt darin auf 542 Seiten den „Kult und Ritus der heidnischen Gemeinschaft“, bei dem sich die Theorien germanophiler
nationalsozialistischer Männerbundtheoretiker mit den matriarchalen
Konzepten einer Heide Göttner-Abendroth, der ehemaligen Gurufigur
vieler spirituell-feministisch ausgerichteter Frauen, anscheinend problemlos verbinden.
Eine Schilderung Ulbrichs veranschaulicht die Sehnsüchte, die sich mit
neuheidnischem Kult verbinden: „Wir stoßen unsere Fackeln tief in das Reisig des Feuerstoßes. Stimmen flüstern sich knackend zu und weiten sich prasselnd
aus, die Trommeln raunen um letzte Geheimnisse. Eine heiße, unbändige Gewalt
löst sich wie ein Geburtsschrei von der Erde und schießt in die Weiten des Himmels.
Was sich in Jahrtausenden aufgespeichert hat, wird opfernd hingerissen in das Zentrum der Sonne. Gleißendes Feuer erhellt, durchwärmt, verbrüdert. Wir reichen uns
die Hände - Wintersonnenwende! Heilsamer Lichtritus der Ahnen ...“
Archaisches Naturempfinden, das Eingebettetsein in eine Gemeinschaft und in einen gemeinsamen Kult, scheint in einer neoliberal geprägten Welt zunehmender Atomisierung, Entfremdung und Entsolidarisierung wieder Verwurzelung, Orientierung und Identität zu spenden. Die Sehnsüchte des Zeitgeistes werden deutlich; und mit ihnen die
Defizite der neoliberalen Politik, die sich einseitig auf das profitorientierte Machbare und Materielle im Dienste einer kleinen, reichen Oberschicht stützt und damit immer mehr soziale Wärme, Utopie und Zu282
kunftsoptimismus aus der Gesellschaft entströmen lässt.
Neben der anschwellenden Renaissance des Neuheidentums am rechten Rand des politischen Spektrums finden wir vor allem in England
und den USA linksliberale bis linksradikale Neuheidengruppen und netzwerke sowie das breite Feld jener, die einmal Wotan, Freya und die
Runenmagie anlässlich eines der vielen Angebote auf dem esoterischen
Supermarkt ausprobieren wollen. Runenorakelbücher liegen heute in
fast allen, nicht nur esoterischen Buchhandlungen auf.
Ein wichtiger Treffpunkt der neuen Heiden und ihrer Freunde waren
seit den späten siebziger Jahren die Externsteine zur Zeit der Sommersonnenwende. Hier versammelten sich Anhänger des Wiccakults, der
sich auf eine angebliche archaische Hexentradition beruft, Sonnenanbeter, neue Hexen, Wotangläubige und anarchische Naturfreaks zu einem wild wuchernden, bunten Gelage. Bis zu 2000 Menschen bevölkerten bei gutem Wetter die markanten Steine bei Horn im Teutoburger Wald, campierten in Zelten, entzündeten Feuer, meditierten in
Bäumen, führten in den umliegenden Wäldern Rituale durch und kletterten zur Durchführung von Qi Gong-Übungen auf die Spitze der
Felsen, die als altgermanisches Heiligtum und „Ort der Kraft“ verehrt
wurden und werden. Während die einen in Meditation versanken, um
den Aufgang der morgendlichen Sonne würdevoll zu begrüßen, leerten
andere erstaunliche Mengen von Wein- und Schnapsflaschen oder kifften ihr Marihuana und erlebten so die ersehnten morgendlichen Sonnenstrahlen tatsächlich „von einem anderen Bewusstseinszustand“ aus.
Das Meeting an den Externsteinen, vergleichbar ähnlichen Happenings
bei dem englischen Stonehenge, ist zu einem regelrechten Szenetreffpunkt geworden. Knisternde Spannung kommt in das normalerweise
friedliche Beisammensein, wenn rechtsextreme Verehrer dieses Ortes
aufmarschieren. Für sie ist hier Deutschlands Zentralheiligtum, von
dem aus der neue nationalsozialistische Aufbruch erfolgen soll. Schon
Heinrich Himmler hatte das markante Naturdenkmal unter Naturschutz stellen lassen, um es „besinnlichen“ Übungen zugänglich zu machen. Wenn Wotans rechte Mannen aufmarschierten, konnte es schon
zu kleineren Handgreiflichkeiten kommen, und wenn plötzlich noch
die linken autonomen Gruppen den Platz betraten, dann wurde schon
283
so manches Auto des politischen Gegners schrottreif geprügelt.
Die neuen Heiden weisen nicht nur eine naturreligiöse, sondern auch
eine brisante politische Komponente auf. Im Kampf gegen den christlichen „Wüstengott“ werden Romantizismen leicht zu gewaltbereiten
Ideologien und Umweltschützer legen die Berserkermaske an. Der neu
entdeckte Animismus kann zu einer recht seichten Schwarz-Weiß- und
Freund-Feind-Malerei werden. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass es in
der Neuheidenszene auch betont antifaschistische Gruppen gibt.
Rechte Jugendliche und ihre Kultur
Merkmale rechter Jugendlicher:
Sie verherrlichen die Nazizeit und wollen eine neue nationalsozialistische Diktatur. Feindbilder sind Ausländer, Asylanten, Linke sowie alle
demokratischen Parteien. Das herrschende politische System wird gehasst und oft als vom „Weltjudentum“ gelenkt angesehen. Das zur Zeit
aktuelle Feindbild ist vielfach „der Islam“.
Der Soziologe Peter Rieker auf die Frage, wann ein Jugendlicher als
rechtsextrem gilt: „Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort, da
Rechtsextremismus verschiedene Ausdrucksformen haben kann.“
Und zwar:
Die Zugehörigkeit zu einer rechtsextremen Gruppierung
Die Wahl einer rechtsextremen Partei
Gewalttaten gegen MigrantInnen und Minderheiten; Gewalt
wird dabei legitimiert
Eine rechtsextreme Gesinnung, Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur (starker Mann / Führer / Guru)
Verharmlosung, Verherrlichung des NS, Leugnung der NS-Verbrechen
Befürwortung der Ungleichwertigkeit der Menschen und Kulturen
284
Erklärungsversuche:
Verschiedene Thesen versuchen das Phänomen rechter Jugendlicher zu
erklären: So werden sie u. a. als „Modernisierungsverlierer“, als „Produkte der vaterlosen Gesellschaft“ etc. bezeichnet. Eine befriedigende,
umfassende, hundertprozentige Erklärung für die deutlich erkennbare
Zunahme rechter Jugendlicher gibt es bis jetzt nicht. Auf jeden Fall
spiegeln diese Jugendlichen die in der Erwachsenenwelt verbreiteten
rechtsextremen und ausländerfeindlichen Meinungen.
Wenngleich eine allgemein gültige Erklärung für das Überhandnehmen
rechter Jugendlicher fehlt, sollten die Ausführungen von Gertrud
Hardtmann, Psychoanalytikerin und Professorin für Sozialpädagogik
und -therapie an der TU Berlin und Autorin des wichtigen Buches „16,
männlich, rechtsradikal“ ernst genommen werden. Sie hatte länger mit
rechtsradikalen Jugendlichen im ehemaligen Ostdeutschland gearbeitet
und schildert anschaulich aus ihrer Erfahrung und Praxis. Sie zeichnet
das Bild einer jungen Generation, die keine Zukunftsaussichten mehr
wahrnehmen konnte, die das Gefühl hatte, nicht gebraucht, nicht erwünscht zu sein und die - so die untersuchten Einzelfälle - gar keine
Väter oder Väter hatten, die sich um ihre Kinder nicht kümmerten, oft
nach der Wende ihren Frust im Alkohol ertränkten. Nur Großväter waren als männliche Identifikationsfiguren greifbar – und die waren in
vielen Fällen Verherrlicher des Naziregimes. Die Mütter waren oft
überfordert und sehr nachgiebig. Der Zusammenhang zwischen den
Jugendlichen und der sie umgebenden Erwachsenengesellschaft wird
deutlich.
StreetworkerInnen, wie z. B. Norbert Kasch von der Düsseldorfer
Fachstelle gegen antidemokratische Tendenzen, weisen darauf hin, dass
Gefühle wie Nichtanerkennung, Wut, Zorn, Hilflosigkeit, Minderwertigkeit und Angst (vor Armut) sowie Gewalterfahrungen in der Kindheit ein guter tiefenpsychologischer Boden für rechtsextreme Anwerbung sind.
Strukturen:
Während die meisten rechten Jugendlichen ein Protestverhalten ausdrü285
cken und keine intensive ideologische Schulung haben, sind organisierte
Kerngruppen, in Deutschland u. a. als freie oder autonome Kameradschaften bezeichnet, ideologisch gut geschult. Sie halten Kontakt zur
„frei schwebenden“ rechten Jugendszene und rekrutieren geeignete
Personen für ihre Kader. Propagandamaterial, CDs einschlägiger Bands
(Rechtsrock) und eine eigene Szenenkleidung werden vor allem über
das Internet angeboten. Es gibt ein Netz eigener rechtsextremer Versandshops. Der Rechtsextremismus / Neonazismus ist international gut
vernetzt. In etlichen Regionen des deutschen Sprachraums gibt es No
Go Areas bzw. „Angstzonen“, in denen rechte gewalttätige Jugendliche
die Oberhoheit haben.
Allgemein kann ausgesagt werden, dass der moderne Rechtsextremismus und Neonazismus bürokratiearm, flexibel, netzwerkartig nach dem
Prinzip der kleinen, relativ unabhängigen Gruppen agiert. Die Gruppen
und Organisationen in ihrer inneren Struktur sind autoritär-hierarchisch
konzipiert.
Erscheinungsbilder:
Bekanntestes Erscheinungsbild ist der glatzköpfige rechtsextreme Skin
in Springerstiefeln. Blood and Honor-Skins und Hammerskins sind hier
die bekanntesten Gruppen. Die Gabbers, eine Skin-Abspaltung, haben
rechtsextreme Tendenzen. Aber auch in anderen Jugendkulturen machen sich rechtsextreme und neonazistische Trends bemerkbar: Im
Black Metal das Nationalsozialistische Black Metal, in der Gothic Szene, im Industrial, Hardcore, Neofolk, Techno und Hip Hop.
Längst gibt es langhaarige und freaky aussehende junge Neonazis. Eigene Markenkleidung (z. B. Consdaple) und Codes (z. B. 88 = Heil
Hitler) dienen als szeneninterne Erkennungszeichen und sichern gegenüber der Gesellschaft ein eher unauffälliges Erscheinungsbild. Auch linke Identitätsklassiker wie Palästinenserschals und Che Guevara T-Shirts
werden auf rechten Körpern getragen. Hier dienen sie als Codes antisemitischer Gesinnung.
Zu dem bekannten Erscheinungsbild rechtsextremer Jugendlicher zäh286
len jene (jungen) Studenten, die in schlagenden Burschenschaften, die
auf Grund deutschnationaler Traditionen mit der Demokratie Probleme haben, Mitglieder sind.
Waren lange nur wenige Mädchen in der Szene, so hat sich der Mädchenanteil in letzter Zeit auf ein Drittel erhöht. Das Mädchenbild der
rechtsextremen Szene ist heute differenziert. Neben der Frau am Herd
mit „arischen“ Mutterpflichten gibt es das Ideal „freier“ Frauen bei den
weiblichen Skins (Skingirls, Renees) und anderen jugendkulturell beeinflussten Mädchen, auch die Hexen spuken manchmal in der Szene umher. Trotz des erhöhten Mädchenanteils bleibt die rechtsextreme Szene
eine in höchstem Maße patriarchale. Der germanische Krieger, reinkarniert im deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, ist ein weit verbreitetes Männervorbild.
In den letzten Jahren hat sich eine offensiv rechte Jugend- und Alltagskultur, von Ostdeutschland ausgehend, gebildet. Die Naziszene wurde
immer anschlussfähiger für Jugendliche. Dies gelang vor allem durch
die Öffnung der rechtsextremen Szene gegenüber entpolitisierten Jugendkulturen über Musik und Kleidung. Wegen eines zunehmend normalisierten rechten Lifestyles gelingt es Neonazis immer mehr, Einfluss
auf den Lebensalltag von Jugendlichen zu nehmen. Damit wird zumindest ansatzweise ein neonazistisches Weltbild in verschiedenen Jugendkulturen initiiert. Anknüpfungspunkte sind fast immer latent vorhandene rassistische Einstellungen. Es kann von einer rechten Hegemonie in
etlichen Jugendkulturen gesprochen werden. Eigene Codes, Symbole,
Verhaltensweisen und Rituale werden erfolgreich rechtsextrem besetzt.
Ist ein Neonaziangebot durch Musik und Kleidung attraktiv und mit einem Outsider- und Outlaw-Image versehen, das durch erlebnisorientierte Angebote (z. B. Demos) intensiviert wird, entsteht ein attraktives
und zugleich explosives Identitätsangebot, dem sich Jugendliche oft nur
schwer entziehen können.
Identitätsangebot:
Die rechte Szene bietet Motivation, Identität, Gemeinschaft und Frustund Aggressionsabbau durch verbale oder physische Gewalttätigkeiten.
287
Wichtig ist die ideologisch vermittelte Legitimation für gewalttätiges
Handeln. Dabei spielt der religiöse, esoterische, okkulte und mythische
Bereich eine große, oft unterschätzte Rolle: Germanische Mythologie in
der Interpretation, die im Dritten Reich Staatsdoktrin war, Runenmagie
und Runenyoga, ein arisch verzerrtes Neuheidentum, Symbole und
Sinnbilder, antisemitische Weltverschwörungstheorien, selbst die neuen
Hexen werden arisch vereinnahmt. Über das Neuheidentum wird versucht, andere naturreligiöse Erscheinungen wie z. B. die in der offenen
Jugendarbeit diskutierte Visionssuche zu vereinnahmen (Arun Verlag!).
Interessant ist die große Bedeutung germanischer Mythologie (wie im
Dritten Reich, Zeitschrift „Germanien“) und der Edda für die Identität
der Jugendlichen. Sie dient als religiöse Untermauerung ihrer oftmals
paranoiden Weltsicht. Die Autorin Hardtmann führt aus, „wie begeistert die inzwischen fast erwachsenen sechzehn- oder achtzehnjährigen
Jungen erzählen, dass sie am liebsten ‚wie die Wikinger’ – ihre Lieblingslektüre – auf dem Schlachtfeld sterben und nach Walhalla eingehen wollten. Dort winkten ihnen Ehre und Ruhm sowie Frauen zur
Belohnung. Die Ähnlichkeit dieser phantastischen Klischees mit den
Vorstellungen islamistischer Selbstmordattentäter war verblüffend.“
„Odin statt Jesus“ ist ein beliebter Aufkleber der rechtsextremen Szene.
Inzwischen ist wieder die gesamte ariosophische und germanentümelnde Literatur erhältlich, die es in der rechtsextremen Szene vor dem
Dritten Reich und die es im Dritten Reich gab.
Die Marke Thor Steinar wurde z. B. zu einem Hit in der rechten Jugendszene und weist mit ihrer Runensymbolik auf das neogermanische
Neuheidentum rechter Prägung hin. Ein verwendetes Motiv ist ein Adler, der in seinen Klauen einen Fisch hat. Das bedeutet: Der heidnische
Adler packt den „artfremden“ christlichen Fisch. Die Darstellung des
Adlers entstammt nazistischen Quellen und wird auch von der neonazistischen deutschen Artgemeinschaft vertrieben. Deren verstorbener
Vorsitzender Jürgen Rieger war einer der bekanntesten deutschen Naziaktivisten.
Organisierte, gewaltbereite rechtsextreme Jugendgruppen weisen Merkmale einer Politsekte auf. Ihre undifferenzierte Gut-Böse-, Schwarz288
Weiß-Malerei legitimiert Gewalt gegen anders Denkende und gegen
Menschen aus anderen Kulturen. (Parallele: Der religiös-fundamentalistisch gerechtfertigte Terrorismus) Sie leben in einer geschlossenen,
ideologisch verfestigten Sinnwelt, die sich gegen Selbstreflexion und
Kritik abschottet. Nach innen gibt es eine Harmoniebesessenheit bei
gleichzeitiger Abpanzerung gegen Schwäche.
Die Indoktrinierung erfolgt durch die Vermittlung folgender Inhalte:
Verachtung des herrschenden demokratischen Systems
Rechtfertigung von verbaler und körperlicher Gewalt
Suggestion des Endsiegs im politischen Kampf
Bedeutend ist, dass der Rechtsextremismus Jugendliche bei ihren
Emotionen abholt. Die wirkungsvollste Strategie der Anwerbung ist
nicht vordergründig auf der politischen Ebene angesiedelt. Schon
Ernst Bloch meinte seinerzeit: „Nazis sprechen betrügend, aber zu
Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen.“
Halten wir fest, dass die Attraktivität des (Neo-) Faschismus und
Rechtsextremismus in der Kraft der von ihnen geweckten Emotionen,
in den von ihnen verbreiteten Bildern, Symbolen und Mythen steckt.
Es ist interessant, dass die Merkmale, mit denen totalitäre politische Bewegungen charakterisiert werden können – man spricht
manchmal auch von politischen Religionen – , auch für totalitäre
religiöse und okkulte Gruppen zutreffen. Wenn es um antidemokratische Einstellungen geht, treffen sich Neonazismus und Satanismus, Faschismus und extremer religiöser Fundamentalismus. Der Nationalsozialismus hatte und hat eindeutige Merkmale einer politischen Religion.
Nach Hans-Gerd Jaschke weisen totalitäre politische und religiöse
Gruppen folgende Merkmale auf:
Alleinvertretungsanspruch
Hermetisch abgeschlossene Weltanschauung, die nicht kritisiert
werden darf
Antiaufklärerische, absolutistische Legitimationsbasis
289
Feindbild-Rhetorik
Verschwörungstheorien
Eigene Begriffssysteme
Passives oder aktives Gewaltpotential
Gegen Idee der Demokratie gerichtet
Autoritäts- / Führer- / Gurugläubigkeit
(Black)Metal und Rechtsextremismus
Gerade das Absetzen von der ersten, eher kommerziell ausgerichteten
Black Metal-Generation ließ den Begriff des Real Underground entstehen. Zu satanistischen Symbolen gesell(t)en sich immer öfter neonazistische, was auch zu Auseinandersetzungen innerhalb der Szene(n)
führte. Bei Konzerten in Europa und in den USA agitier(t)en Neonazis,
über das Internet werden bis heute Black Metal-Fans mit neonazistischer Ideologie beworben und zur politischen Solidarität mit der jugendlichen Neonaziszene aufgerufen. Black Metal und neonazistische
Ideologie und Agitation gingen und gehen immer mehr Hand in Hand.
Die Anhänger dieser Musikrichtung soll(t)en sich laut ideologischer
Propaganda vom Mainstream der Gesellschaft absondern und Stämme
bilden, so dass die Völker unvermischt bleiben und nicht vermarktet
werden können. Stammesutopien der linksliberalen Alternativbewegung
der siebziger und achtziger Jahre tauchen seit einigen Jahren am rechten
Rand wieder auf. Das multikulturelle Credo wich dabei einer völkischen
Ideologie, die wieder auf die sogenannte „Rassenreinheit“ abzielt.
Abgesehen von verschiedenen Bands, die tatsächlich der neurechten
Bewegung zugeordnet werden können, gibt es aber auch eine nicht unbedeutende Anzahl von Bands, denen der Vorwurf des NS-Gedankengutes zu Unrecht gemacht wurde. Dies widerfuhr zum Beispiel der
Band KISS, deren zwei „S“ im Logo die Sigrune zum Vorbild hätten.
Dies ist allerdings nicht der Fall, denn sie leiten sich von dem US-Warnschild für elektrische Hochspannung her. Gene Simmons (Bassist von
KISS) bekräftigt die Tatsache nichts mit Naziideologie zu tun zu haben
später mit dem Hinweis auf seine eigene jüdische Herkunft und seinen
290
Migrationshintergrund. Dasselbe Symbol findet man als Schrägstrich
des Bandlogos der Formation AC/DC.
Als Quellen des Neonazismus werden in Gedankengut und Texten der
einzelnen Bands zahlreiche Größen der Szene herangezogen, so Adolf
Hitler, Benito Mussolini oder - von großer Bedeutung! - der italienische (Neo)Faschist Julius Evola. Aber auch heute noch lebende und aktive Neonazis oder Rechtsextremisten werden gerne und oft zitiert, so
Michael Moynihan, Jan van Helsing oder Varg Vikernes.
Vikernes sagte im Interview mit dem Black Metal-Magazin Infernus:
„Ich unterstütze alle Diktaturen, Hitler, Stalin, Ceauşescu … Und ich will selbst
Diktator von Skandinavien werden. Make war, not love! […] Ich bin stolz, ein
norwegischer Wikinger und arischer Mensch zu sein. Heil Hitler! Black Metal for
White People!“
Der Begriff National Socialist Black Metal (NSBM) bezeichnet die neonazistische Strömung innerhalb des Black Metal. Es handelt sich hierbei
nicht um eine gänzlich neue Erscheinung. Neonazistische und antisemitische Gruppierungen waren schon immer in dieser Subkultur vorhanden und griffen zu Provokationszwecken darauf zurück.
Varg Vikernes gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter. Einschlägige
Magazine gab es in den USA bereits in den neunziger Jahren, das Medium Internet verhalf in Folge zu einer raschen globalen Verbreitung.
Die Website www.nsbm.org gab sich exklusiv und rebellisch. Eine Zeit,
so war auf der mit Hakenkreuzen versehenen Start-Seite zu lesen, in
der die Erde vergiftet, alte Rassen und Kulturen vernichtet und in der
viele Menschen zu Sklaven der Konsumgesellschaft geworden sind, verlangt nach extremen Musikstilen und Ideologien. Ferner bekannten sich
die Verfasser der Seite dazu, dass NSBM eine hasserfüllte Musik ist, die
die Zuhörer kleiner werden lässt und sie mit uralten mystischen Glaubensrichtungen durchdringt.
„Black Metal ist die Musik unseres Widerstands und Protests gegen ein System,
das unsere heidnische Identität, die Identität der weißen Völker, beschränkt und
zerstört“, erklärte Rob Darken von der polnischen Band Graveland.
Darken dementierte ironischerweise – bezugnehmend auf einen im
Szene-Magazin Rock Hard erschienenen Artikel – dass Graveland dem
NSBM zuzuordnen ist.
291
Der Nationalsozialismus wird laut nsbm.org als logische Konsequenz
aus der Weltanschauung des Black Metal angesehen. Nach Jahren der
Wut und des Widerstands habe sich Black Metal nunmehr gegen den
Materialismus gewandt und damit seine Erfüllung im NSBM gefunden.
Es gehe gegen Konformität und alte Denkstrukturen. Ausgehend von
den okkulten Botschaften der Gruppe Black Sabbath sei es zu einer
spirituellen Ablösung von der jüdisch-christlichen Religion und dem damit verbundenen sozialen Empfinden gekommen. Der Satanismus im
Black Metal habe schließlich zu einer Neubesinnung auf alte heidnische
Religionen und Kulte geführt, zu einer spirituellen Veränderung des
Bewusstseins. Eine der daraus abgeleiteten Forderungen: Eine eigenständige indoarische Kultur mit den gleichen Rechten, die von den Liberalen und Vertretern der political correctness auch für Farbige und
Indianer gefordert werden. Teile aus Hitlers „Mein Kampf“ und seine
Korrespondenz mit Goebbels, sowie Nietzsche und – das ist keine
humoristische Einlage! – „Das Kapital“ von Karl Marx werden als
wichtige ideologische Schriften für NSBM angegeben.
Darüber hinaus wurden Savitri Devi und Helena Petrovna Blavatsky als
Quellen des NSBM angegeben. „Das Recht des Stärkeren ist Gesetz!“
lautete eine der Stellungnahmen; oder: „In 500 Jahren werden wir sehen, wer Affe ist und wer Mensch. Totalen Tod den Schwachen!“
Durch die Ausrottung der Schwachen und Förderung der Starken werde im Sinne der Evolution eine schönere Welt geschaffen. Menschen
mit angeblich niederem Bewusstsein werden von jüdisch-christlichen
und kapitalistischen Politikern manipuliert, um heidnische, nordische,
gnostische oder arische Glaubenssysteme zu zerstören. „Wenn du Black
Metal kennst, weißt du, dass Christen und Juden von uns nicht willkommen geheißen werden ... Ihr müsst sterben!!“ Damit sind weiter
auch Farbige, „Zigeuner“ und Slawen gemeint. Ziel ist die Wiederherstellung angeblich weißer Heimatländer. Judentum und Christentum
werden auch mit Rache, Sado-Masochismus, Fetischismus, Grausamkeit
etc. gleichgesetzt. Das so genannte Judeo-Christentum ist der Feind Nr.
1, da es die alte einheimische Kultur zerstört habe. So muss laut NSBM
darauf geachtet werden, dass sich die Rassen nicht vermischen. Jede
Kultur soll für sich alleine stehen, das hat oberste Priorität.
Auf der NSBM-Website wurden folgende Bands als NSBM Bands auf292
gelistet: Absurd, Burzum, Gontyna Kry, Graveland, Infernum, Infester,
I Shalt Become, Kataxu, Legion of Doom, Lord Wind, Ohtar, Thor´s
Hammer, Thunderbolt, Veles, Winter Funeral.
Weiterhin werden folgende Bands als NSBM-beeinflusst bezeichnet:
Angelcorpse, Bathory, Beherit, Blasphemy, Darkthrone, Impaled Nazarene, Marduk, Mayhem, Zyklon-B, und die folgenden als nationalsozialistisch geprägt: Motörhead, Repulsion, Slayer.
Diese Auflistung, darauf sei noch einmal ausdrücklich hingewiesen, erfolgte von www.nsbm.org und darf daher keineswegs als repräsentativ
angesehen werden!!
Auf der NSBM-Website fanden sich auch Links zu nationalsozialistischen oder dem Gedankengut nahe stehenden Organisationen, z. B. zur
National Alliance, zur Libertarian National Socialist Green Party oder zum
Earth First! (EF!) Journal. EF! ist ein internationales Netzwerk von radikalen Umweltgruppen. Weiter wurden das Hitler Historical Museum,
diverse Bands, im Speziellen Burzum, und die Befreiung von Hendrik
Möbus propagiert.
Der NSBM ist auch in den USA eng mit der rechtsextremen Neuheidenszene verbunden. So mit der Pagan Front, die als Koalition von Music Labels, Bands, Organisationen und rechtsextremen Einzelkämpfern
weltweit verbreitet ist, ihren Sitz aber in den USA hat. Einzelne Gruppen, wie die Pagan Front, versuchen sich im Internet als interessant für
jugendlichen Entdeckermut darzustellen.
Bands, die über Pagan Front promotet wurden:
Absurd, Dark Thule, Graveland, Pantheon, Der Stürmer, Sunwheel,
Temnozor und Wodulf.
Labels, die über Pagan Front promotet wurden:
Old Legend Productions, Dark Hidden, Deathabyss Productions,
Werewolf Promotions, Lower Silesian Stronghold.
Weiters ist die Heathen Front (Allgermanische Heidnische Front - AHF
bzw. Deutsche heidnische Front - DHF) von Bedeutung. Diese internationale Vereinigung, in der Vikernes eine große Rolle spielt und in
293
der u. a. sein antisemitisches Buch „Vargsmål“ vertrieben wird, wurde
in den USA von James Mason geleitet. Dieser war als Jugendlicher Mitglied der American Nazi Party (ANP) und Chef der National Socialist
Liberation Front (NSLF). Laut nsbm.org war er der Führer des Universal
Order, einer okkulten Formation, die auf den Zusammenbruch des Systems wartet und Charles Manson, den Anstifter zu dem satanistischen
Mord an der Schauspielerin Sharon Tate und heutigen Neonazisprücheklopfer, als zweiten Hitler verehrt. Mason hat auch ein Buch über
den Manson geschrieben, das unter dem Titel Siege im Storm-Verlag von
Michael Moynihan veröffentlicht wurde, und steht mit ihm in regem
Kontakt.
Gegen die rechtsextremen Trends im Metal-Bereich gibt es auch szeneninternen Widerstand.
Gothics und Rechtsextremismus
Auch wenn die meisten Goths eher unpolitisch bis diffus linksliberal
orientiert sind und es auch deutlichen Widerstand gegen rechtsextreme
Strömungen in der Szene gibt, spielen viele Goths in ihren Symbolen
und ihren Texten mit rechter Symbolik, meist allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. Da die Themen Tod, Zerfall, Treue, Liebe etc. eine
große Rolle in der Szene spielen, passt sich dies gut dem faschistischen
Stil (u. a. Todessehnsucht) an.
Ein Beispiel: Die Band Death In June wurde ursprünglich als Punkprojekt gegründet und rutschte im Lauf der Zeit immer weiter nach
rechts ab. Der Bandname ist der Verehrung des 1934 ermordeten SAFührers Ernst Röhm gewidmet, der in faschistischen Kreisen immer als
Linker und aufgrund seiner Homosexualität im Nationalsozialismus
Verfolgter gehandelt wird. Der Frontmann der Band, Douglas Pearce,
gibt sich, wie angeblich Ernst Röhm, homosexuell und führt dies immer dann als Gegenbeispiel an, wenn der Band der Vorwurf des Faschismus gemacht wird. Heute produziert die Band Neofolk und hat
sich der musikalischen Reinheit verschrieben. Ihre Mitglieder favori294
sieren die Ästhetik des Faschismus und treten daher des öfteren auch
gerne in SS-Uniformen auf. Auf ihrer Website findet sich der SSTotenkopf und eine Peitschenfaust, beides eindeutig faschistische Symbole. Dazu trägt eine ihrer Platten den Namen Rose Clouds of Holocaust, eine andere Brown Book, und sie haben das Horst Wessel-Lied
auf einer ihrer CDs aufgenommen, das als 2. Hymne des Nationalsozialismus gilt.
Die Band reiste auch an die Front des Kroatienkrieges und spielte dort
für die serbischen neofaschistischen HOS-Milizen.
Ein weiteres Beispiel: Der Musiker Josef Maria Klumb (alias „Jay Kay“)
machte mit rechtsextremen Sprüchen von sich reden. Klump gilt als die
treibende Kraft der Bands Forthcoming Fire, Weissglut und Von
Thronstahl. Forthcoming Fire wurde 1990 von ihm gegründet, nachdem Klumb in diversen Punkbands gespielt hatte. Danach schloss er
sich der Band Weissglut an, bis er diese im Jahre 1998 wegen seiner
rechtsextremen Gesinnung verlassen musste. Heute ist Klumb der
Kopf der Formation Von Thronstahl und ist bei der Herausgabe zweier CDs zu Ehren von L. Riefenstahl und des Nazi-Bildhauers J. Thorak
beteiligt gewesen. Die Band Von Thronstahl inszenierte bei ihrem Auftritt beim Wave-Gotik-Treffen 2000 in Leipzig eine Reichsarbeitsdienstperformance, allerdings ohne ihren Sänger Klumb, dem war zuvor der
Auftritt gerichtlich untersagt worden. Für den rechtsextremen Esoteriker Jan van Helsing, mit dem er angeblich befreundet ist, macht er Werbung in seiner Musik und singt gegen die angebliche Weltverschwörung
der Illuminaten tapfer an.
So kooperiert er auch mit dem rechtsextremen und kriegsverherrlichenden Verlag und Vertriebsdienst Verlag und Agentur Werner Symanek
(VAWS). Symanek verlegt vor allem vorschwörungstheoretische Literatur. Zudem vertreibt er Fahnen mit der Schwarzen Sonne, die Himmlers Wewelsburg zierte und heute als wichtiges esoterisch-neonazistisches Symbol und Erkennungszeichen gilt. Klumb war weiterhin mit
der Szenezeitschrift Sigill/Zinnober und der NPD verbunden.
Drittes Beispiel: Die Gruppe Blood Axis, begründet 1989 durch den
Autor des vielzitierten Werkes „Lords of Chaos“ Michael Moynihan,
spielt in ihrem Namen auf die Achsenmächte Deutschland – Italien an.
295
Sie bedient sich des Symbols des Krückenkreuzes, das auch beim
KuKluxKlan Verwendung findet. Moynihan ist bekennender Heide und
gehört der Asatru Alliance an. Er propagiert den Bruch mit dem angeblich schwachen Christentum. Wichtige Personen, auf die er sich beruft,
sind: Jörg Lanz von Liebenfels, Ludwig Fahrenkrog, dem der Song
Electricity gewidmet ist, oder Karl Maria Wiligut (Weisthor).
Viertes Beispiel: Die Band Sol Invictus wurde 1987 von einem ehemaligen Death In June Mitglied, Tony Wakeford, gegründet. Die Metapher der „unbesiegten Sonne“ ist Julius Evolas Buch „Revolte gegen
die moderne Welt“ entnommen worden. Weiterhin bediente sich Sol
Invictus auch für ihre Lieder einiger Texte des italienischen Faschisten.
So heißt das erste Album Against the Modern World und erinnert wiederum an besagtes Buch von Evola. Die Band propagiert das Neue
Heidentum, u. a. den altrömischen Mithraskult und die Rückkehr zu
den echten Wurzeln der europäischen Kulturen und Völker. Gemeinsam mit Blood Axis, Boyd Rice und Death In June haben Sol Invictus
1989 in Osaka/Japan eine Performance unter dem Titel Total War aufgeführt.
Made in Vienna: Der Wiener Musiker Kadmon ist Aktivist bei rechtsextremen Vereinigungen und gibt die in einigen Wiener Buchhandlungen aufliegenden kleinen Zeitschriften Ahnstern und Aorta heraus. Von
einer Wiener Postfachadresse aus versendet er überdies Materialien, die
einen Bezug zu rechtsextremer Esoterik haben. Zudem veröffentlichte
er auf seinen CDs Texte von Jörg Lanz von Liebensfels, einem Begründer
der Ariosophie, und von Karl Maria Wiligut, der als „Rasputin Himmlers“ traurige Berühmtheit erlangte. Er ist ein politischer Unterstützer
des Mörders Vikernes, der wegen seiner „Wikingerethik“ im Gefängnis
sitze. Als Emblem verwendet Kadmon u. a. die „schwarze Sonne“, das
okkulte Symbol der SS, die in der Wewelsburg Himmlers angebracht
war.
296
Verwendete Literatur
(Auswahl)
AKE Bildungswerk (Hg): Reader zum Collegium Humanum, Vlotho 1994
Antifa-Magazin (Linz), laufende Nummern bis 2010
Aulaausgaben 1992-93, 2010-12
Broschüren diverser antifaschistischer Gruppen / Initiativen und diverser deutscher Landeszentralen für politische Bildung
Christian Dornbusch, Hans Peter Killguss: Unheilige Allianzen. Black Metal zwischen Satanismus, Heidentum und Neonazismus, Hamburg, Münster 2005
Christian Dornbusch, Jan Raabe (Hg): RechtsRock. Bestandaufnahme und Gegenstrategien,
Münster 2002
Rainer Fromm: Schwarze Geister, Neue Nazis. Jugendliche im Visier totalitärer Bewegungen,
München 2008
Otto J. Golger: Gott strafe uns für Columbus, in Aula 9/92
Eduard Gugenberger, Roman Schweidlenka: Mutter Erde, Magie und Politik. Zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft, Neuauflage Osnabrück 2005
Eduard Gugenberger, Roman Schweidlenka: Die Fäden der Nornen. Zur Macht der Mythen in
politischen Bewegungen, Wien 1993
Eduard Gugenberger, Roman Schweidlenka: Die braune Aura der Esoterik. Esoterik und
Rechtsextremsimus, Graz 2011, www.logo.at
Gertrud Hardtmann: 16, männlich, rechtsradikal, Düsseldorf 2007
Wilhelm Heitmeyer: Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, Weinheim / München (3) 1989
Hans-Gerd Jaschke: Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006
Norbert Kasch: Rechtsextreme Strategien zur Rekrutierung Jugendlicher, in: Perplex, Nr. 95 / 08
Alex Mikusch, Roman Schweidlenka: Rechte Symbole, Codes, Slogans, Kleidung, Graz 2010,
www.logo.at
Alex Mikusch, Roman Schweidlenka: Wer fürchtet sich vorm weißen Mann? Rechtsrock und
Rechtsextreme Szene – eine Bestandaufnahme aus österr. Sicht, Graz 2011, www.logo.at
Österreichische und deutsche Verfassungsschutzberichte
Wolfgang Purtscheller (Hg): Die Ordnung, die sie meinen. „Neue Rechte“ in Österreich, Wien
1994
Peter Rieker: Rechtsradikalismus links liegen lassen? In zum Beispiel 1 / 07
Rundbrief des OÖ. Netzwerks gegen Rassismus und Rechtsextremismus, laufende Ausgaben
seit 2000
Roman Schweidlenka, Veronika Strausz: Die schwarze Szene. Populäre Jugendkulturen und ihr
Verhältnis zu Spiritualität, Satanismus und Rechtsextremismus, 2. vollständig überarbeitete und
ergänzte Auflage, Graz 2011, zu finden bei www.logo.at
Darin zahlreiche weiterführende Literaturangaben, die zum Teil auch in vorliegendem Text Verwendung fanden.
Heribert Schiedel: Der rechte Rand. Extremistische Gesinnungen in unserer Gesellschaft, Wien
2007
Heribert Schiedel: Extreme Rechte in Europa, Wien 2011
Versandkataloge des Gaia Versands, 1995-96
Versandkataloge des Arun Verlags, 2000 - 2012
Igor Warneck, Vicky Gabriel: Interview mit Stefan Björn Falko Ulbrich, in Hag und Hexe 2/96
297
298
NEUERE TITEL IM VERLAG DER ARW
Udo Schuster (Hrsg.), Gemeinsam gegen Abhängigkeit und Extremismus. 40 Jahre Elterninitiative. Rückblick und Ausblick 1975-2015
(München 2015). VI und 182 S., EUR 9,90
Die Dokumentation anlässlich der Fachtagung „40 Jahre Elterninitiative“
der Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen
Extremismus e.V. enthält u. a. folgende Beiträge: Udo Schuster: Hilfe zur
Selbsthilfe - Die Geschichte der Elterninitiative / Manfred Ach: Gemeinsam gegen Abhängigkeit und Extremismus - Ein Rückblick auf die Gründung und Entwicklung der Elterninitiative / Alfred Sauter: 40 Jahre
Elterninitiative gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus
/ Wolfgang Behnk: Fundamentalismus - eine Ideologisierung des Glaubens. Entstehung, Phänomen, Kritik / Markus Sackmann; Theo Abenstein: Bildung gegen Extremismus / Manfred Ach: Chancen und Gefahren
der Esoterik - Überlegungen vom christlichen Standpunkt aus / Willi
Röder: Vierzig Jahre Elterninitiative - Rückblick und Ausblick //
Udo Schuster (Hrsg.), Gemeinsam gegen Abhängigkeit und Extremismus. Standortbestimmung und Perspektiven (München 2016).
VI und 119 S., EUR 9,90
Die Dokumentation der gemeinsamen Jahresfachtagung 2015 der Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V. (EI) und der Bayerischen Arbeitsgemeinschaft Demokratischer
Kreise e.V. (ADK) enthält folgende Beiträge: Matthias Pöhlmann: Aktuelle
Herausforderungen für die Apologetik. Standortbestimmung und Perspektiven / Robert Pleyer: „Der Satan schläft nie“ - Denkweisen und Lebenspraktiken in totalitären Bewegungen / Sabine Riede: Kinder in totalitären
Bewegungen / Claudia Barth: Psychologische Aspekte esoterischer Religiosität / Bernd Harder: Verschwörungsglaube 2.0 / Jacqueline Klaus: Mein
Vater ein Opfer der „Germanischen Neuen Medizin“ - Ein Erlebnisbericht / Esther Fieber: Meine Jugend bei den Zeugen Jehovas - eine Aussteigerin berichtet / Manfred Ach: Reizwort Religion: Wahn und Sinn /
Theo Abenstein: Nachruf auf Markus Sackmann / Wolfgang Behnk: Festpredigt zum Jubiläumsgottesdienst //
299
Manfred Ach, Wie Hitler wurde, was er war. Der aktuelle Befund
(München 2016), 728 S., EUR 18,90
„Was? Wie bitte? Wieso noch ein Hitler-Buch? Über Hitler weiß man doch
alles“, meinen überhebliche Besserwisser. Nein, „man“ weiß über ihn immer noch zu wenig. Pauschalisierungen spielen einer Erkenntnisverweigerung in die Hände. Man will Hitler nur als Marionette sehen. Man hat ihn
schon damals unterschätzt und diese (seine!) Rechnung geht auch heute
noch auf.
„Jetzt verstehe ich Hitler!“ So äußerten sich viele Leser nach der Lektüre
des Buches „WIE HITLER WURDE, WAS ER WAR“. Vor allem jene,
die bisher den Erklärungen gefolgt waren, die Hitler entweder bagatellisieren oder mit Hilfe von phantasievollen Verschwörungstheorien aufwerten
wollten.
Das „Zeitfenster“, das dieses Buch in Zusammenhang mit Hitlers Leben
untersucht, schließt mit dem November 1923. Man darf davon ausgehen,
dass ab diesem Zeitpunkt eine beinahe lückenlose historische Dokumentation vorliegt, denn die innere Entwicklung von Hitler gilt mit dem Jahr
1923 als abgeschlossen. Auf dem Weg dorthin gab es aber und gibt es
noch vieles zu entdecken. Untersucht werden deshalb die in diesem Zeitraum wesentlichen Wendepunkte und entscheidenden Schubkräfte. Was ist
Wahrheit, was Legende, was Fehlinterpretation?
Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre erforderten eine Revision von
Hitlers Herkunfts- und Formationsgeschichte, in die sich viele Fehler eingeschlichen hatten, die noch heute in namhaften Biografien kolportiert
werden. Auch sind dort Geschehnisse von größter Tragweite oft nicht als
solche erkannt bzw. kaum wahrgenommen worden.
Dieses Buch versucht, hartnäckigen Legenden und Fehldeutungen keine
Chance zu geben und nimmt, wo es nötig ist, Stellung zu abenteuerlichen
Spekulationen. Es möchte den aktuellen Forschungsstand zu Adolf Hitlers
Entwicklung bis zum Jahr 1923 zusammenfassen, die Interpretationen dieser Formationsjahre kritisch diskutieren und eine Synopse anbieten, die
Lücken schließt und einen neuen Blick auf Hitler ermöglicht. Das Ergebnis ist allerdings alles andere als beruhigend.
Gebührenden Raum nimmt in dieser Untersuchung die Darstellung des
völkisch-religiösen und rassenideologischen Umfelds ein, das Adolf H. für
seine Zwecke je nach Bedarf zu instrumentalisieren wusste. Gerade dieser
Aspekt dürfte Leser von heute sensibilisieren. Das Thema ist keineswegs
„zu den Akten zu legen“.
300