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Tauende Arktis Nordost- und Nordwestpassage erstmals gleichzeitig eisfrei

Kein Eis, nirgends. Zum ersten Mal sind sowohl die Nordost- als auch die Nordwestpassage gleichzeitig für Schiffe befahrbar. Das Meereis in der Arktis könnte dieses Jahr so stark wie nie zusammenschmelzen, neue kurze Schifffahrtsrouten werden befahrbar.
Russisches Schiff vor Spitzbergen (Archivbild): "Zu viel Wärme im Wasser"

Russisches Schiff vor Spitzbergen (Archivbild): "Zu viel Wärme im Wasser"

Foto: AFP / Governor of Svalbard / Scanpix Norway

In Bremen ist man ungeduldig. Eigentlich, so sagt Verena Beckhusen von der Reederei Beluga, habe man bereits in diesem Sommer ein Schiff durch die Nordostpassage, oder – nach russischer Sprechweise - den Nördlichen Seeweg schicken wollen. Diese Schifffahrtsroute führt von der Insel Nowaja Semlja im Nordwesten Russlands an der nordsibirischen Küste entlang bis in die Beringstraße zwischen dem Fernen Osten Russlands und Alaska.

Schiffe, die auf diesem Weg reisen, nehmen eine Abkürzung, die es in sich hat: Auf der Strecke von Hamburg bis ins japanische Yokohama ist die Route über den hohen Norden mit 7400 Seemeilen um fast 40 Prozent kürzer als die 11.500 Seemeilen lange Reisestrecke durch den Suezkanal, die normalerweise genutzt wird. Das besondere daran: Seit einigen Tagen ist die Passage eisfrei. Das bestätigt Christian Melsheimer von der Universität Bremen, wo tagesaktuelle Seeeiskarten auf Basis von Daten des Nasa-Satelliten "Aqua" hergestellt werden .

Umso mehr sind die Mitarbeiter bei Beluga frustriert, dass die russischen Behörden die notwendigen Genehmigungen für die Fahrt durch die Passage nicht rechtzeitig ausgestellt haben - und man deswegen in diesem Jahr noch nicht auf die Abkürzung durch die Arktis setzen kann. Doch die Perspektive ist klar: Die Nutzung des Nördlichen Seeweges sei eine strategische Marschrichtung des Unternehmens, sagt Verena Beckhusen.

Die Schifffahrtsindustrie steht durch die immer stärker tauende Arktis vor einem gravierenden Wandel. Derzeit gibt es statistisch gesehen rund 20 bis 30 Tage pro Jahr, an denen die Seeeisbedeckung auf dem Nördlichen Seeweg bei 50 Prozent oder darunter liegt. Nach dem Arctic Climate Impact Assessment aus dem Jahr 2005 wächst dieser Zeitraum bis zur Jahrhundertwende auf rund 120 Tage an. In der Realität dürften diese Zahlen mit Sicherheit sogar noch deutlich höher liegen.

Das sich immer stärker zurückziehende Eis macht bisher kaum zugängliche Routen praktisch nutzbar. Im Blick haben die Transportkonzerne neben der Nordostpassage noch eine weitere Strecke, nämlich ihr Pendant an der Oberseite des nordamerikanischen Kontinents, die Nordwestpassage.

Und auch die ist seit ein paar Tagen eisfrei, wie Mark Serreze vom National Snow and Ice Data Center der USA in Boulder im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE bestätigt: "Seit ein paar Tagen ist der Weg offen, den Amundsen im Jahr 1903 genommen hat."

Kommerzielle Schiffe würden diese Route allerdings kaum nehmen: Zu flach sind die Kanäle, zu kompliziert die Navigation in dem verwinkelten Wasserweg. Doch auch die einfacher zu befahrende Parry Channel, eine Ausweichroute durch das von Kanada beanspruchte Inselarchipel, sei inzwischen so gut wie eisfrei - das zweite Jahr in Folge.

Nur in einem kleinen Bereich in der McClure-Straße, ganz am westlichen Ende der Passage, gebe es noch ein wenig Eis, sagt Serreze. In ein paar Tagen werde auch dieser Bereich frei sein. Der Eisbrecher "Polarstern" des Alfred-Wegener-Instituts hat die Passage kürzlich bereits von Ost nach West durchfahren, auf einer 68-tägigen Reise rund um den Nordpol, die im weiteren Verlauf auch durch die Nordostpassage führen soll .

Es sind historische Zeiten: "Es ist das erste Mal, zumindest soweit ich weiß, dass beide Passagen zur selben Zeit befahrbar sind", sagt Eisforscher Serreze.

Seine größte Ausdehnung hat der arktische Eispanzer normalerweise im März, erklärt Christian Haas von der University of Alberta. Danach wird die weiße Pracht vor allem an den Rändern angenagt - und schmilzt in fast linearem Tempo ab. Die Sommer 2005 und 2007 waren besonders verheerend für das arktische Meereis. Doch auch dieses Jahr brachte kaum Erholung. Zwischenzeitlich hatte sich die Welt sogar auf einen eisfreien Nordpol vorbereitet.

"Ein eisfreier arktischer Ozean im Sommer ist unvermeidlich"

Das wird nach Stand der Dinge wohl doch nicht passieren. Es ist aber noch immer möglich, dass der aktuelle Sommer einen neuen traurigen Rekord aufstellen wird: mit der geringsten Eismenge seit dem Start der Messungen. Mindestens drei Wochen lang geht die Schmelze in der Arktis noch weiter, bis dann die Sonne langsam an Kraft verliert, weil sie in einem immer flacheren Winkel auf das Eis scheint.

Die Forscher haben festgestellt, dass sich die aktuelle Ausdehnung des Eises stark derjenigen des vergangenen Sommers annähert, als der aktuelle Negativrekord aufgestellt wurde. "Vielleicht überholt 2008 in den letzten Tagen tatsächlich noch 2007", sagt Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Prognosen, so sagen die Forscher, sind derzeit kaum mehr sinnvoll. Das Rennen werde auf den letzten Metern entschieden.

Ob sich das arktische Eis jemals wieder von seiner Schwindsucht erholt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Auf der einen Seite gibt es Menschen wie Christian Haas, die sich nicht in Fatalismus flüchten wollen. "Offenbar gibt es eine Erholungschance", sagt Haas. Der vergangene Winter sei kälter gewesen als gewöhnlich. Dadurch habe ein Teil des jungen Eises stark genug anwachsen können, um den Sommer zu überleben. Das Eis werde aber gewiss nicht so stark zunehmen, dass es wieder den 30-jährigen Mittelwert erreicht. "Dafür ist zu viel Wärme im Wasser und in der Atmosphäre."

Andere, wie Mark Serreze, sind noch deutlich pessimistischer: "Ein eisfreier arktischer Ozean im Sommer ist unvermeidlich." Jegliche Erholung des Eises werde nur von kurzer Dauer sein, "vielleicht für ein paar Jahre, bestenfalls." Bis zum Jahr 2030, so glaube er, werde die Arktis zumindest im Sommer gänzlich ohne weiße Decke sein.