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Zwei Jahrhunderte nordfriesischer Literatur - ein kurzer Rück- und Ausblick

Von Thomas Steensen

Eine einheitliche nordfriesische Sprache gibt es nicht, und daher besteht auch nicht die nordfriesische Literatur.[1] Es existiert eine friesischsprachige Literatur für die Insel Sylt, eine für Helgoland, eine für Föhr und Amrum sowie eine - in verschiedenen Ausprägungen - für das nordfriesische Festland. Das Nordfriesische kann als die am stärksten aufgegliederte unter den germanischen Sprachen bezeichnet werden, und Entsprechendes gilt für die Literatur. Dies hängt mit der durch den Meereseinfluß zerklüfteten landschaftlichen Gestalt zusammen. Die einzelnen Gebiete hatten zeitweise nur wenig Verbindung miteinander. Es gab nie einen nordfriesischen Staat, der für eine Vereinheitlichung hätte sorgen können, und im friesischen Sprachgebiet kein politisches, wirtschaftliches oder kulturelles Zentrum, das auf das Gesamtgebiet ausgestrahlt hätte. Die Zweiteilung in eine insel- und eine festlandsfriesische Dialektgruppe geht bereits auf zwei unterschiedliche Einwanderungswellen im Mittelalter zurück.

Die Identifikation richtete sich auf die nächste Umgebung, die eigene Insel oder Harde.[2] Dies hatte Vor- und Nachteile zugleich. Die Kleinheit des Gebiets förderte eine besonders starke Eigenverantwortlichkeit. Viele fühlten sich, als eine Bedrohung der eigenen Sprache wahrgenommen wurde, für deren Fortbestand geradezu mitverantwortlich. Sie stellten Wörter-, Lese- und Liederbücher zusammen und versuchten es nicht selten auch mit eigenen literarischen Produkten. Wer, wenn nicht ich? mögen sie gedacht haben. Ihre Arbeiten blieben aber, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, auf das eigene kleine Dialektgebiet beschränkt. Selbst das nordfriesische Flaggenlied, Albrecht Johannsens "Gölj, rüüdj, ween" (Gold, Rot, Blau), das gern als nordfriesische "Nationalhymne" bezeichnet wird, ist fast ausschließlich auf dem Festland bekannt. Auf den Inseln werden eigene Eilandshymnen gesungen. Nordfriesland hat auch keine friesischsprachige Dichterpersönlichkeit mit Ausstrahlung auf das Gesamtgebiet hervorgebracht, im Gegensatz etwa zu Westfriesland, das eine viel größere Sprachgemeinschaft umfaßt und derart starke dialektale Unterschiede wie in Nordfriesland nicht kennt. Dort setzte bereits Gysbert Japicx (1603-1666) vor allem  mit seinen gereimten Psalmen einen hohen Maßstab. In seiner Zeit bildet er eine einmalige Besonderheit: ein Dichter von Rang, der sich der Sprache des gemeinen Volkes bediente. Die westfriesische Literatur kann sich durchaus mit der viel größerer Sprachen messen, und immer wieder betonte man die Verbindung mit der Weltliteratur, die oftmals auch ins Friesische übertragen wurde, etwa der gesamte Shakespeare.[3]

Die nordfriesische Literatur setzt - sehen wir von einzelnen Volksmärchen, Sagen und Liedern ab - erst relativ spät ein, in der Zeit der Romantik. Aus den beiden Jahrhunderten davor gibt es nur sehr wenige, vereinzelt stehende kleine literarische Erzeugnisse.[4] Das älteste überlieferte schriftliche Zeugnis der nordfriesischen Sprache stammt aus der Zeit um 1600, als Martin Luthers Kleiner Katechismus in zwei nordfriesische Dialekte übertragen wurde. Mit einer Bibelübersetzung ins Nordfriesische scheint aber nicht begonnen worden zu sein, und Friesisch wurde auch nicht zur Kirchensprache Nordfrieslands. Eine lange Zeit unbekannt gebliebene Einzelleistung vollbrachte der Küster Peter Michael Clemens (1804-1870) aus Morsum, der das Neue Testament und die Psalmen ins Sylterfriesische übersetzte. Erst im 20. Jahrhundert wurden weitere Bemühungen um "Friesisch in der Kirche" unternommen. Im Jahre 2000 wird ein umfassendes nordfriesisches Gesangbuch vorgelegt werden können. Als Kirchensprache etablierte sich in der frühen Neuzeit das Niederdeutsche, das seit der Mitte des 17. Jahrhunderts vom Hochdeutschen abgelöst wurde. Ähnliche sprachliche Verhältnisse herrschten auch in Verwaltung, Gericht und Schule. Friesische Literatur wurde in einer mehrsprachigen Gesellschaft verfaßt, in der der Bereich der Schriftlichkeit dem Hochdeutschen zugeordnet war. Da in den Schulen die friesische Sprache nur selten berücksichtigt wurde,[5] blieben die meisten Nordfriesen Analphabeten in ihrer eigenen Sprache, was natürlich die literarische Produktion nachhaltig erschwerte. Alle privaten Aufzeichnungen - Briefe, Glückwunschkarten, Todesanzeigen, Tagebücher - wurden so gut wie immer auf hochdeutsch abgefaßt. Daß man friesisch schrieb, war die große Ausnahme; aber wer es gelernt hatte oder es auf eigene Faust wagte, der verfaßte vergleichsweise häufig Gedichte, Erzählungen oder Theaterstücke.

Das Beispiel der sylterfriesischen Übersetzung des Neuen Testaments durch Peter Michael Clemens zeigt auch ein besonderes Problem nordfriesischer Sprachpflege und nordfriesischer Literatur: eine mangelhafte Überlieferung und Kontinuität. Die Arbeit wurde nämlich nicht veröffentlicht und erst in den 1950er Jahren wieder entdeckt. Auch viele literarische Texte sind nicht gedruckt worden, und die befruchtende Wirkung, die davon auf andere hätte ausgehen können, blieb somit häufig aus.

Jap Peter Hansen Als erstes gedrucktes Buch in nordfriesischer Sprache überhaupt kam im Jahre 1809 in Flensburg die Komödie Der Geitzhals auf der Insel Silt heraus.[6] Der Seemann und spätere Küster Jap Peter Hansen (1767-1855) hatte sie als ganz junger Mann auf seinen Seereisen verfaßt und dafür als Autodidakt eine eigene Orthographie entwickelt, deren Grundzüge zum Teil bis in die Gegenwart hineinwirken. Sein Lustspiel um den wohlhabenden, aber geizigen Bauern Pir'rer Madtsen in Keitum zeigt durchaus eine Verbindung mit der Weltliteratur, ist sie doch beeinflußt von Werken Molières und Holbergs. Die Insel Sylt lag zwar fern aller kulturellen Zentren, stand aber über die weitgespannte Handelsseefahrt in Verbindung mit der Welt. Die Komödie bezeichnet zugleich den eigentlichen Beginn und einen Höhepunkt nordfriesischer Literatur - und sie strahlte als eines von wenigen Werken auch in andere Teile Nordfrieslands aus, indem sie in andere Dialekte übertragen wurde. "Jap Köster" verfaßte auch den ersten "Roman" in nordfriesischer Sprache, die 1833 erschienene, knapp 50 Druckseiten umfassende Erzählung Di lekkelk Stjüürman. Umfangreichere Erzählungen sind später kaum einmal geschrieben worden, man beschränkte sich zumeist auf Kurzprosa. Einen wirklichen Roman gibt es in nordfriesischer Sprache bisher nicht. Jap Peter Hansen wollte mit seinen Arbeiten auch den Wert seiner friesischen Muttersprache vor Augen führen. Ähnliche Absichten verfolgte der erste festlandsnordfriesische Dichter Bende Bendsen (1787-1875), der Defizite im Wortreichtum allein auf die lange Vernachlässigung zurückführte; Bendsen verfaßte mehrere friesische Gedichte und erarbeitete eine umfassende Sprachlehre des Mooringer Friesisch.

In den 1840er Jahren gab es Pläne für eine nordfriesische Zeitschrift und ein Wörterbuch aller nordfriesischen Dialekte. Beides hätte ganz gewiß die friesische Literatur nachhaltig fördern können. Denn es gab bis dahin weder ein Medium für friesischsprachige Erzeugnisse noch ein Lexikon und damit auch keine einheitliche Orthographie. Dieser erste Ansatz einer eigenständigen friesischen Bewegung in Nordfriesland scheiterte aber, weil sich der um dieselbe Zeit aufbrechende nationale Gegensatz zwischen Deutsch und Dänisch als übermächtig erwies.[7] Immer wieder hat dieser fortan alle Bemühungen um die friesische Sprache und Kultur überschattet und überlagert.

Dennoch können aus dem 19. Jahrhundert einige weitere beachtliche Leistungen benannt werden. Christian Peter Hansen (1803-1879), Sohn von Jap Peter Hansen, sammelte und bearbeitete Sylter Sagen und Volksmärchen und verfaßte auch friesische Gedichte; vor allem aber veröffentlichte er Bücher in deutscher Sprache, erforschte wie keiner vor ihm seine Heimatinsel und wurde als "Chronist von Sylt" weithin bekannt. Den Grundstein für eine Literatur in der Sprache der Inseln Föhr und Amrum legte der von Amrum gebürtige Lehrer Christian Johansen (1820-1871) mit mehreren Prosastücken; er veröffentlichte auch eine Wörtersammlung mit Sprachlehre. Auf Föhr sind noch heute die Dichtungen des Seemanns Simon Reinhard Bohn (1834-1879) aus Alkersum beliebt. Im Druck herausgegeben wurden sie von dem Dozenten und späteren Germanistik-Professor in Halle, Otto Bremer (1862-1936), ebenso wie die humorvollen Erzählungen des aus Nieblum gebürtigen Gärtners und Gastwirts Arfst Jens Arfsten (1812-1899). Ein Seemann war es auch, der als erster Gedichte auf Helgoländer Friesisch schrieb: der Schiffskapitän Hans Frank Heikens (1780-1862). Für das nordfriesische Festland sind aus dem 19. Jahrhundert zu nennen neben Bende Bendsen der jung verstorbene Johannes Hansen (1854-1877) aus Fehsholm bei Bredstedt mit Gedichten in seiner Mittelgoesharder Mundart und der Küster und Lehrer Moritz Momme Nissen (1822-1902) aus dem Kirchspiel Enge mit zahlreichen Dichtungen in Karrharder Friesisch; Nissen schuf in jahrzehntelanger Arbeit das bis dahin umfangreichste und bedeutendste Werk zur nordfriesischen Sprachpflege überhaupt, u.a. das bis heute umfassendste gesamtnordfriesische Wörterbuch, das leider ungedruckt blieb.

Mit der "Heimatbewegung" um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert setzte auch eine Blütezeit der nordfriesischen Literatur ein[8]. Sie konzentrierte sich zunächst wieder auf die Insel Sylt, wo aufgrund des zunehmenden Fremdenverkehrs eine besondere Bedrohung der Sprache wahrgenommen wurde. Der Zimmermann Erich Johannsen (1862-1938) aus Keitum schrieb eine Vielzahl von Theaterstücken, die mit ihren Gesangseinlagen viel Anklang beim Publikum fanden. Vor allem Gedichte verfaßte der Überseekaufmann Andreas Hübbe (1865-1941), der in der Altmark geboren wurde, aber auf Sylt aufwuchs. Von dem Zeitungsverleger Christian Peter Christiansen (1855-1922) stammt u.a. die Sylter Hymne Üüs Söl'ring Lön. Der Hamburger Schulrektor Boy Peter Möller (1843-1922) erarbeitete ein umfangreiches syltringisches Lesebuch, das 1909 im Druck erschien. Als bedeutendster Dichter in nordfriesischer Sprache gilt der Keitumer Bauer Jens E. Mungard[9] (1885-1940). In einem Gedicht vergleicht er sich mit einer Stranddistel:

            Ströntistel es min bloom,

            Ströntistel neem's uk mi.

            Jü gröört üp dünemsön,

            Ik üp des leewents-strön,

            En proter haa wat biid!

            Stranddistel ist meine Blume,

            Stranddistel nennen sie auch mich.

            Sie wächst auf Dünensand,

            Ich auf diesem Lebens-Strand,

            Und Stacheln haben wir beide!

Seine Freiheitsliebe und seine Unangepaßtheit mußte Jens Mungard im Konzentrationslager Sachsenhausen mit dem Leben bezahlen. Seine weit über 700 Gedichte liegen inzwischen gedruckt vor,[10] er schuf außerdem sechs Theaterstücke und viele Prosatexte. Gedichte und Erzählungen in großer Zahl veröffentlichte der Lehrer Hermann Schmidt (1901-1979) aus Braderup/Wenningstedt, der unermüdlich auch als Sprachpfleger, u.a. als Herausgeber der jahrzehntelang erschienenen Zeitungsbeilage Fuar Söl'ring Lir, tätig war. Ansprechende Gedichte stammen aus der Feder des Hamburger Postbeamten Wilhelm Siemens (1897-1984).

Den Höhepunkt der Föhring-Amringer Literatur stellt wohl das Wirken des aus Oevenum/Föhr stammenden, in Husum tätigen Studienrats Lorenz Conrad Peters[11] (1885-1949) dar. Insbesondere seine 1923 gedruckte, mit zahlreichen Gesangseinlagen angereicherte Komödie Oome Peetje ütj Amerika, die in der Inflationszeit spielt und die überseeischen Verbindungen der Insel aufnimmt, ist noch heute bekannt und beliebt auf Föhr, ebenso viele seiner Lieder. In den 1920er Jahren und wieder nach 1945 gehörte L.C. Peters zu den treibenden Kräften in der friesischen Bewegung. Er konnte Lieder von mitreißendem Schwung dichten, aber auch leise Töne anschlagen:

            Somerinj! Mä min leew foomen

            Waanre 'k suutjis aawer 't fial.

            Raw an freel üüb wai an ekern,

            Raw an freel uun arke sial.

            An nü fonkelt blä an siljen

            Nai det smokst faan ale biljen:
            Huuch üüb aawerskaant wi stun.

            Götelk somerinj bi strun!

            Sommerabend! Mit meinem lieben Mädchen

            Wand're ich langsam übers Feld.

            Ruhe und Frieden auf Weg und Äckern,

            Ruhe und Frieden in jeder Seele.

            Und nun funkelt blau und seiden

            Nah' dem schönsten aller Bilder:

            Hoch auf der Uferkante stehen wir.

            Göttlicher Sommerabend am Strand!

Nach dem Zweiten Weltkrieg war vor allem Reinhard Arfsten (1897-1971), Schulleiter in Oldsum, literarisch und auch sprachpflegerisch tätig. Gedichte auf Amrumer Friesisch verfaßte Arthur Kruse (1893-1968), vor allem Komödien Thea Andresen (geb. 1916).

Auf Helgoländer Friesisch[12] wurden auch und gerade in der Zeit, als die Helgoländer ihre durch Bomben verwüstete Insel verlassen mußten, Gedichte und Erzählungen veröffentlicht. Das während der Evakuierungszeit erschienene Mitteilungsblatt Helgoland brachte Texte u.a. von Mary Franz (1895-1969), Carmen Streithof geb. Singer (geb. 1923), Max Dähn (1909-1971), James Packross (geb. 1909) und James Krüss (1926-1997), der sich später als deutschsprachiger Kinderbuchautor einen Namen machte. Er schrieb aber auch Gedichte und einige Erzählungen in seiner helgoländischen Muttersprache und gab eine schöne Anthologie mit Gedichten aus den drei Frieslanden heraus, die er ins Deutsche übertrug.[13] Die seit 1964 erscheinende Monatszeitung Der Helgoländer enthält ebenfalls eine friesischsprachige Rubrik, in der u.a. die Texte von Maria Leitgeber geb. Dähn (1906-1979) veröffentlicht wurden; sie schuf das mit Abstand umfangreichste helgoländische Prosawerk. 

Für das nordfriesische Festland ist zu nennen der Küster und Lehrer Nis Albrecht Johannsen (1855-1935) aus Klockries, der in seinen Erzählungen und Gedichten dem "alten Nordfriesland" ein Denkmal setzte. Zahlreiche Bühnenstücke, Krippenspiele und Gedichte verfaßte die Lehrerin Katharina Ingwersen (1879-1968) aus Deezbüll. Der Lehrer und spätere Schulrat Nis Albrecht Johannsen[14] d.J. (1888-1967), der sich auch größte Verdienste um den friesischen Schulunterricht und die Wörterbucharbeit erwarb, schuf vor allem zahlreiche Gedichte,[15] deren Ausdruckskraft mit dem sprachlichen Vermögen Klaus Groths verglichen worden ist.

            Spanroil hungt foon twich tu twich,

            Mäge spaale ou'r e stich,

            Än jü leest rous önj e tün

            Bloosemt önj e saneschin,

            Gölj ouer gölj läit aw e buum -

            Dåt 's di leeste samerdruum.

            Spinngewebe hängt von Zweig zu Zweig,

            Mücken spielen überm Steig,

            Und die letzte Rose im Garten

            Blüht im Sonnenschein,

            Gold über Gold liegt auf dem Baum -

            Das ist der letzte Sommertraum.

Jens Mungard, L.C. Peters und Albrecht Johannsen können als das Dreigestirn der nordfriesischen Literatur im 20. Jahrhundert bezeichnet werden.

Die Themen der nordfriesischen Literatur blieben weitgehend auf den heimatlichen Raum beschränkt. Die Schönheit des Landes wurde besungen, die Charakterfestigkeit der Friesen gepriesen, allzu häufig ein Idyll vergangenen Lebens gemalt. - Doch finden sich in der friesischsprachigen Literatur Nordfrieslands auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kaum Anklänge an völkisches Gedankengut, wie es etwa zur selben Zeit in den Romanen des von der Insel Föhr stammenden Schriftstellers Ferdinand Zacchi (1884-1966) im Schwange war, so in seinen Büchern Freerk Frandsens Blut und Volk an der See, das 1934 in München im Zentralverlag der NSDAP erschien.

Nur selten wurden in der friesischsprachigen Literatur Probleme der Gegenwart aufgegriffen. Eine große Ausnahme bildet Jens Mungard, der als einziger angesichts seiner existentiellen Bedrängnis auch politische Gedichte verfaßte und sich gegen die nationalsozialistische Ideologie stellte. Soziale Mißstände seiner Heimat griff der aus der Wiedingharde stammende, in Hamburg tätige Schulrektor Peter Jensen (1861-1939), Verfasser eines umfangreichen Wiedingharder Wörterbuchs, auf.

In jüngster Zeit wurde durchaus auch Lyrik mit gesellschaftskritischem Anspruch verfaßt, zum Teil beeinflußt vom Gedankengut der 1968 beginnenden Studentenbewegung. Sieben Nordfriesen - Karen H. Ebert (geb. 1945), Volkert Faltings (geb. 1951), James Krüss (1926-1997), Albert Panten (geb. 1945), Erk Petersen (geb. 1946), Jap Ferlaat (= Julius Andreas Petersen, geb. 1931), Jens Quedens (geb. 1945) - veröffentlichten 1976 in dem ambitionierten Band friisk fees moderne Gedichte, um den Beweis zu erbringen, "daß man dem Nordfriesischen nicht länger seine Literaturfähigkeit absprechen kann".[16] Die Anthologie sollte eine neue Reihe Nordfriesland Literarisch begründen, und als zweiter Band wurden "ausführliche literarische Wertungen" angekündigt - leider blieb es bei Band eins.

Eine neue Dimension föhringischer Erzählkunst erreichte die in Oldsum geborene Gymnasiallehrerin Ellin A. Nickelsen (geb. 1956) mit ihrer auf dem Föhr der Gegenwart spielenden Novelle Jonk Bradlep[17] (Dunkle Hochzeit), in der sich Alltägliches und Mythisch-Mystisches vermischen. Als ein Leitmotiv diente ihr das älteste bekannte nordfriesische Lied, die aus dem Mittelalter stammende, im 19. Jahrhundert aufgezeichnete Ballade A Bai, a Reder[18], die von der Hinrichtung einer zu Unrecht des Umgangs mit einem Ritter beschuldigten jungen Frau durch den eigenen Bruder erzählt. In Jonk Bradlep geht es ebenfalls um Schuld, Unschuld, Strafe, Verleumdung und die Furcht davor. Die Autorin erhielt dafür beim ersten nordfriesischen Literaturwettbewerb 1989/90 den ersten Preis. Auch mehrere ihrer Gedichte - mit deutscher Übertragung - wurden inzwischen veröffentlicht.[19] In festlandsfriesischer Sprache verfaßte der Studienrat Ingwer E. Nommensen (geb. 1955) teils humorvoll-satirische, teils hintergründige Theaterstücke, die mit viel Spielfreude von der Gruppe "Rökefloose" auf die Bühne gebracht wurden und werden, außerdem Gedichte und Erzählungen. Für sein Stück Kining Abel, in dem ein Mythos der nordfriesischen Geschichte, nämlich die Ermordung des dänischen Königs Abel, aufgegriffen wird, erhielt er 1997 den ersten Preis im nordfriesischen Theaterwettbewerb. Die Literaturwettbewerbe, ausgeschrieben vom Nordfriisk Instituut und der Fering Stiftung mit Unterstützung durch die Sparkassen Nordfrieslands, erzielten auch quantitativ überraschende Ergebnisse. Am Wettbewerb für Kurzprosa[20] beteiligten sich 47, an demjenigen für Theater[21] 20 Autorinnen und Autoren. Jüngst gab es, allerdings auf die Inseln Föhr und Amrum beschränkt, sogar einen Krimi-Wettbewerb, der immerhin drei preiswürdige Kriminalgeschichten erbrachte.

Die Produktion friesischsprachiger Literatur wurde so gut wie immer auch als Beitrag zur "Pflege" der friesischen Sprache angesehen. Wer trug diese Bemühungen? In einem Seminar an der Universität Flensburg wurden Daten über insgesamt 103 Männer und Frauen ausgewertet, die sich im 19. und 20. Jahrhundert der friesischen Sprache annahmen und vielfach auch selbst literarische Texte verfaßten.[22] Erwartungsgemäß war das "Bildungsbürgertum" mit etwa 50 Prozent weit überdurchschnittlich vertreten, allein 40 Prozent arbeiteten als Lehrkräfte an Schulen. Sie hatten durch ihren Bildungsweg Methoden und Mittel geistigen Arbeitens kennengelernt, waren es gewohnt, mit Büchern umzugehen und Texte zu verfassen. Doch auch zahlreiche Landwirte, Geschäftsleute, Angestellte und Hausfrauen griffen zur Feder. 

Ein Großteil der nordfriesischen Literatur wurde außerhalb Nordfrieslands verfaßt. Heimwehgefühle werden eine Rolle gespielt haben. Weitab der Heimat wandte man sich bewußt der eigenen kleinen Sprache zu, deren Besonderheit aus der Ferne vielleicht genauer erkannt wurde. Das beginnt mit Jap Peter Hansen, dessen Komödie vom Sylter Geizhals während seiner Seefahrten auf den Weltmeeren entstand, und endet vorläufig mit Ellin Nickelsen, die ihre preisgekrönte Föhringer Erzählung in Indien erdachte, was, so ihre eigenen Worte, "natürlich von allen Orten der Welt einer der exotischsten ist, um eine Erzählung auf Fering zu schreiben. Aber wir Friesen waren ja immer schon 'widjloftig', also 'weitläufig', ohne dabei je die Füße wirklich vom zähen Kleiboden lösen zu können."[23]

In zwei Jahrhunderten ist - bedenkt man die Kleinheit der Sprachgemeinschaft, die nicht viel mehr als die Bevölkerung einer Kleinstadt umfaßt - eine Literatur in nordfriesischer Sprache entstanden, die auch aufgrund ihres Umfangs beeindruckt. Rechnet man Kinder-, Lieder- und Lesebücher mit, so umfaßt die friesischsprachige Literatur Nordfrieslands wohl einige hundert Bücher und einige tausend Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen. Diese Literatur in einer der kleinsten Sprachen Europas wurde geschaffen trotz gravierender Probleme, deren schwerwiegendste hier nochmals zusammengefaßt seien:

- die kleine Sprecherzahl,

- das aus der mangelnden Berücksichtigung in der Schule resultierende Unvermögen der meisten Nordfriesen, ihre Muttersprache zu schreiben und zu lesen,

- die dialektale Aufgliederung der Sprache,

- das Fehlen einer über das 19. Jahrhundert zurückreichenden schriftsprachlichen Tradition,

- die mangelhafte Kontinuität in der Überlieferung,

- das ländliche Umfeld ohne städtische Zentren mit kultureller "Szene",

- die relativ späte Festlegung einheitlicher Rechtschreibregeln für die nordfriesischen Hauptdialekte. (Leider gelten teilweise auch heute noch unterschiedliche Prinzipien. Auf Sylt und Helgoland wird abweichend von den anderen Dialekten zumeist die Großschreibung der Substantive praktiziert; im Helgoländer Friesisch wird außerdem der ansonsten angewandte Grundsatz der Nichtverdoppelung von Konsonanten lediglich im Auslaut befolgt.)

Manche dieser Sachverhalte wirk(t)en jedoch, wie gezeigt, nicht selten auch motivierend auf schreibende Nordfriesen.

Nordfriesische Literatur kann aufgrund der schwierigen Ausgangsbedingungen nur in geringen Auflagen erscheinen. Im Unterschied etwa zum Niederdeutschen, dessen sich auch kommerzielle Verlage annehmen, sind friesischsprachige Veröffentlichungen eigentlich immer ein Zusatzgeschäft. Diesem Umstand trägt das Land Schleswig-Holstein, das "Schutz und Förderung" der friesischen Volksgruppe seit 1990 in seiner Landesverfassung festgeschrieben hat, durch speziell dafür vorgesehene Fördermittel Rechnung. Nicht zuletzt dadurch - und auch durch die Spendenfreudigkeit und Initiative einzelner Nordfriesen - können friesischsprachige Veröffentlichungen häufig in einer äußeren Form erscheinen, die einem Vergleich mit Publikationen in den "großen" Sprachen standhält. Gerade für Kinderbücher ist dies bedeutsam; das Ansehen einer Sprache hängt auch mit dem äußeren Erscheinungsbild zusammen.

Für das Fortbestehen der nordfriesischen Sprache im 21. Jahrhundert wird der Literatur eine nicht geringe Rolle zukommen. Viele Alltagssituationen, in denen die Menschen früher selbstverständlich friesisch sprachen, sind heute hochdeutsch dominiert. Daher gewinnen besondere friesische Veranstaltungen - gesellige Abende mit Theateraufführungen und friesischen Liedern,  Lesungen, Wochenendseminare - an Bedeutung.

Neben den bewährten Medien wird auch zur Vermittlung friesischer Literatur den audiovisuellen Medien, CD-ROM, Internet usw. Aufmerksamkeit zu schenken sein. Bis heute wurden nur einige wenige friesische Gedichte und Kurzgeschichten im Radio gesendet, das der friesischen Sprache bislang nur beschämend geringen Raum gab, außerdem erschienen einige Literatur-Tonkassetten. Im Internet kann man zu einigen friesischen Websites surfen. Insgesamt steht die nordfriesische Sprache auf diesem Gebiet noch am Anfang.

Friesische Buchveröffentlichungen werden aber auf absehbare Zeit die wichtigste Grundlage friesischer Literaturvermittlung bleiben, und das von Island stammende Wort wird hoffentlich auch für Nordfriesland seine Gültigkeit behalten: Ein Mensch ohne Buch ist blind. En mensk saner buk as blinj.[24] Die nordfriesische Sprache ohne Buch wird nicht überleben können.

(Aufsatz veröffentlicht in: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften, Universität Flensburg, Nr. 8, S. 121-127)



[1] Vgl. den Überblick von Ommo Wilts in: Thomas Steensen (Hrsg.), Das große Nordfriesland-Buch, Hamburg 2000, S. 242-247 und die dort auf S. 543 genannte Literatur; zur nordfriesischen Sprache allgemein vgl. z.B. Thomas Steensen und Christina Tadsen, Friesisch und die Mehrsprachigkeit im Sprachenland Nordfriesland. In: Ebd., S. 234-241. Zu den Inselmundarten vgl. die Überblicke von Nils Århammar, Die Amringer Sprache. Die Amringer Literatur. In: Amrum - Geschichte und Gestalt einer Insel, 2. Aufl., Itzehoe-Münsterdorf 1969, S. 146-152; Die Syltringer Sprache. Die Syltringer Literatur. In: Sylt - Geschichte und Gestalt einer Insel, Itzehoe-Voßkate 1969, S. 189-229 (auch als Sonderdruck, 2. Aufl., Münsterdorf 1975); Die Sprachen der Insel Föhr, Münsterdorf 1975. - Nils Århammar sei auch für hilfreiche Hinweise gedankt.

[2] Vgl. Hans Chr. Nickelsen, Das Sprachbewußtsein der Nordfriesen in der Zeit vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, Bredstedt 1982; Thomas Steensen, Änkelte "rüüdje trädje" önj e histoori foon e nordfrasch bewääging. In: Nordfriesisches Jahrbuch 31 (1995), S. 53-64, hier S. 58.

[3] Vgl. den knappen Überblick von Jelle Krol, Die friesische Literatur. In: Kindlers Neues Literatur-Lexikon. Hrsg. von Walter Jens, Bd. 20, München (1988 Nachdruck) 1996, S. 178-183.

[4] Vgl. z.B. Ferdinand Holthausen, Die nordfriesische Literatur. In: Lorenz Conrad Peters (Hrsg.), Nordfriesland. Heimatbuch für die Kreise Husum und Südtondern, Husum 1929, S. 397-416.

[5] Vgl. Thomas Steensen, Friesischer Schulunterricht im Meinungsstreit - Sylt 1909/10. In: A Frisian and Germanic Miscellany. Published in Honour of Nils Århammar, Odense/Bredstedt 1996, S. 223-239.

[6] Vgl. Dietrich Hofmann, "Der Sylter Petritag". In: Nordfriesisches Jahrbuch 1 (1965), S. 94-108. Es ist sehr erfreulich, daß Horst Joachim Frank in seinem großen Werk "Literatur in Schleswig-Holstein" auch der friesischsprachigen Literatur Raum gibt; Jap Peter Hansens Komödie behandelt er ausführlich in Band 2, Neumünster 1998, S. 775-787.

[7] Vgl. Johannes Jensen, Nordfriesland in den geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts (1797-1864), Neumünster 1961, Nachdruck: Bräist/Bredstedt 1993, bes. S. 25 ff. und 97 ff.

[8] Vgl. Thomas Steensen, Die friesische Bewegung in Nordfriesland im 19. und 20. Jahrhundert (1879-1945), Neumünster 1986, S. 59 ff.

[9] Vgl. Ommo Wilts, Jens E. Mungard. Zu seinem 100. Geburtstag am 9. Februar. In: Nordfriesland 74 (Okt. 1985), S. 39-43; Thomas Steensen, Jens Mungard. In: Nordfriesland 63/64 (Nov. 1982), S. 102-104.

[10] Jens Emil Mungard, Ströntistel en dünemruusen. Das lyrische Werk. Hrsg. von Hans Hoeg, Norddorf/Amrum 1995; Jens E. Mungard, Fuar di min hart heer slain. Ütsaacht en auraarbert fan Hans Hoeg, Bräist/Bredstedt 1985.

[11] Vgl. Lorenz Conrad Peters (11.1.1885-30.7.1949). Sin kameede "Oome Peetje ütj Ameerika" an en ütjwool faan sin bekäändst liitjin an staken üüb riimen nei ütjden an komentiaret faan Volkert F. Faltings, Insel Amrum 1986; Jakob Tholund, Eilunsfresken - Inselfriesen, Bräist/Bredstedt 1995, S. 67-78.

[12] Vgl. Nils Århammar, "Damit die 'Halunder Spreek' nicht verstummt..." - Spracharbeit auf Helgoland und das Helgoländer Wörterbuch. In: Nordfriesland 75 (April 1986), S. 71-75.

[13] James Krüss (Hrsg.), Friesische Gedichte, Wilhelmshaven 1973.

[14] Vgl. Thomas Steensen, Der Friese Albrecht Johannsen. In: Nordfriesland 81 (März 1988), S. 10-14; Alastair Walker, Albrecht Johannsen as spräkemoon. In: Nordfriesland 82 (Juni 1988), S. 23-26; J.H. Brouwer, Albrecht Johannsen, de dichter. In: Nordfriesisches Jahrbuch 4/5 (1968/69), S. 21-30.

[15] Viele davon abgedruckt in: Albrecht Johannsen, Beerid. Frasche dächte, Naibel 1956; Neuausgabe: Bräist/Bredstedt 1991.

[16] Volkert F. Faltings an Gerhard Röper, friisk fees - en antologii, Otterndorf 1976, S. 3.

[17] Ellin A. Nickelsen, Jonk Bradlep, Bräist/Bredstedt 1991 (auch als Tonkassette erschienen).

[18] Vgl. Dietrich Hofmann, Was ist "Bai" in der altföhringer Ballade? In: Nordfriesisches Jahrbuch 20 (1984), S. 175-186.

[19] Ellin A. Nickelsen, Faan Stian an Weeder. Von Stein und Wasser. Dachtingen - Gedichte 1983-1994, Bräist/Bredstedt 1995.

[20] Vgl. Skriiw fresk. Schriw frasch. Skriiv friisk. Teksten tu a fresk literatüürweedstridj 1989/90. Ütjden faan Nils Århammar, Christina Tadsen an Ommo Wilts, Bräist/Bredstedt 1993; Ritva Århammar, Anke Joldrichsen: "Bliiw 'am bi, fresk tu skriiwen!" In: Nordfriesland 93 (März 1991), S. 23-25.

[21] Vgl. Christina Tadsen, Kameediweedstrid. In: Nordfriesland 117 (März 1997), S. 6.

[22] Vgl. Enke Christiansen, Erk Roeloffs und Thomas Steensen, Zum Sozialprofil nordfriesischer Sprachpflegerinnen und Sprachpfleger. In: Nordfriesisches Jahrbuch 34 (1998), S. 157-164.

[23] Ellin A. Nickelsen, "Jonk Bradlep" - Schreiben auf Friesisch: auf Friesisch schreiben? In: Nordfriesisches Jahrbuch 28 (1992), S. 185-194, hier S. 185.

[24] Jakob Tholund, Hög toochter am't skriiwen üüb fresk. In: Skriiw fresk. Schriw frasch. Skriiv friisk, Bräist/Bredstedt 1993, S. 5.